Profilbild von evaczyk

evaczyk

Lesejury Star
offline

evaczyk ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit evaczyk über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 29.09.2020

Abgründe und Geheimnisse

Ihr Königreich
0

Missbrauch, Schuldgefühle, dunkle Familiengeheimnisse - Mit "Ihr Königreich" hat Jo Nesbo einen psychologischen Thriller mit überraschenden Wendungen über ein Brüderpaar in einem entlegenen norwegischen ...

Missbrauch, Schuldgefühle, dunkle Familiengeheimnisse - Mit "Ihr Königreich" hat Jo Nesbo einen psychologischen Thriller mit überraschenden Wendungen über ein Brüderpaar in einem entlegenen norwegischen Bergdorf geschrieben, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Roy ist Automechaniker, betreibt die Dorftankstelle. Er ist derjenige, der geblieben ist, seit seiner Jugend berüchtigt als Schläger, ein Mann ohne Freunde, ein Einzelgänger.

Ganz anders Carl, der ein Jahr jüngere, der nach vielen Jahren zurückkommt mit einer kanadisch-karibischen Ehefrau und dem wegen einer geplanten Umgehungsstraße vor dem Aus stehenden Dorf neues Leben verspricht: Ein Berghotel soll her, für das Carl die Unterstützung der ganzen Gemeinde braucht. Carl war stets der Womanizer, der golden boy mit den vielen Freunden, im Gegensatz zum Bruder in der Schule erfolgreich, verkörpert gewissermaßen das Aufstiegsversprechen - dabei war die Jugend der beiden alles andere als einfach, starben ihre Eltern doch bei einem Autounfall, als die Söhne 16 und 17 waren. Im Cadillac des auf alles Amerikanische verrückten Vaters stürzten sie in den Abgrund an der steilen Straße zum einsamen Berghof.

Doch war es wirklich ein Unfall? Und warum verschwand damals der Dorfpolizist, der den Vorfall untersuchte? Nun ist es sein Sohn, ebenfalls Polizist, der Roy Fragen stellt nach den damaligen Vorgängen. Der tödliche Abgrund, er spielt in diesem Thriller gleich mehrfach eine Rolle. Abgründig und tief ist auch die Handlung. Immer wieder schafft es Nesbo, scheinbar sicher Geglaubtes zu erschüttern und mit der Enthüllung eines Details der Handlung eine ganz neue Wendung zu geben. Dabei geht es nicht nur um die Dynamik zwischen Roy und Harry und ihren Geheimnissen, sondern auch um die des Dorfes.

Die isolierte Dorfgemeinschaft, Machtspiele und Intrigen, Erpressung und Druck, Verrat und Schuld - es gibt kein schwarz-weiß in diesem düsteren Königreich. Hier hat so ziemlich jeder eine eigene Wahrheit, viele haben Dreck am Stecken, doch welche Wahrheit tatsächlich stimmt, das erfährt der Leser erst in einer dramatischen Zuspitzung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.09.2020

Aufträge aus dem Jenseits

Das Gewissen der Toten
0

Dreht Carter McLean langsam durch? Vorgesetzte und Kollegen sind besorgt, ob der Polizist auch nach 18 Monaten Krankschreibung und Büroarbeit wieder in der Lage zum aktiven Dienst ist. An seiner physischen ...

Dreht Carter McLean langsam durch? Vorgesetzte und Kollegen sind besorgt, ob der Polizist auch nach 18 Monaten Krankschreibung und Büroarbeit wieder in der Lage zum aktiven Dienst ist. An seiner physischen Leistungsfähigkeit besteht kein Zweifel - bei einem Marathon hat er gerade deutlich jüngere Kollegen hinter sich gelassen. Doch Carter ist schwer traumatisiert als einziger Überlebender eines Flugzeugabsturzes, bei dem seine vier besten Freunde ums Leben kamen - ausgerechnet auf dem Weg zu einem Junggesellenabend.

Carter hat Schuldgefühle - seine Kumpel wären mit einer traditionellen Pubtour und gemeinsamen Besäufnis zufrieden gewesen, doch er, der finanziell Unabhängige in der Gruppe hatte das Flugzeug nach Amsterdam gechartert. Und er sieht und riecht seine schwer verbrannten Freunde bei allen möglichen Gelegenheiten. Erst wenn er eines ihrer unerfüllt gebliebenen Herzensanliegen verwirklicht, scheinen die (Un-)Toten Ruhe zu finden in dem Kriminalroman "Das Gewissen der Toten" von Joy Ellis.

Kein Wunder also, dass Carters Vorgesetzte, die Polizeipsychologin und eine befreundete Kollegin in Sorge um den Ermittler sind - und wer will schon in einer Gefahrensituation im Polizeialltag auf einen Kollegen bauen, der Stimmen aus dem Jenseits hört? Die Situation ist um so kritischer, da einer der aktuellen Fälle die Frau eines der Toten betrifft. Sie verschwand offenbar drei Tage vor dem Flugzeugabsturz. Im Wohnhaus des Paares wurde viel Blut gefunden, doch ob die Frau gewaltsam entführt wurde oder tot ist, das bleibt lange fraglich in diesem Whodunnit mit paranormalen Elementen.

Dabei geht es gar nicht so sehr darum, ob tatsächlich Tote zu Carter sprechen, sondern auch um die Frage, was unter den Freunden womöglich ungesagt blieb, wie es wirklich um die Ehe der verschwundenen Frau aussah und ob Carter unter dem seelischen Druck zusammenbricht. Joy Ellis teilt links und rechts Spuren und Hinweise aus - doch welche sind Finten und welche dienen am Ende der Wahrheitsfindung? Der Leser begleitet die Ermittler auf einem Zickzackkurs voller Andeutungen, Verdächtigungen und toter Enden - eigentlich klassisch-britisch, mit teils exzentrischen Ermittlern. Und auch wenn am Ende die Lösung schlüssig scheint, gibt es noch einen dramatischen Überraschungseffekt. In diesem Krimi gibt es sowohl Spannung als auch interessante psychologische Elemente.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.09.2020

Spurensuche auf dem Oregon Trail

Volkswagen Blues
0

Sie sind ein ungleiches Paar, der introvertierte frankokanadische Schriftsteller mit dem angelsächsichen Pseudonym und die lesewütige junge Mechanikerin Pitsemine, wegen ihrer langen dünnen Beine auch ...

Sie sind ein ungleiches Paar, der introvertierte frankokanadische Schriftsteller mit dem angelsächsichen Pseudonym und die lesewütige junge Mechanikerin Pitsemine, wegen ihrer langen dünnen Beine auch die "Große Heuschrecke" genannt. Jacques Poulin, ebenfalls Frankokanadier, lässt sie in seinem Roman "Volkswagen Blues" per Zufall auf einem Campingplatz auf der Halbinsel Gaspé zusammenkommen - der Schriftsteller übernachtet in seinem umgebauten VW-Bus, die junge Frau ist per Anhalter unterwegs. Aus einer angepeilten kurzen Strecke wird eine lange gemeinsame Reise, aus Fremdheit wird Vertrauen und Freundschaft in diesem langsam erzählten Buch, in dem es immer wieder auch um Bücher und Worte, um Entdeckungen und die Spuren nordamerikanischer Entdecker und Pioniere geht.

Der Schriftsteller sucht seinen Bruder Théo, zu dem er seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Eine alte Postkarte mit einer merkwürdigen alten Schrift ist der einzige Hinweis, dem er folgt - und die junge Frau kann das Puzzlestück einordnen - es handelt sich um einen Text von Jacques Cartier, dem Entdecker, der Kanada einst für den König von Frankreich beanspruchte.

Es ist ein wenig ironisch, dass der Hinweis auf die kolonialen Entdecker in Nordamerika ausgerechnet von Pitsemine kommt, die Halbindianerin ist und daher besonders sensibel auf das Thema Eroberung und Besiedlung des Kontinents - auf Kosten der einheimischen Bevölkerung reagiert, zugleich aber ihren eigenen Platz in der Gesellschaft nicht wirklich einordnen kann. Als dritter im Bundes ergänzt ein kleiner Kater die Reisegruppe im VW-Bus.

Die Geschichte der Entdecker und Voyageure, der frankokanadischen Pelzjäger, die häufig mit Indianervölkern lebten und indianische Frauen hatten, zieht sich wie ein roter Faden durch "Volkswagen Blues". Denn auch Théo scheint diesen Spuren gefolgt sein, oder zumindest ihren Routen - über die Grenze in die USA, in die Prärieregionen, schließlich auf den Oregon Trail an die Westküste, die für viele Siedler zum gelobten Land wurde, das sie nie erreichten. Die tragische Geschichte der "first nations", die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und die Kriege der Eroberer gegen die indianischen Völker, setzt immer wieder dunkle Akzente.

Der Schriftsteller und Pitsemine folgen diesen Spuren nicht nur auf der Straße, sondern auch mit Büchern und Karten. Für den Schriftsteller mit Schreibblockade und die lesewütige Mechanikerin (die sich als ein Segen für den alten und nur begrenzt für den langen Road Trip geeigneten VW-Bus erweist) sind Bücher die Orte, die sie verbinden, zwei Einzelgänger, die eigentlich am liebsten allein sind und nun doch zusammen reisen.

"Volkswagen Blues" ist ein ruhig erzähltes Buch vom Unterwegssein, in dem auch für die Protagonisten der Weg letztlich das Ziel ist. Denn auch wenn die Reise endet, wenn die Suche nach Théo ihren Abschluss findet, wird Pitsemine auf der Straße weiterreisen. Und auf den Schriftsteller, der gesagt hat, Schreiben sei für ihn eine Entdeckungsreise, wartet eine Reise anderer Art. Schöne Sprachbilder und Beschreibungen lassen beim Lesen Bilder von Weite und dem schier endlosen Band der Straße aufkommen.

Volkswagen-Blues ist ein Reiseroman voll melancholischer Poesie, der den Leser mitnimmt auf eine Entdeckungsreise durch Raum und Zeit.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.09.2020

15 Jahre nach dem "Report der Magd"

Die Zeuginnen
0

Es war überhaupt keine Schöne Neue Welt, die Margaret Atwood in ihrem Roman "Der Report der Magd" zeichnete: Ein christlich-fundamentalistischer Gottesstaat in den früheren USA, in der Frauen von Bildungsmöglichkeiten ...

Es war überhaupt keine Schöne Neue Welt, die Margaret Atwood in ihrem Roman "Der Report der Magd" zeichnete: Ein christlich-fundamentalistischer Gottesstaat in den früheren USA, in der Frauen von Bildungsmöglichkeiten abgeschnitten sind, den Männern untergeordnet und Kinder zu gebären eine Art nationale Aufgabe ist. Vor gut 30 Jahren galt das Buch als eines der populärsten Werke feministischer Literatur. Nach mehreren Jahrzehnten und einer Fernsehserie hat Atwood nun einen Folgeband veröffentlicht, der prompt en renommierten Booker Prize erhielt.

Eine schöne neue Welt ist der Staat Gilead immer noch nicht. Kanada ist zum Fluchtort für diejenigen geworden, die sich nicht in das Frauenschicksal der bigotten Machthaber fügen wollen. Die Handlung der "Zeuginnen" setzt 15 Jahre nach dem "Report der Magd" ein, und spielt sowohl in Kanada als in Gilead. Am Anfang müssen sich Leser erst einmal einen Überblick verschaffen, wer der ingesamt drei Ich-Erzählerinnen gerade das Sagen hat - Tante Lydia, die Frau, die im Zentrum der Macht heimlich ihre Rechtfertigung niederschreibt, wohl wissend, das eine Entdeckung des Textes ihr Ende bedeuten kann. Oder der 16-Jährige Teenager Daisy, die in Kanada aufwächst und endlich einmal - gegen den Willen ihrer Eltern - an einer Demonstration gegen den Unrechtsstaat in der Nachbarschaft teilnehmen will und unwissentlich eine Lawine von Ereignissen in Gang setzr.

Dann ist da noch Agnes, die privilegiert in der Familie eines Kommandanten aufwächst und nach dem Tod der Frau, die sie für ihre geliebte Mutter gehalten hat, erfährt, dass sie das Kind einer Magd ist die aus Gilead geflohen ist. Mit 13 Jahren soll sie mit einem Kommandanten verheiratet werden und flieht geradezu in die Ausbildung zur Tante, auch wenn sie das System in Gilead kaum in Frage stellt - sie kennt es ja nicht anders.

"Die Zeuginnen" ist auch eine Geschichte von Mut und Widerstand, von Menschen, die sich nicht in Unabänderliches fügen wollen und in solche, die alles riskieren um als Fluchthelfer diejenigen zu unterstützen, die aus Gilead fliehen wollen. Spannung ist garantiert, gerade beim Doppelspiel von Tante Lydia, die an den Strippen der Macht zieht und sie zugleich kappt. Gerade diese Figur ist besonders vielschichtig und interessant, denn unbedingter Überlebenswille hat nach der Revolution in Gilead Lydia zu der gemacht, die sie nun ist, jener Frau, die sowohl kaltblütig als auch grausam sein kann und doch auch höhere Motive hat.

Auch andere Frauenfiguren, die Nebenrollen der Handlung spielen, sind stark und tatkräftig, selbst wenn sie scheinbar schwach und hilflos sind. Feministische Literatur? Eigentlich schon, denn auch junge Leserinnen können hier bei der Suche nach weiblichen Rollenvorbildern fündig werden - und sich dennoch spannend unterhalten. Dass die bigotte Welt von Gilead nicht ausschließlich ein Fantasiewerk ist sondern auch in der Gegenwart Signale in eine ähnliche Richtung drehen, daran dürften Debatten über Abtreibung, Selbstbestimmung und die Rolle von Frauen in zahlreichen Ländern erinnern. Ähnlich wie "Vox" sind auch "die Zeuginnen" ein Roman für die Zeit von "PussyRiot"

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.09.2020

Einladung zu Entdeckung der Dunkelheit

Streifzüge durch die Nacht
0

Fast scheint es, als sei in diesen eher düsteren Pandemiezeiten die Nacht eine neue Lese-Entdeckung: Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan schrieb vor einiger Zeit und für einen Naturwissenschaftler ...

Fast scheint es, als sei in diesen eher düsteren Pandemiezeiten die Nacht eine neue Lese-Entdeckung: Der amerikanische Astrophysiker Trinh Xuan Thuan schrieb vor einiger Zeit und für einen Naturwissenschaftler ungewöhnlich poetisch über die "Magie der Nacht", der Landschaftsfotograf Kilian Schönberger nahm mit "Nachts im Wald" die Leser in Wort und Bild mit zu Abenteuern zwischen Dämmerung und Sonnenaufgang und auch Dirk Liesemer begibt sich mit "Streifzüge durch die Nacht" in die Dunkelheit - mal in einem wandernden Alleingang, mal mit Experten als sachkundigen Gesprächspartnern.

Das unterscheidet dieses Buch von den eher in Einsamkeit recherchierten anderen Titeln. Liesemer trifft Künstler und Kreative, die Nacht künstlerisch verarbeiten, einen Klangexperten, der Geräusche - die in einer stillen Nacht ja noch viel unvermittelter wirken - in Filme als Klangteppich einwebt. Der Autor begleitet einen Jäger auf den Hochsitz (und ist ganz froh, dass am Ende dieser Nächte kein Wildschwein oder Reh sein Leben lassen musste, auch wenn die Schilderung sicher nicht ohne Dramatik gewesen wäre), er geht auf nächtliche Pirsch mit Vogelkundlern und einer Fledermausforscherin.

Zudem beschränkt sich Liesemer mit seinen Streifzügen nicht auf die stille Seite der Nacht, die Abgeschiedenheit in der nur von Mondlicht und Sternen beschienenen Natur. Er folgt auch den Nachtseiten der Städte, sei es eine Wiener Ballnacht, sei es das Gespräch mit einem "Taxler", der nachts fährt und so manche Begegnung schildern kann. Dabei spielt sich Liesemer nicht in den Vordergrund, sondern hält sich angenehm zurück, lässt den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin buchstäblich zu Wort kommen, reflektiert und beobachtet.

Ein wenig, so resümiert er am Ende, fühle er sich nach all diesen nächtlichen Streifzügen wie nach einem Auslandsjahr, dass man unternimmt, um eine neue Sprache erlernen - man beherrscht sie nach einem Jahr ganz passabel, fühle sich aber zugleich noch unsicher und wisse, dass es ein weiter Weg zur Perfektion ist: "So ist es auch mit der Nacht. Sie hat schier unfassbar viele Facetten, die sich an jedem Ort und mit jeder Jahreszeit auf eine ihr eigene Art und Weise darstellen." Und noch einen Tipp hat er für seine Leser parat: Wer die Nacht wirklich kennenlernen wolle, der solle das Buch beiseite legen und sich aufmachen. "nach draußen gehen und furchtlos ins Dunkel springen. Eines ist sicher: Sie werden direkt vor ihrer Haustür eine neue Welt kennenlernen, und selbst wenn Sie dort niemanden treffen, dann werden Sie zumindest einer Person begegnen: sich selbst." Schließlich war die Nacht schon immer die Zeit tiefer Gedanken und von Selbsterkenntnis.

Und immerhin: Mit Herbstbeginn rückt die dunkle Jahreszeit wieder nahe an uns heran, langes Warten ist nicht erforderlich für einen Streifzug in die Dunkelheit. Auch dieses Buch macht Lust auf eigenes Entdecken.