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Veröffentlicht am 12.11.2020

Weihnachtsbäckerei mal ohne Zucker

Weihnachtsplätzchen zuckerfrei
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Plätzchen gehören zur Weihnachtszeit wie Adventskranz und Tannenbaum. Allerdings hat die süße Versuchung schon vor den Feiertagen im Zweifelsfall Auswirkungen auf die Zahl auf der Waage. Mit "Weihnachtsplätzchen ...

Plätzchen gehören zur Weihnachtszeit wie Adventskranz und Tannenbaum. Allerdings hat die süße Versuchung schon vor den Feiertagen im Zweifelsfall Auswirkungen auf die Zahl auf der Waage. Mit "Weihnachtsplätzchen zuckerfrei" dürfte sich mit etwas besserem Gewissen naschen lassen. Die Autorinnen und Böoggerinnen Lena Merz und Annina Schäflein jedenfalls versprechen,dass auch mit Obst und Trockenfrüchen sowie den Alternativen Dattelsüße, Kokosblütenzucker und Reissirup der Blutzuckerspiegel weniger in die Höhe getrieben wird.

In dem G+U Buch, wie gewohnt schön und apettitanregend fotografiert, wird zwischen traditionellen und modernen Plätzchen unterschieden. Dabei wird auch durchaus mal eine Alternative bei der Größe angeboten. Die Mini-Stollen haben mich jedenfalls gleich gereizt, sie bei nächster Gelegenheit auszuprobieren. Mit veganen Lebkuchenschnittem habe ich auch gleich schon ein kleines Adventsgeschenk für eine Kollegin.

Bei den modernen Plätzchen gibt es orientalische Noten, die ja durchaus zu den Zimt-, Nelken- und Kardamongerüchen der Weihnachts-Backstube passen, etwa Tahin-Cookies oder Sesam-Pekannuss-Konfekt. Lecker in der herbstlich-kühlen Jahreszeit auch ohne Weihnachtsbezug klingen die Apfelhörnchen, die knusprigen Zimtkracher oder Spekulatius-Rauten. Übrgens, nicht nur Zucker wird weggelassen, auch Dinkelmehl oder Haferflocken werden oft statt Weizenmehl verwendet.

In einem weiteren Abschnitt des Buches gibt es Geschenke, die sicher nicht nur zur Wichtel-Zeit Freude bereiten, zum Beispiel Bananenbrot im Glas oder eine Mandel-Dattel-Creme. Mit Weihnachts-Granola und Glühwein-Apfel-Fruchtgummisternen dürfte für jeden Geschmack etwas dabei sein. Allerdings - mit all der Butter und den Nüssen sind die Leckereien zwar im Zweifelsfall gesünder, aber Kalorien addieren sich auch hier zusammen....

Veröffentlicht am 10.11.2020

Killer im Namen von Anstand und Sitte

Die Krieger
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Es ist schon eine Zeitreise, als Leser den Ermittlungen der Kriminalkommissars Nick Marzeck zu folgen: Es gibt noch Bundesrepublik und DDR, der Kalte Krieg ist in Reagan-Zeiten zu neuen Frostwerten gesunken, ...

Es ist schon eine Zeitreise, als Leser den Ermittlungen der Kriminalkommissars Nick Marzeck zu folgen: Es gibt noch Bundesrepublik und DDR, der Kalte Krieg ist in Reagan-Zeiten zu neuen Frostwerten gesunken, an den Grenzen zu Österreich oder Italien gibt es noch Grenz- und Ausweiskontrollen, und Weißwurst und Weißbier sind mit D-Mark zu bezahlen. Weißbier, das bei der Münchner Mordkommission auch während der Dienstzeit getrunken wird! Ach ja, es gab sie einst, die Arbeitswelt, in der es vielleicht weniger hip, aber andererseits auch weniger reglementiert war: vorausgesetzt, der Job wurde erledigt!

Marzeck, eigentlich aus Berlin stammend, arbeitet nicht nur an Mordfällen, sondern zugleich an der Überwindung des Kulturschocks, muss er doch im Bayern des Franz-Josef Strauß Fuß fassen. Nach dem Tod seiner Frau ist ihm regelrecht der Boden unter den Füßen weggerutscht, ein Kollege holte ihn nach München, ehe er sich um Verstand und Leben trinken konnte.

Als korrekter "Preuße" kommt ihm allerdings der Kuschelkurs eben jenes Kollegen mit einer Nachtklubgröße nicht ganz sauber vor, geht es doch um Brandanschläge auf die Wohnwagen des Straßenstrichs - gehen sie möglicherweise auf die Kappe von "Jugo-Gangs", die einen Platz beim Geschäft mit dem schnellen Sex erkämpfen wollen? (Ja, auch Jugoslawien gab es damals noch!)

Auch ein verheerender Brandanschlag auf eine Go-Go-Diskothek lässt zunächst Revierkämpfe im Rotlichtmilieu vermuten. Doch dann gibt es ein Bekennerschreiben einer Gruppe "Ludwig", die gewissermaßen im Namen von Anstand und Sitte mordet. Bekennerschreiben dieser Gruppe gab es zuvor bereits in Italien - Zufall? Marzeck soll sich mit den Kollegen im Süden vernetzen - und mangels verfügbaren Dolmetschers fährt die italienische Büro-Putzfrau mit. Die leidet zwar unter einer Leseschwäche, wie Marzeck bald merkt, doch nach anfänglichen Problemen ist das ungleiche Duo überzeugt, auf einer heißen Spur zu sein. Allerdings erschweren nicht nur Bürokratie und Kompetenzgerangel der italienischen Kollegen die Fortschritte.

Mit dem Roman "Die Krieger" hat Martin Maurer Fiktion und reale Ereignisse verknüpft, die künstlerische Freiheit genutzt, um mit der Fantasie Lücken zu füllen, die bei den realen Ermittlungen seinerseits offen bleiben mussten. Auch wenn die Handlung des Romans in den 1980-er Jahren spielt, ist mit rechtem Terror ein aktuelles Thema zentral für die Handlung. Ob Korruption oder rechte Seilschaften in den Sicherheitsbehörden, pädophile Priester oder organisiertes Verbrechen - trotz Zeitreise fühlt sich dieser Thriller höchst aktuell und zeitgenössisch an.

Spannend sind "die Krieger" allemal, mitunter wird auch ironisch mit Vorurteilen und Klischees gespielt - sei es mit dem korrekten Deutschen im etwas lässigeren Italien, wo erst einmal eine gute Mahlzeit Vorrang vor dem Dienstgespräch haben muss, sei es mit Integrationsproblemen in der multikulturellen Arbeitsumgebung der Münchner Mordkommission. Doch Toleranz wird groß geschrieben: Den niederbayrischen Kollegen kann zwar niemand verstehen, aber akzeptiert wird er trotzdem.

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Veröffentlicht am 09.11.2020

Ein Gangsterleben

Heißes Blut
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Mit "Die Plotter" hatte der koreanische Schriftstelle Un-Su Kim eine düster-brutale, aber auch fast schon philosophische Geschichte eines Profu-Killers geschrieben, Auch in "Heißes Blut" bleibt er dem ...

Mit "Die Plotter" hatte der koreanische Schriftstelle Un-Su Kim eine düster-brutale, aber auch fast schon philosophische Geschichte eines Profu-Killers geschrieben, Auch in "Heißes Blut" bleibt er dem Gangstermilieu treu und schildert Karrieren, Verteilungskämpfe und blutige Fehden in Busan und am Strandviertel Guam. Atmosphärisch dicht, sprachtlich kraftvoll erzählt Un-Su Kim die Geschichte des Gangsters Huisu, der in den 90-er Jahren die rechte Hand des koreanischen Paten Vater Son ist.

Huisu gehört gewissermaßen zum mittleren Management des organisierten Verbrechens, ein Mann mit Ambitionen, aber auch mit einem Ehrgefühl als Gangster. Vaterlos aufgewachsen kennt er das Leben am Rand der Gesellschaft, seine große Liebe ist eine Barbesitzerin und ehemalige Prostituierte. Teilweise ist "Heißes Blut" wie eine koreanische Version des "Paten", mit Soldaten und Offizieren, mit Abgaben und korruptem Beamten, mit ungeschriebenen Gesetzen und Verhaltensregeln. Nur dass hier in den Kampfpausen einen Gangsterkrieges nicht Spaghetti gekocht werden, sondern Ramen-Nudeln und bei Sashimi verhandelt wird. Wobei die Sashimi-Messer auch anderweitig zum Einsatz kommen.

Ähnlich wie der Killer Raesong ist Huisu eine teils gebrochene, teils an ihren Grundwerten festhaltende Figur. Ähnlich wie sein Ziehvater Son setzt Huisu mehr auf Verhandlungen als auf Brutalität und Blutvergießen, auch wenn ihm beides nicht fremd ist. Nicht zuletzt seine Schuldenlast macht ihn angreifbar, zwingt ihn zu Entscheidungen mit weitreichenden Folgen.

Ein wenig ähneln die Gangster von Busan den Einwohnern einer Kleinstadt - jeder weiß fast alles über die anderen, es gibt Zweckbündnisse und Loyalitäten, doch unter der scheinbar glatten Oberfläche des Geschäftslebens sind allerhand Untiefen.

"Heißes Blut" ist ein Kriminalroman wie aus der "schwarzen Serie", düster, oftmals tödlich und getragen von einem ethischen Kodex der Unterwelt. Auch soziale Hierarchien, rituelle Unterwürfigkeit und Rangfolgen spielen eine wichtige Rolle, wobei ich schlecht beurteilen kann, inwieweit hier auch "typisch koreanische" Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders eine Rolle spielen und inwieweit es sich um die Nischenkultur der Gangstergesellschaft handelt.

Dunkel und hart, manchmal mit Humor und sogar Wärme lässt Un-Su Kim am Leben seiner Antihelden teilhaben. Nicht nur für Krimi-Freunde ein faszinierendes Buch voller Spannung und dunkler Emotionen.

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Veröffentlicht am 09.11.2020

Ein Sheriff wider Willen

Dunkle Wolken über Alberta
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Thumbs DreadfulWater, ein amerikanischer Cherokee, glaubt seine Polizistenvergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Nachdem er in Kalifornien einen Serienmörder gejagt hatte, der auch DreadfulWaters ...

Thumbs DreadfulWater, ein amerikanischer Cherokee, glaubt seine Polizistenvergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Nachdem er in Kalifornien einen Serienmörder gejagt hatte, der auch DreadfulWaters damalige Lebensgefährtin und ihre Tochter umgebracht hatte, war es ein Fall zu viel gewesen. DreadfulWater zog in die Kleinstadt Chinook und arbeitet als Landschaftsfotograf. Mit einer Vertreterin des nahegelegenen Indianerreservats hat er eine On-Off-Beziehung, seine Katze tyrannisiert ihn und seine Ambitionen reichen aktuell nicht weiter als bis zur möglichen Anschaffung eines sechs-Platten-Gasherds.

Da hat DreadfulWater allerdings die Rechnung ohne den Ortssheriff Hockney gemacht. Der muss nämlich zu einer internationalen Konferenz in Costa Rica und drängt DreadfulWater, in der Zwischenzeit als komissarischer Sheriff einzuspringen. Auch wenn DreadfulWater nichts davon hören will, wird er angesichts mehrerer mysteriöser Todesfälle in Chinook gegen seinen Willen doch in einen aktuellen Kriminalfall hineingezogen,

Thomas King hat mit seinem Roman "Dunkle Wolken über Alberta" eine ganze Reihe leicht exzentrischer und liebenswürdiger Figuren geschaffen, angefangen von dem zunehmend von den Beschwerden des mittleren Alters geplagten DreadfulWater, der lesbischen Ärztin, die in Doppelfunktion auch Gerichtsmedizinerin ist, dem griechischen Buchhändler und Umweltaktivisten Archie, einem Bodyguard, der gerne mit spanischen Einsprengseln seine Herkunft aus New Mexiko betont und dem Ortssheriff, dessen Dienstreisen stark von den touristischen Wünschen der begleitenden Ehefrau beeinflusst werden. Auch die resolute Stammeschefin, ihre von einer detektivischen Zukunft träumende Schwester und der eifersüchtige Sohn seiner Freundin machen DreadfulWater mitunter das Leben schwer.

"Dunkle Wolken über Alberta" hat einige zähe Längen, ist aber durchaus ein solider Ökokrimi, geht es doch um den knappen Rohstoff Wasser, um den Zugriff auf altes Stammesland und die Verträge, die einsr zwischen der Regierung und den indigenen Völkern geschlossen wurden. Gleich zwei Vertreter eines Unternehmens, das auf einer Umweltkonferenz ein Verfahren vorstellen wollte, das auch über Wasservorkommen Aufschluss gibt, sterben eines gewaltsamen Todes. Zwischen Geschäftsinteressen und persönlichen Motiven muss der Sheriff wider Willen die Lösung des Falls suchen.

Thumbs DreadfulWater ist ein sympathischer Protagonist - erfahren, aber nicht abgestumpft-zynisch, eher wortkarg, eigentlich ein typischer Mann des Westens, auch wenn manchmal ein wenig zaudernd. So wie der Chinook in Alberta für plötzliche Wetterwechsel mit extremen Temperaturschwankungen sorgen kann, so nimmt auch der Fall einige Wendungen. Auch manche Selbsterkenntnis wartet dabei auf DreadfulWater

Ein Rätsel bleibt allerdings der Buchtitel - denn Chinook scheint im US-Bundesstaat Montana und nicht in der kanadischen Provinz Alberta zu liegen, während gleichzeitig immer wieder das kanadische Gesundheitssystem angesprochen wird, in dessen Genuss DreadfulWater als US-Staatsbürger nicht kommt.

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Veröffentlicht am 04.11.2020

Das Trauma der Entwurzelung

Flucht – Eine Menschheitsgeschichte
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Schon das Titelbild von Andreas Kosserts Buch "Flucht" zeigt, wie leicht sich der Leser bei der Einschätzung irren kann und wie allgemeingültig die Geschichte von Flüchtlingen ist: Der kleine Junge mit ...

Schon das Titelbild von Andreas Kosserts Buch "Flucht" zeigt, wie leicht sich der Leser bei der Einschätzung irren kann und wie allgemeingültig die Geschichte von Flüchtlingen ist: Der kleine Junge mit den kurzen Hosen, der auf zusammengeschnürten Gepäckstücken und Säcken hockt, ist nicht etwa ein Kind aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien im Jahr 1945, sondern ein junger Flüchtling "aus osteuropäischen Regionen" im Jahr 1949 - vielleicht aus der Westukraine oder der Wilnaer Gegend vor der Umsiedlung in die einstigen deutschen Ostgebiete, vielleicht ein Kind von "Displaced Persons", die nach dem Krieg in Deutschland feststeckten und entweder in ihre Heimatländer repatriiert wurden oder eine neue Zukunft in einem anderen Land suchten. Gemeinsam war und ist ihne: Sie sind entwurzelt, führen ein Leben im Wartestand, von den jeweils "Hiesigen", den Beheimateten oft misstrauisch beäugt, abgelehnt, angefeindet.

"Eine Menschheitsgeschichte" hat der Autor sein Buch im Untertitel genannt und es ist der große Verdienst Kosserts, dass er den Blick nicht, wie das in der Vergangenheit viele deutsche Historiker in den Fernsehdokumentationen zur besten Sendezeit gemacht haben, allein auf das Schicksal der 14 Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg richtet, sondern auf das davor und danach. Etwa die gewaltsamen Umsiedlungen durch die Nationalsozialisten in den von Deutschland besetzten Gebieten, aber auch die erzwungenen Bevölkerungsverschiebungen in den einstigen polnischen Ostgebieten.

Kossert hat am Deutschen Historischen Institut in Warschau gearbeitet, er schreibt für eine deutsche Leserschaft - insofern liegt durchaus ein Fokus auf dem Zwanzigsten Jahrhundert, auf Deutschland und seinen Nachbarstaaten. Doch stets werden Erfahrungen, Erinnerungen, Zitate von Flucht, von Unterwegssein und Ankommen anderer Flüchtling hinzugestellt, sei es von nordafrikanischen Juden, von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, von Griechen und Türken.

Oft ist der Verweis auf Autor und Jahr des Zitats nötig, so ähneln sich bei allen unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen, trotz unterschiedlicher Religionen, Sprachen und Ethnien die Gefühle, die zum Ausdruck kommen, wenn Menschen gezwungen sind, mit dem Allernötigsten, oft ohne Zeit zum Abschiednehmen, in eine ungewisse Zukunft aufbrechen müssen. Eben waren sie noch Einwohner, Nachbarn, Bauern oder örtliche Unternehmer. Und plötzlich sind sie nur noch Flüchtlinge, aus dem Alltag, aus der Sicherheit und aus allem Gewohnten gefallen.

Eine kleine, wiederkehrende Szene, die Flüchtlinge aus Palästina oder Ostpreußen, aus Kurdistan oder Kappadokien schildern, weckt Erinnerungen: Die Schlüssel der alten Wohnung, des einstigen Hauses, den viele Flüchtlinge mitnehmen, in der Hoffnung, dass es vielleicht doch mal ein Zurück gibt. Ein Schlüssel, wie er auch im Schrank meiner Großmutter lag und der an keine der Türen und Schränke passte. "Der ist von zu Hause", sagte sie. "Aus der alten Heimat." Eine neue hat sie, wie viele ihrer Generation, nie gefunden.

Wer selbst eine Familie mit Fluchtbiografie hat, wer die Erzählungen von Eltern oder Großeltern kennt oder selbst die Erfahrung gemacht hat, mit einem "anderen" Namen, der "falschen" religiösen Zugehörigkeit, der Herkunft der Familie an einem Ort, an dem man selbst geboren wurde, als nicht dazugehörig betrachtet zu werden, der kennt vieles von dem, was in "Flucht" geschildert wird. Kossert räumt mit den lange gepflegten Schilderungen von der großherzigen Aufnahme der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland auf, er zeigt die Sprachlosigkeit, mit oft traumatisierenden Erinnerungen umgehen zu müssen, schildert, dass ähnlich wie in Familien von Holocaust-Überlebenden auch in Familien von Flüchtlingen die nachgeborenen Generationen oft einen Teil des psychologischen Erbes der Familiengeschichte mit sich herumschleppen.

Ausführlich geht es auch um die Gleichgültigkeit vieler Menschen gegenüber dem Schicksal entwurzelter Menschen. Die Willkommenskultur des Sommers 2015 - fünf Jahre später wissen wir, das war eine kurze Episode. Das Schicksal der Namenlosen, die Jahr für Jahr im Mittelmeer ertrinken, die Zustände in Moria oder in den Flüchtlingslagern in der Türkei kommen in den Sinn, wenn Kossert resümiert: "Flucht und Vertreibung als Geißel der Menschheit zu ächten, könnte bewirken, sie bereits im Entstehen zu unterbinden und ihre Ursachen zu bekämpfen, statt immer nur noch höhere Zäune und Mauern zu errichten. Am Umgang mit Flüchtlingen lässt sich ablesen, welche Welt wir anstreben. ... Flüchtlinge und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist. Sie verschieben die Sicht auf die Welt, weil sich mit jeder Fluchtgeschichte und jedem einzelnen Flüchtling die Frage stellt, wie fest wir wurzeln."