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Veröffentlicht am 05.09.2024

Dialog in einer Zeit der Polarisierung

Muslimisch-jüdisches Abendbrot
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Wenn ich manche aufgeheizten Debatten - oder vielmehr wechselseitige konfrontative Monologe sehe - dann sind Paare wie Saba-Nur Cheema und Meron Mendel für viele Menschen vermutlich personifizierte Provokation. ...

Wenn ich manche aufgeheizten Debatten - oder vielmehr wechselseitige konfrontative Monologe sehe - dann sind Paare wie Saba-Nur Cheema und Meron Mendel für viele Menschen vermutlich personifizierte Provokation. So ein Paar dürfte es aus deren Sicht vermutlich gar nicht geben: Sie ist gebürtige Frankfurterin, Muslima, Tochter pakistanischer Eltern, die vor Verfolgung in ihrer Heimat nach Deutschland geflohen sind. Er ist Israeli, in einem Kibbutz in der Negev-Wüste aufgewachsen, kam zum Studium nach Deutschland und blieb. Beide arbeiteten viele Jahre an der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank zusammen, deren Direktor Mendel bis heute ist, beide sind wissenschaftlich und publizistisch tätig und veröffentlichen seit Jahren eine gemeinsame FAZ-Kolumne, deren Texte nun unter dem Titel "Muslimisch-Jüdisches Abendbrot" als Buch erschienen sind.

Zeitlos sind viele der Texte auch jenseits des Tagesjournalismus, auch wenn, natürlich, die Gesellschaft und die Polarisierung seit dem 7. Oktober 2023 eine große Rolle spielen. Dass die Texte jenseits des Tagesaktuellen so relevant und wichtig sind, liegt auch daran, dass hier zwei kluge, reflektierte, nachdenkliche Menschen das machen, was in den Blasen der Daueraufgeregtheit verloren geht: Auf Augenhöhe, voller Respekt miteinander reden, Unterschiede und Kontraste zulassen, die unterschiedlichen Ansichten von Menschen im Umfeld aushalten und sachlich zu reagieren, anstatt niederzuschreien.

Nun ist es so, dass ich die beiden und die Arbeit der Bildungsstätte seit vielen Jahren kenne und vielleicht als voreingenommen gelten mag. Aber dieser ernsthafte, nachdenkliche, durchaus auch mal ironische und selbstironische Blick auf die Gesellschaft, auf die Themen, die viele Menschen umtreiben, auf Identität und Zugehörigkeit, gesellschaftlichen Dialog und aktivistische Konfrontationen, dieser Blick fehlt mir in vielen Diskussionen, in denen sich beide Seiten voller Selbstgerechtigkeit und Alleinvertretungsanspruch an die Wahrheit beharken.

Das "muslimisch-jüdische Abendbrot" zeigt nicht nur, wie bereichernd unterschiedliche Blickwinkel, Erfahrungen und Ansichten sein können, sondern auch, wie bereichernd die wertschätzenden Auseinandersetzung jenseits von Pauschalisierungen sein kann. Und es macht klar: Miteinander reden ist sehr viel besser als übereinander schimpfen.

Veröffentlicht am 22.08.2024

Freundschaften und Abgründe

Wenn die Nacht endet
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Es ist kurz vor der Jahrtausendwende, kurz vor dem Schulabschluss für die Jugendlichen im schwedischen Skavböke. Tiefste Provinz, doch nur Sander träumt vom Auf- und Ausbruch. Nach einer alkohollastigen ...

Es ist kurz vor der Jahrtausendwende, kurz vor dem Schulabschluss für die Jugendlichen im schwedischen Skavböke. Tiefste Provinz, doch nur Sander träumt vom Auf- und Ausbruch. Nach einer alkohollastigen Party wird Mikael, der älteste Sohn des reichsten Bauern am Ort, erschlagen aufgefunden. Die Polizistinnen Gerd und Siri versuchen, die Wege der Jugendlichen nach der Party nachzuverfolgen, doch dank des Alkoholpegels können viele Zeugen nur diffuse Angaben machen. Die Beamtinnen werden auf Sander und seinen besten Freund Killian aufmerksam, sind überzeugt, dass sie etwas zu verbergen haben. Nachweisen lässt sich dem unzertrennlichen Duo jedoch nichts.

20 Jahre später bringt ein weiterer Mord den Polizisten Vidar zurück auf den nie gelösten cold case von 1999. Gibt es Zusammenhänge? Welche Abgründe verbergen sich in der scheinbaren Provinzidylle? Und haben die Menschen mit der Vergangenheit tatsächlich abgeschlossen?

Christoffer Carlsson hat mit "Wenn die Nacht endet" einen spannenden Kriminalroman über Freundschaft, Schuld und Loyalität geschrieben, der sich in einem gemächlichen Tempo entwickelt und mit gelegentlichen Handlungssprüngen Aufmerksamkeit erfordert. Carlsson hat Kriminologie studiert, doch der Schwerpunkt des Buches liegt über weite Strecken nicht auf der Ermittlungsarbeit der Polizei, sondern auf der Dynamik zwischen Sander und Killian, die sich von ihrer Persönlichkeit völlig unterscheiden, aber zugleich unverbrüchlich zueinander stehen.

Man sollte "Wenn die Nacht endet" nicht so nebenbei lesen, sondern sich auf den Text konzentrieren, denn einige Hinweise, die der Autor streut, erhalten erst später eine Bedeutung. Das Buch ist ein Stück weit eine Coming of Age-Geschichte mit Geheimnissen, die erst ganz zum Schluss gelöst werden. Stark ist der psychologische Aspekt des Romans, denn der Mord an Mikael verändert die Dorfgemeinschaft und führt zu weiteren Konsequenzen. Der Tod hat Auswirkungen auf Hinterbliebene und Mikaels Altersgenossen gleichermaßen. Ein Verdacht zerreißt das Dorfgefüge mit Folgen, die auch nach 20 Jahren noch in inneren Abgründen schlummern.

Sprachlich beeindruckend und empfehlenswert für alle, die Lust auf psychologische Spannung haben.

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Veröffentlicht am 22.08.2024

Berliner Dystopie

Hinter den Mauern der Ozean
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Berlin, eine Insel. Berlin, die Mauerstadt. Das gab es schon einmal. Doch in Anne Reineckes Roman "Hinter den Mauern der Ozean" geht es nicht um die Vergangenheit im Kalten Krieg, sondern eine ferne Zukunft, ...

Berlin, eine Insel. Berlin, die Mauerstadt. Das gab es schon einmal. Doch in Anne Reineckes Roman "Hinter den Mauern der Ozean" geht es nicht um die Vergangenheit im Kalten Krieg, sondern eine ferne Zukunft, gestaltet durch Klimakatastrofe und wer weiß, was noch. Berlin ist von einer hohen Mauer umgeben und jenseits der Mauern ist Land unter. Wie weit sich dieser Ozean erstreckt, bleibt unklar. Das Meer ist, der hohen Mauer wegen, nicht zu sehen, höchstens je nach Jahreszeit zu hören oder zu riechen.

Und Berlin ist nicht länger eine Millionenmetropole sondern die Heimstatt der fünf "Ewigen" - Lola, Friedrich, Wilhelm, Alexander und Else. Lauter Namen, die fest mit preußischem/Berliner Kulturgut und Historie verbunden sind. Sind auch die Fünf mehr Symbol als echte Menschen? Als Bewahrer des kollektiven Gedächtnisses der "Alten" haben sie eine Rolle zu spielen. Sind sie überhaupt Menschen oder eine Art Klon? Wenn eine*r von ihnen alt wird, kommt die Zeit des "Entschwindens" - und der Ersatz durch ein Kind gleichen Namens, wohl auch ähnlicher Persönlichkeit?

Erzählt wird aus der Perspektive von Lola, der bis dahin jüngsten der der Ewigen. Die anderen waren alle schon da, als sie als Kind dazukam. Ihre Vorgängerin hat sie nie kennengelernt, das ist unüblich. So bleibt die "alte Lola" für sie ein Rätsel. Friedrich, der älteste der fünf, steht Lola nahe und plant mit ihr eine Flucht, im selbstgebastelten Ballon über die Mauer - noch so eine Reminiszenz aus der Zeit der Berliner Mauer. Lola ist auch die einzige, die in das eigentlich verbotene ungesicherte Gebiet vordringt, in dem sie Spuren der Vergangenheit vor der Zeit der Ewigen sucht.

Vieles bleibt rätselhaft. Reinecke lässt in ihrem Buch Leerstellen und Interpretationsspielräume, die die Lesenden selbst mit ihrer Vorstellungskraft füllen können. Wie die Ewigen ausgesucht werden, was aus ihnen wird, wenn sie durch ein jüngeres Exemplar ersetzt werden bleibt ebenso offen wie die Frage, ob die Berliner Insel Schutzzone oder Gefängnis für die Hüter des Wissens ist. Auch die Begegnung mit den Fremden, die einmal im Jahr kommen und mit denen die Kommunikation nur über Übersetzer möglich ist, wirft Rätsel auf: Gehören sie überhaupt derselben Spezies an? Was wurde aus dem Rest der Menschheit? Wo leben die Fremden? Was existiert jenseits des Berliner Mauerrings? Ist diese Existenz die Folge einer ökologischen Katastrofe, eines Krieges oder eines Zusammenspiels mehrerer Faktoren?

Reineckes Sprache ist teils poetisch, teils archaisch im Stil alter Epen oder der Bibel, wenn die Ewigen mit den Fremden sprechen. Das Setting ist mystisch und geheimnisvoll. Ein ungewöhnliches Buch, das manche Antwort offen lässt und gerade deshalb zum Nachdenken anregt.

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Veröffentlicht am 19.08.2024

Zwischen Themse und Tigris

Am Himmel die Flüsse
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Es gibt Schriftsteller, die bleiben bei einem sicheren Erfolgsrezept und alle ihre Romane scheinen einander ein bißchen zu ähneln. Und es gibt andere, bei denen jedes neue Buch eine Überraschung ist: Wohin ...

Es gibt Schriftsteller, die bleiben bei einem sicheren Erfolgsrezept und alle ihre Romane scheinen einander ein bißchen zu ähneln. Und es gibt andere, bei denen jedes neue Buch eine Überraschung ist: Wohin werden die Leser*innen als nächstes geführt? Elif Shafak, türkische Autorin im englischen Exil, gehört zu meinen Lieblingsautorinnen, seit ich sie mit "Unerhörte Stimmen" für mich entdeckt habe. Ihr neues Buch, "Am Himmel die Flüsse" bestätigt mich darin wieder.

Wenn es einen roten Faden gibt, der sich durch Shafaks Bücher zieht, dann ist es nicht ein bestimmtes Sujet, sondern die poetische, bildhafte Sprache, ihre Positionierung für Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen oder anders sind als die in ihrer Umgebung. Ihr neues Buch spielt zwischen Themse und Tigris, verbindet die Liebe zu Dichtung und Geschichte mit Schicksalen zwischen 19. Jahrhundert und Gegenwart und lässt auch ein bißchen das alte Mesopotamien einfließen.

Es sind Keilschriftzeichen, Zitate aus dem Gilgamesch-Epos, Flüsse und eine blaue Tafel aus Lapislazuli, die ganz unterschiedliche Menschen in diesem Roman letztlich über Raum und Zeit verbinden: Die von einem Kindheitstrauma geprägte Zaleekha, Wissenschaftlerin und Hydrologin im London des Jahres 2018, die neunjährige Narin, die 2014 in einem Ezidendorf aufwächst und nichts von den nahenden Gefahren durch den IS ahnt und Arthur, der 1840 im Schlamm der Themse geboren wird und dank seiner Intelligenz und einigen glücklichen Wendungen einer Kindheit in größter Armut entkommen kann und als autodidaktischer Wissenschaftler im britischen Museum das Gilgamesch-Epos entziffert.

Trauma, Verlust, aber auch Liebe erfahren diese drei Protagonisten, die von ihrer Persönlichkeit her ganz unterschiedlich, aber alle sensibel und voller Nähe geschildert werden. Shafak verbindet einen historischen Roman, der auf wahren Gegebenheiten beruht, mit Herausforderungen der Gegenwart durch Wasserverschmutzung, Umweltzerstörung und Klimawandel sowie den Massakern - man kann durchaus auch von Völkermord sprechen - an den Eziden über Jahrhunderte hinweg.

"Am Himmel die Flüsse" ist offensichtlich akribisch recherchiert, ohne "trocken" zu wirken, Wissenswertes wird in die Geschichte verwoben, in der immer wieder Zeit und Perspektive der jeweiligen Protagonisten wechseln. Elif Shafak zeigt sich hier einmal wieder als großartige Geschichtenerzählerin voller Tiefe und Lebendigkeit. Unbedingte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 19.08.2024

Wiener Klüngel

Freunderlwirtschaft
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"Freunderlwirtschaft", das klingt im Österreichischen so viel charmanter als "Klüngel", aber es geht um das gleiche Prinzip in Petra Hartliebs gleichnamigen Wien-Krimi, eigentlich Politkrimi. Gleich der ...

"Freunderlwirtschaft", das klingt im Österreichischen so viel charmanter als "Klüngel", aber es geht um das gleiche Prinzip in Petra Hartliebs gleichnamigen Wien-Krimi, eigentlich Politkrimi. Gleich der ersten Fall der neu ernannten Leiterin der Wiener Mordkommission, Alma Oberkofler, hat es in sich. Es ist nicht die übliche aus den Fugen geratene Streiterei im Milieu oder Beziehungstat, nein, der junge, gutaussehende Landwirtschafts- und Tourismusminister wird tot in seiner schicken Penthousewohnung gefunden.

Ein Unfall, ein eskalierter Streit, eine geplante Tat? Fragen könnte vielleicht die Verlobte des Toten beantworten, als Pressesprecherin der Wirtschaftsministerin selbst Profi im Politikbetrieb. Doch die ist verschwunden und offenbar bewusst abgetaucht, nachdem sie erst das Maximum an Bargeld von einem Geldautomaten abgehoben, ihr Handy zerstört und ihren Wagen auf dem Parklplatz eines Einkaufszentrums stehen gelassen hat.

Manches kommt Alma in diesem Fall, in dem ihr sofort der Staatsschutz zur Seite gestellt wird, merkwürdig vor, angefangen bei den Wohnverhältnissen des Paares, die doch einige Fragen aufwerfen. Dass Jessica als Verlobte des Toten in den Focus gerät, ist zwar nicht merkwürdig, wohl aber, dass jeder gewillt scheint, andere Optionen schnell auszuschließen.

Hartlieb splittet ihren Roman in zwei Handlungsstränge - einmal die aktuellen Ermittlungen in Wien, anderererseits Jessicas Flucht und eigene Recherchen, mit Rückblicken in die Vergangenheit, die die Beziehung zwischen ihr und dem toten Minister einzuordnen helfen. Und wo der Tote der beste Freund des jungen Kanzlers war, wächst auch ganz schnell der Druck auf die Ermittler.

Schnell muss Alma feststellen, dass sie von einer gut vernetzten Journalistin mehr über die Hintergründe des Wiener Politikbetriebs erfährt als auf dem Amtsweg. Dann gibt es einen weiteren Todesfall, der so schnell zum Unfall erklärt und abgeschlossen wird, dass Alma misstrauisch wird. Doch je tiefer sie gräbt, desto größer wird der politische Druck. Um zur Wahrheit vorzudringen, braucht sie Hilfe von ungewöhnlicher Seite.

"Freunderlwirtschaft" ist spannend und unterhaltsam geschrieben und angesichts früherer Skandale um mächtige Männerbünde und ihre Interessen in der Alpenrepublik durchaus glaubwürdig und konsequent. Ein Alleinstellungsmerkmal Österreichs sind solche Zustände allerdings nicht. Mit Alma Oberkofler und ihrem Team wurde eine sympathische, unbestechliche und aufrechte Protagonistin in den Mittelpunkt gestellt. Wer einen Kriminalroman mit einem guten Plot zu schätzen weiß, ist hier gut aufgehoben.

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