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Veröffentlicht am 30.06.2024

Jagd nach einem Fußballtalent

Godwin
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Mit "Godwin" hat Joseph O´Neill eigentlich zwei Romane in einem geschrieben, die sich zunächst nur flüchtig berühren und erst am Ende zusammenfinden. So flüchtig, dass ich zunächst gar nicht merkte, dass ...

Mit "Godwin" hat Joseph O´Neill eigentlich zwei Romane in einem geschrieben, die sich zunächst nur flüchtig berühren und erst am Ende zusammenfinden. So flüchtig, dass ich zunächst gar nicht merkte, dass der Ich-Erzähler gewechselt hatte. Büro-Intrigen und zerplatzende Träume von einem Arbeitskollektiv, in dem solidarisch an einem Strang gezogen wird einerseits, eine atemlose Suche nach einem großen Fußballtalent irgendwo in Westafrika einerseits. Passt das zusammen? Nachdem sich die erste Verwirrung darüber gelegt hat, wer hier eigentlich erzählt, durchaus. Gier und Opportunismus spielen in beiden Plots eine Rolle.

Da ist einmal Lakesha, die Co-Gründerin einer Genossenschaft von technischen Redakteuren in Pittsburgh. Sie ist durchaus Idealistin - Teilzeitgehalt für vollen Einsatz, doch sie glaubt an die Idee des Kollektivs, in dem sie als Enddreißigerin viel Fluktuation erlebt. Doch die Stimmung ändert sich, als sich eine der jüngeren Kolleginnen als Intrigantin entpuppt und die alte Struktur der Genossenschaft zusehends zerbricht.

Auch Wolfe, der andere Ich-Erzähler, arbeitet in der Genossenschaft, auch wenn er sich dort nicht viel blicken lässt. Von seinen linken Idealen hat er sich weitgehend getrennt, als Familienvater spielt Geld plötzlich eine viel wichtigere Rolle und überhaupt ist die Kleinfamilie für ihn wie ein schützender Kokon angesichts des schwierigen Verhältnisses zu seiner Mutter, die ihn und den mittlerweile verstorbenen Vater verlassen hat, als er fünf Jahre alt war.

Ein "Urlaub", der im nach einem unerfreulichen Auftritt im Büro nahegelegt wurde, führt Wolfe nach London zu seinem Halbbruder Geoff, der ihn um Hilfe bei der Suche nach einem jungen Fußballtalent irgendwo in Afrika anfleht. Die beiden Brüder sind sich nicht sonderlich nahe, Wolfe fühlt sich von dem Jüngeren übervorteilt und mit falschen Versprechungen angelockt, doch nichtsdestotrotz unternimmt er die Fahrt - Geoff ist durch einen Gipsfuß nicht reisefähig - nach Le Mans, um einen alten afrika-erfahrenen Fußballscout zu treffen. Ist der Junge auf Geoffs Telefonvideo der Spieler, den der Franzose einmal in Togo zufällig sah und der nach dem Spiel verschwunden war, ein Junge, der wie Messi ist?

Fußball steht in diesem Buch sowohl für Aufstiegsträume als auch für eine Form von Kolonialismus, gleichzeitig schimmert die Liebe zum Spiel immer wieder durch die Dialoge. Namensgeber Godwin, der talentierte junge Spieler, dessen mutmaßlichen Aufenthalt Wolfe dank eines speziellen Computerprogramms ausfindig machen kann, erscheint lange wie eine Fata Morgana. Die Jagd nach dem Fußballtalent vertieft die Risse in Wolfes disfunktionaler Ursprungsfamilie eher noch.

Mit disfunktionalen Familien kennt sich auch Lakesha aus, die in prekären Verhältnissen in einem Schwarzenviertel von Wisconsin aufgewachsen ist. Die Mutter starb früh, ihre ältere Schwester, als Vormund mit 19 Jahren überfordert, traf falsche Entscheidungen und die falschen Männer. Ein Studienberater, der Lakesha ein Vollstipendium für die angesehene Universität in Pittsburgh verschaffte, half ihr dabei, die Weichen ihres Lebens neu zu stellen.

O´Neill lässt angesichts der flüchtigen Zusammenhänge zwischen den Erlebnissen LaKeshas und Wolfes lange Zeit offen, was außer der Genossenschaft der gemeinsame Nenner der beiden Erzählstränge ist. Wie es dann doch zu einer Verbindung kommt, hat mich überrascht. Man braucht beim Lesen ein bißchen Durchhaltevermögen, aber im letzten Abschnitt führt der Autor die Fäden gekonnt zusammen.

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Veröffentlicht am 29.06.2024

Queere Romance ohne Überraschungen

Experienced. Die Liebe bietet unbegrenzte Möglichkeiten
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Eine queere Liebesgeschichte für den Pride Month - das habe ich mir von "Experienced" von Kate Young erwartet, allerdings auch ein bißchen mehr Tiefe für Protagonistin Bette, die mit 30 Jahren ihre erste ...

Eine queere Liebesgeschichte für den Pride Month - das habe ich mir von "Experienced" von Kate Young erwartet, allerdings auch ein bißchen mehr Tiefe für Protagonistin Bette, die mit 30 Jahren ihre erste lesbische Beziehung hat. Ihr Glück wird getrübt, als ihr ihre Freundin Mei eine Beziehungspause vorschlägt, damit Bette Erfahrungen sammeln kann und nicht irgendwann später im Leben bereut, bei der ersten Frau hängengeblieben zu sein, ohne irgendwelche Vergleichsmöglichkeiten zu haben, außer mit den unbefriedigenden Beziehungen mit Männern, die sie zuvor hatte.

So heult sich Bette erst mal bei der einzigen lesbischen Arbeitskollegin aus und versucht ihr Glück bei Online-Dating. Ihr Problem: sie ist einfach keine Frau für one night stands, bei ihr müssen Gefühle ins Spiel kommen, und die hat sie ja nur für Mei. Immerhin wird aus einem ihrer missglückten Dates die Freundschaft mit Rachel, die fortan zum Sounding board ihrer Liebesprobleme wird.

"Experienced" ist im Stil einer romantic comedy geschrieben und ähnlich vorhersehbar wie die heteronormative Variante. Wer die üblichen Strickmuster kennt, weiß schon früh, wie sich die Story entwickeln wird, insofern also keine Überraschungen beim Lesen. Als leichte Sommerlektüre ist das durchaus geeignet. Das Buck ist locker und gefällig geschrieben und die Figuren sind sympathisch.

Schön wäre es allerdings gewesen, wenn Bette auf ihrem Weg durch den Beziehungsdschungel mehr Profil bekommen hätte. Als queere Protagonistin ihres Alters in dieser Zeit kommt sie mir jedenfalls nicht besonders glaubwürdig vor. Dass sie ihr Coming Out mit 30 hatte und da zum ersten Mal eine Frau kennengelernt hatte, bei der es gefunkt hat - das ist das eine. Aber dass sie so lange benötigt hat, um zu erkennen, warum es bei ihr mit Männern einfach nicht klappt? Dass sie Frauen begehrt? Das ist einfach unrealistisch. Es mag ja sein, dass frau über Jahre dem erwarteten Rollenverhalten entspricht, erst recht, wenn gesellschaftliche und familiäre Zwänge eine Rolle spielen. Aber das eigene Empfinden setzt ja schon deutlich früher ein und im 21. Jahrhundert ist es unwahrscheinlich, dass eine Frau mit 30 Jahren völlig überraschend zu der Erkenntnis kommt, dass sie eigentlich Frauen liebt.

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Veröffentlicht am 29.06.2024

Roadtrip ins Familienchaos

Der Hund des Nordens
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"Der Hund des Nordens" von Elizabeth McKenzie klingt erst einmal vage nach Weite und Sternenhimmel. Bei dem Hund des Nordens handelt es sich allerdings nicht um ein Sternbild, sondern um den Van des Steuerberaters ...

"Der Hund des Nordens" von Elizabeth McKenzie klingt erst einmal vage nach Weite und Sternenhimmel. Bei dem Hund des Nordens handelt es sich allerdings nicht um ein Sternbild, sondern um den Van des Steuerberaters von Penny Rushs exzentrischer Großmutter. Penny, die gerade ihren Job gekündigt hat, nahezu pleite und deren Ehe vor dem Aus steht, hat eigentlich genug mit sich selbst zu tun.

Statt dessen ist sie Reisende in Sachen lieber Verwandtschaft: Die Großmutter, noch nie ganz einfach, muss befriedet werden, nachdem sie mit einer Waffe gedroht haben soll. Der Großvater, ein ausgesprochen netter Mann, hat eine zweite Ehefrau, die ihn ins Altersheim abschieben will. Und dann hat Penny auch noch Angst, ihr biologischer Vater könne sie mit einer seiner gefürchteten Kurzbesuche überraschen.

Dass Penny dann auch noch als Florence Nightingale in einer medizinischen Krise des Steuerberaters einspringen muss, war jedenfalls nicht vorgesehen. So kommt sie an den Van, dank dessen sie sich Übernachtungskosten sparen kann, Und schließt die Bekanntschaft mit Dale, dem wesentlich jüngeren Bruder des Steuerberaters, der als Strafverteidiger in San Francisco arbeitet. Eigentlich praktisch, denn als auf dem Grundstück der Großmutter menschliche Knochen gefunden werden, ist juristischer Beistand nötig.

McKenzie nimmt die Leser*innen mit auf einen Roadtrip zu Pennys exzentrischer Verwandtschaft und auf eine Reise nach Australien, wo Mutter und Stiefvater vor Jahren spurlos verschwanden. Eigentlich hat das Buch Potential, doch beim Lesen fehlte mir etwas. Es schien, als sei sich die Autorin nicht klar darüber, ob das nun ein unterhaltsam-verrückter Roadtrip werden sollte oder das Psychogram einer Mittdreißigerin, die aufgrund ihrer steten Verunsicherung, was Beziehungen zu anderen Menschen angeht und mit schwach ausgeprägtem Selbstbewusstsein irgendwie 20 Jahre jünger wirkt.Mehrfach enden Erzählstränge aprupt, was dem Roman etwas Unvollendetes gibt. "Der Hund des Nordens" hat charmante Momente, konnte mich aber nicht wirklich überzeugen.

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Veröffentlicht am 28.06.2024

Auf high heels durch die finnischen Wälder

Weißglut
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"Weißglut" von Tobias Quast spielt zwar im hohen Norden, genauer gesagt in Finnland, ist aber dennoch eher cozy als Scandinavia Noir. Hängt vielleicht auch damit zusammen, dass der Autor Deutscher ist, ...

"Weißglut" von Tobias Quast spielt zwar im hohen Norden, genauer gesagt in Finnland, ist aber dennoch eher cozy als Scandinavia Noir. Hängt vielleicht auch damit zusammen, dass der Autor Deutscher ist, wenn auch mit Finnland als zweiter Heimat. Ein deutsches Element liefert auch die Protagonistin, die Münchner Society Lady Sarah, die mit einer Auszeit in einem "Mökki", einem Ferienhaus an einem finnischen See, allem entkommen will: Dem schlagzeilenträchtigen Ehe-Aus, dem bevorstehenden Scheidungskrieg, den Geldforderungen ihrer Tochter und der Schickeria, die dank Illustrierten-Story weiß, dass sie von ihrem noch-Ehemann zugunsten einen 27-jährigen Schlagersternchens abserviert wurde. Danke, auf die öffentliche Demütigung kann sie verzichten.

In Finnland kennt zwar niemand Sarah, aber Probleme begleiten sie auch in die Idylle am See. Nicht nur, dass sie erst mal im falschen und nicht sonderlich heimeligen Mökki absteigt, sie findet am Morgen auch eine Leiche. Und ist für die Dorfgemeinschaft nicht nur die wahrscheinliche Mörderin, sondern wird auch gleich als heimliche Geliebte des Mannes gelabelt. Andere dagegen halten sie für eine Unterwelt-Russin. Und der ermittelnde Kommissar, der wie ein Klon des früheren Rennfahrers Mika Häkkinen aussieht und ständig Lakritze kaut? Sarah ist überzeugt, dass er nur darauf lauert, ihr Handschellen anzulegen.

Also muss sie selbst rauskriegen, wer den Nachbarn ermordet hat, mit tatkräftiger Hilfe der volltätowierten Anhalterin Ilvi, die trotz hippen Aussehens mit Sprichwörtern der finnischen Tradition um sich wirft. Auf high heels stöckelt Sarah durch finnische Wälder und auf Mittsommerfeste, versucht Tatverdächtige zu ermitteln und kommt hinter so manches Geheimnis der teilweise exzentrischen Dorfgemeinschaft.

"Weißglut" ist durchaus unterhaltsam, stellenweise in Richtung Klamauk, die Spannung hält sich allerdings in Grenzen. Im Grunde lebt das Buch von dem Kontrast der Luxusfrau in der eher kernigen naturnahen Umgebung und den Vorstellungen, die die Dorfbewohner von der Fremden haben. In einem zweiten Strang geht es um einen eher weltfremden und sozial isolierten Nachwuchswissenschaftler und seine Jagd nach einem Gegenstand, der die finnische Mythologie umschreiben könnte. Bis Sarah dahinter kommt, was das mit ihrer Mördersuche zu tun hat, hat der Roman ein paar Längen. Dennoch ein nettes Leseerlebnis mit ordentlich Skandinavien-Flair.

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Veröffentlicht am 24.06.2024

Tod eines Polizisten in einem zerrissenen Land

In einem fremden Land
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Kinny Glass arbeitet zwar bei der Polizei, mit Ermittlungen hat sie allerdings in der Regel wenig zu tun: Als Psychologin ist sie mehr für Supervision zuständig, aber auch Ansprechpartner für Polizeibeamte ...

Kinny Glass arbeitet zwar bei der Polizei, mit Ermittlungen hat sie allerdings in der Regel wenig zu tun: Als Psychologin ist sie mehr für Supervision zuständig, aber auch Ansprechpartner für Polizeibeamte in schwierigen Lebenslagen, nach traumatischen Einsätzen usw. In Alfred Bodenheimers "In einem fremden Land" betätigt sie sich dann aber doch als Detektivin, denn der Chef der Bereitschaftspolizei, der sie noch wenige Tage zuvor aufsuchte und über Schlafstörungen klagte, die auch ein Hinweis auf Depressionen sein könnten, ist tot: Während eines Urlaubs auf Zypern stürzte er in eine Schlucht und sowohl die zypriotischen wie auch die israelische Polizei legen sich schnell auf einen tödlichen Unfall fest.

Nach einem Gespräch mit der Witwe stößt Kinny allerdings auf Auffälligkeiten. Eine junge Polizistin, die einen autistischen jungen Palästinenser erschossen hat, sagt im Gespräch mit Kinny, sie habe den Anweisungen des nun toten Chefs gefolgt, proaktiv zu schießen, um Terrorangriffe zu verhindern - also auch dann, wenn noch keine tödliche Bedrohung vorliegt.

Das fremde Land im Buchtitel ist allerdings nicht Zypern, sondern Israel selbst: Wie viele ihrer Landsleute fühlt sich Kinny angesichts der Regierungskoalition Netanyahus, als sei ihr Land plötzlich ein anderes. Als Polizistin kann sie nicht an den Demonstrationen teilnehmen, doch sie fühlt sich den Menschen nahe, die gegen die Justizreform und die Schwächung der Gerichte auf die Straße gehen.

"In einem fremden Land" ist im Sommer vergangenen Jahres entstanden, als noch niemand ahnen konnte, wie der 7. Oktober und der Gazakrieg, die Sorge um die Geiseln das Land noch mehr zerreißen würden. Doch auch so sind die aktuellen Bezüge groß - die Inflation und die Lebenshaltungskosten, mit denen die Israelis zu kämpfen haben, die innere Zerrissenheit und Sprachlosigkeit zwischen Orthodoxen und Säkularen, rechten Siedlern und Linken, die in der neuen Regierung eine Katastrophe sehen.

Zerrissenheit erlebt Kinny auch in ihrer Familie: Sie hat sich zwar schon lange von der orthodoxen Lebensweise ihrer Eltern abgewandt, nun aber wieder stärker Kontakt mit ihnen. Ihr in New York lebender Bruder dagegen zeigt sich unversöhnlich und verweigert jedes Gespräch mit den Eltern, vor allem mit dem Vater. Immerhin kann sich Kinny darauf freuen, zum ersten Mal Großmutter zu werden. Ihr Freund und Immer-mal-wieder Lover aus der Tübinger Studentenzeit kann sie daher nicht so recht in seine Stuttgarter Praxis locken, die er ihr als Ausweg aus der depremierenden politischen Realität in ihrer Heimat anbietet.

"In einem fremden Land" hat zwar einen Krimi-Plot, vor allem aber ist das Buch eine Bestandsaufnahme des modernen Israels und seiner Einwohner, die um die Zukunft ihres Landes ringen - eine Zukunft, über die allerdings immer weniger Einigkeit herrscht. Wie der Chef der Bereitschaftspolizei nun ums Leben kam, wird zwar geklärt, scheint aber angesichts des Gesamtsettings fast schon nebensächlich.

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