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Veröffentlicht am 13.05.2021

Welcome to Berlin

Mond über Beton
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"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine ...

"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine Flasche Wodka mit Schluckresten.“ (S. 95)

Hier spielt das wahre, das düstere Leben; sozialer Brennpunkt, eiskalter Beton, Drogenhochburg ist „diese[s] herrlich schwarze Loch von Berlin“ (S. 57): das Kottbusser Tor. Als städtebauliches Projekt Anfang der Siebziger aus dem Boden gezogen, ist der Kotti auch weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. In Gebäudekomplex Neues Zentrum Kreuzberg, kurz NKZ, wohnen die unterschiedlichsten Menschen, die alle ihre Geschichte zu erzählen, ihr Päckchen zu tragen haben: Mutlu mit seinen Söhnen Barış und Barik; Mutlus Nichte Aylin; das alte Pärchen Marianne und Günther; und nicht zuletzt die Witwe Stanca mit ihrem Hund. Sie machen das NKZ zu dem, was es ist, und das NKZ beeinflusst ihr Leben und ihre Schicksale gleichermaßen.

Seit dem Tod seiner Frau Hilal ist Mutlu nicht mehr der, der er einmal war, lediglich ein Schatten ist übrig geblieben von ihm, und so bemerkt er nicht, wie seine Söhne allmählich ins Drogenmilieu abrutschen, immer auf der Suche nach dem Durchbruch, dem ultimativen YouTube-Fame. Aylin hingegen ist es leid, für ihre Neffen zu sorgen, hat sie doch selbst genügend eigene Probleme: ihr Studium, ihre Arbeit im Gemüsemarkt von Mutlu und im REWE, und seit neustem auch den Junkie Ario, der ihr, seinem Engel, immer öfters nachstellt. Marianne und Günther haben genug davon, in welche Richtung sich der Kotti verändert, es ist einfach nicht mehr sicher hier! Überall liegen die Abfälle der Junkies, die eh an jeder Ecke herumlungern, und die Jungen von Mutlu sind auch nicht mehr so lieb, wie sie als Kleinkinder mal waren. Doch zumindest müssen sie sich nicht wie Stanca um die Miete sorgen: Seit dem Tod ihres Mannes hadert sie, im nach Deutschland gefolgt zu sein, und hat nun einen jungen Studenten zur Untermiete. Sie alle verbindet aber eine Gefahr, die im Verborgenen lauert und ihrer aller Leben ein neues Ende schreiben soll.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Modern Walking Dead

New York Ghost
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„Die Vergangenheit ist ein schwarzes Loch, das wie eine Wunde in die Gegenwart gebohrt wurde, und wenn man ihm zu nahe kommt, wird man hineingezogen. Man muss in Bewegung bleiben.“ (S. 149)

Wenn sie jemand ...

„Die Vergangenheit ist ein schwarzes Loch, das wie eine Wunde in die Gegenwart gebohrt wurde, und wenn man ihm zu nahe kommt, wird man hineingezogen. Man muss in Bewegung bleiben.“ (S. 149)

Wenn sie jemand fragte, was sie in ihrem Leben erreichen möchte – sie wüsste keine Antwort. Beständigkeit vielleicht, Sicherheit, Geborgenheit. Als Kind ist Candace Chen mit ihren Eltern aus China in die USA eingewandert, doch seit sie gestorben sind, hat sie ihrem alten Leben, der Sorglosigkeit, das in den Tag hineinleben und den krassen Partynächten, den Rücken gekehrt. Routiniert, wenn auch ziellos, geht sie gewissenhaft ihrer Arbeit in einem Verlagshaus nach, in dem sie Bibeln produziert, und verbringt die Nächte bei ihrem Freund Jonathan mit Take Away-Essen und Rom Coms. Als er ihr plötzlich eröffnet, New York verlassen zu wollen, stürzt sich Candace aus Frust vollends in die Arbeit, lebt in ihren Routinen, sodass sie gar nicht mehr mitbekommt, was sich draußen eigentlich abspielt: Das Shen-Fieber, ein durch Pilzsporen übertragenes Virus, das in China seinen Ursprung hat, bricht über New York herein. Die Endzeitstimmung ist perfekt: der öffentliche Verkehr steht still, die Menschen fliehen, und es herrscht strenge Maskenpflicht. Doch Candace hat keine Familie mehr in New York, keinen Ort, an den sie gehen könnte, und so bleibt sie in Aussicht einer Prämie im Büro, hält den Betrieb am Laufen. Bald schon ist sie die letzte Verbliebene und dokumentiert das, was von der Stadt, die niemals schläft, übrig geblieben ist auf ihrem Blog „NY Ghost“. Als sie einsehen muss, dass auch sie die Stadt verlassen muss, um zu überleben, schließt sie sich einer Gruppe Überlebender an. Unter der Führung des geltungssüchtigen Bob machen sie sich auf den Weg zu „Der Anlage“, einem Ort, der ihnen – wie Bob verspricht – alles bietet, das sie zum Überleben brauchen würden. So weit, so gut, aber Candace hat kein gutes Gefühl bei der Sache und schmiedet einen Plan.

Zuerst könnte man denken: Ja wow, sehr originell, unser Leben sieht doch gerade ganz ähnlich aus. Doch weit gefehlt: Bereits 2018 veröffentliche Ling Ma ihren Debütroman „Severance“, [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Feuerwerk

Ein Spalt Luft
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„er geht weiter, und er hört nichts,
nicht das geräusch seiner schritte
und nicht das geräusch seines mundes,
wenn er ihn öffnet und schließt.“ (s. 67)

abgeschottet von der außenwelt, eingeschlossen ...

„er geht weiter, und er hört nichts,
nicht das geräusch seiner schritte
und nicht das geräusch seines mundes,
wenn er ihn öffnet und schließt.“ (s. 67)

abgeschottet von der außenwelt, eingeschlossen in einer wohnung, alleine mit seiner mutter, erlebt ein kleiner junge die ersten zwei jahre seines lebens. sie leidet an einer psychose, bleibt alleine, hat keine kontakte zu anderen menschen mehr, auch nicht zum vater des kindes. dieser kämpft unterdessen verzweifelt darum, das alleinige sorgerecht für das gemeinsame kind zu erhalten und erhält recht. in eine neue familie aufgenommen, beginnt ein neues leben für ihn, und der kontakt zur mutter bricht ab – bis er fast zwanzig jahre später erfahren möchte, was damals wirklich passierte. sein vater händigt ihm sämtliche psychologischen gutachten, tonbandkassetten und gerichtsakten aus, die er hat, erzählt davon, wie er die damalige zeit erlebt hat und so setzt sich für den jungen mann nacheinander ein leben zusammen, wie es gewesen sein könnte; ein leben so surreal, irgendwo zwischen realität und albtraum.

in seinem debütroman „ein spalt luft“ berichtet mischa mangel mit starken, einfühlsamen worten sowie einer beeindruckenden vielfalt sprachlicher ideen von anekdoten und prägenden ereignissen aus dem leben eines jungen mannes, der auf der suche nach seiner vergangenheit ist, nach erinnerungen, die er selbst nicht mehr zu rekonstruieren vermag. der autor spielt dabei mit dem satz der worte, den worten selbst und lässt durch das erklingen verschiedener stimmen, etwa dem stotternden vater mit ausgeprägtem dialekt, dem hochsprachlich analysierenden ton eines psychologischen gutachters, dem ausfallenden, lauten geschrei der mutter und nicht zuletzt dem wissbegierigen jungen mann, die verwirrung perfekt werden. erst nacheinander setzen sich die einzelnen puzzleteile logisch zusammen, wird klar, was gegenwart und was vergangenheit ist, was realität und was fiktion sein müsste. über allem schwebt eine dunkle, mysteriöse atmosphäre, die beklemmend wirkt, für sich einnehmend, und so geriet ich schnell in einen sog, der mich bis zuletzt nicht mehr entließ.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Inhaltsvoll

Drei Kameradinnen
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„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. ...

„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.“ (S. 233f)

Ihre Freundschaft ist es, was sie zusammenhält, was sie stärkt, was ihnen niemand wegnehmen kann. Seit ihrer gemeinsamen Jugend in der Siedlung gibt es Hani, Saya und Kasih nur im Dreierpack, und sie wissen alles über die jeweils anderen, über ihre Herkunft und ihre Haltungen. Doch was sie auch eint, sind die Blicke, die Vorurteile, all der menschengemachte Hass, der ihnen überall in der Stadt begegnet, jeder auf ganz unterschiedliche Art, aber doch mit demselben Zunder.

Mit ihrem zweiten Roman setzt Shida Bazyar neue Maßstäbe: „Drei Kameradinnen“ nimmt die Gegenwart glasklar und intensiv auseinander, ist ernüchternd und anklagend in der direkten Ansprache, kompromisslos und einfach unglaublich in der Ausführung. Von der ersten Seite an legt Kasih als Erzählerin ein enormes Tempo vor, gibt zunächst nur bruchstückhaft wieder, was der Ausgangspunkt, der Grund all der Aufregung sei, und erzählt von gegenwärtigen Ereignissen ebenso wie Anekdoten aus der Vergangenheit der drei Frauen, um die Ursprünge und Hintergründe deutlich zu machen. Dieser schnelle, atemlose Stil ist beeindruckend gut umgesetzt, und ich habe zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass ein Einschub nicht stimmig oder gar überflüssig wäre. Leichtfüßig wechselt die Erzählperspektive zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Fiktion und Realität, zwischen persönlicher Ansprache und Beobachterfunktion. Gerade die persönlichen Ansprachen haben etwas Anklagendes, Entlarvendes, das Gänsehaut bereitet, Schamesröte in die Wangen schießen lässt und sogar mit zermürbender Ratlosigkeit ob der eigenen vorgreifenden Gedanken zurücklässt. Noch nie fühlte ich mich so in eine Geschichte eingebunden, und noch lange nachklingend angesprochen, auch wenn hier ein eher negativer Ton anklingt.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Vom Aufstehen
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„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt ...

„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt habe.
Als Erwachsene weiß ich, dass ich Konkurrenten und Neider habe, die hinter meinem Rücken ihre Fallstricke legen.“ (S. 45)

Treffender könnte ein Titel nicht gewählt sein: In „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ erzählt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert in 29 Erzählungen aus ihrem Leben. Nachdenklich und drückend skizziert sie Episoden aus ihrer Kindheit, den Leiden der Nachkriegsgeneration, ihrem Leben als Autorin in der DDR und den damit verbundenen Ängsten und Hindernissen – bis hin zur Mauerfall, der auch in ihr einen Befreiungsschlag auslöste. Man spürt förmlich den Druck, der auf ihren Schultern lastet, den Einfluss der Stasi auf ihr Schaffen, den sie durch die lakonischen Darstellungen, die Wiederholungen erzeugt. Umso freimütiger, leichter – quasi als Aufmunterung, als Hoffnungsschimmer – werden die längeren biographisch-historischen Erzählungen von kurzen Sinneseindrücken, Momenten der Fröhlichkeit, der Wertschätzung des Lebens abgewechselt: So schreibt sie herrlich selbstironisch von den Tücken des Alterns in der modernisierten Welt, von der Hängematte im Garten ihrer Großeltern, von den Düften der Blumen in ihrem Garten. Diese Passagen, die mit klug gesetzten Absätzen und bildhaften Darstellungen Zeit zum Verweilen und Reflektieren geben, haben mir besonders gefallen. Zu diesem Wohlgefühl zuträglich ist, dass alle Erzählungen aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, was die Erlebnisse und Eindrücke noch nachvollziehbarer, empathischer macht. Sie hält sich nicht mit unnötigen Ausschmückungen auf, sondern bringt klar auf den Punkt, was sie ausdrücken möchte, benutzt lediglich Wiederholungen zur Verstärkung, aber beruht sich sonst auf die Aussagekraft des Wortes selbst.

Die Titelgeschichte bildet den krönenden Abschluss des Erzählbandes, der an Schwermut nicht zu übertreffen ist: [...]

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