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Veröffentlicht am 13.05.2021

Inhaltsvoll

Drei Kameradinnen
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„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. ...

„Es gib die Deutschen und das gibt die Flüchtlinge. Uns gibt es in dieser Welt nicht. Hier sind wir weder Deutsch noch Flüchtlinge, wir sprechen nicht die Nachrichten und wir sind nicht die Expertinnen. Wir sind irgendein Joker, von dem sie noch nicht wissen, ob sie ihn einmal zu irgendetwas gebrauchen können.“ (S. 233f)

Ihre Freundschaft ist es, was sie zusammenhält, was sie stärkt, was ihnen niemand wegnehmen kann. Seit ihrer gemeinsamen Jugend in der Siedlung gibt es Hani, Saya und Kasih nur im Dreierpack, und sie wissen alles über die jeweils anderen, über ihre Herkunft und ihre Haltungen. Doch was sie auch eint, sind die Blicke, die Vorurteile, all der menschengemachte Hass, der ihnen überall in der Stadt begegnet, jeder auf ganz unterschiedliche Art, aber doch mit demselben Zunder.

Mit ihrem zweiten Roman setzt Shida Bazyar neue Maßstäbe: „Drei Kameradinnen“ nimmt die Gegenwart glasklar und intensiv auseinander, ist ernüchternd und anklagend in der direkten Ansprache, kompromisslos und einfach unglaublich in der Ausführung. Von der ersten Seite an legt Kasih als Erzählerin ein enormes Tempo vor, gibt zunächst nur bruchstückhaft wieder, was der Ausgangspunkt, der Grund all der Aufregung sei, und erzählt von gegenwärtigen Ereignissen ebenso wie Anekdoten aus der Vergangenheit der drei Frauen, um die Ursprünge und Hintergründe deutlich zu machen. Dieser schnelle, atemlose Stil ist beeindruckend gut umgesetzt, und ich habe zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass ein Einschub nicht stimmig oder gar überflüssig wäre. Leichtfüßig wechselt die Erzählperspektive zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Fiktion und Realität, zwischen persönlicher Ansprache und Beobachterfunktion. Gerade die persönlichen Ansprachen haben etwas Anklagendes, Entlarvendes, das Gänsehaut bereitet, Schamesröte in die Wangen schießen lässt und sogar mit zermürbender Ratlosigkeit ob der eigenen vorgreifenden Gedanken zurücklässt. Noch nie fühlte ich mich so in eine Geschichte eingebunden, und noch lange nachklingend angesprochen, auch wenn hier ein eher negativer Ton anklingt.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Ein Stück Geschichte

Vom Aufstehen
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„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt ...

„Als Erwachsene weiß ich eigentlich, dass ich alles allein machen muss:
Alles selbst einrühren, alles selbst durchstehen, alles selbst ausbaden.
Ich muss die Suppe auslöffeln, die ich mir vorher eingebrockt habe.
Als Erwachsene weiß ich, dass ich Konkurrenten und Neider habe, die hinter meinem Rücken ihre Fallstricke legen.“ (S. 45)

Treffender könnte ein Titel nicht gewählt sein: In „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ erzählt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert in 29 Erzählungen aus ihrem Leben. Nachdenklich und drückend skizziert sie Episoden aus ihrer Kindheit, den Leiden der Nachkriegsgeneration, ihrem Leben als Autorin in der DDR und den damit verbundenen Ängsten und Hindernissen – bis hin zur Mauerfall, der auch in ihr einen Befreiungsschlag auslöste. Man spürt förmlich den Druck, der auf ihren Schultern lastet, den Einfluss der Stasi auf ihr Schaffen, den sie durch die lakonischen Darstellungen, die Wiederholungen erzeugt. Umso freimütiger, leichter – quasi als Aufmunterung, als Hoffnungsschimmer – werden die längeren biographisch-historischen Erzählungen von kurzen Sinneseindrücken, Momenten der Fröhlichkeit, der Wertschätzung des Lebens abgewechselt: So schreibt sie herrlich selbstironisch von den Tücken des Alterns in der modernisierten Welt, von der Hängematte im Garten ihrer Großeltern, von den Düften der Blumen in ihrem Garten. Diese Passagen, die mit klug gesetzten Absätzen und bildhaften Darstellungen Zeit zum Verweilen und Reflektieren geben, haben mir besonders gefallen. Zu diesem Wohlgefühl zuträglich ist, dass alle Erzählungen aus der Ich-Perspektive geschrieben sind, was die Erlebnisse und Eindrücke noch nachvollziehbarer, empathischer macht. Sie hält sich nicht mit unnötigen Ausschmückungen auf, sondern bringt klar auf den Punkt, was sie ausdrücken möchte, benutzt lediglich Wiederholungen zur Verstärkung, aber beruht sich sonst auf die Aussagekraft des Wortes selbst.

Die Titelgeschichte bildet den krönenden Abschluss des Erzählbandes, der an Schwermut nicht zu übertreffen ist: [...]

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Eindrucksvolle Darstellung

Das große Herz
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"Ich habe immer gedacht, ich könnte dich retten, aber vielleicht kann man niemanden vor sich selbst retten. Vielleicht wusstest du die ganze Zeit, dass es nie gehen würde, und nur ich habe geglaubt, du ...

"Ich habe immer gedacht, ich könnte dich retten, aber vielleicht kann man niemanden vor sich selbst retten. Vielleicht wusstest du die ganze Zeit, dass es nie gehen würde, und nur ich habe geglaubt, du würdest es auch wollen." (S. 295)

Als „heile Welt“ würde Jackie ihre Kindheit nicht bezeichnen. Oftmals streiten ihre Eltern, verschwinden plötzlich für einige Tage, trennen sich schließlich. Jackie lebt bei ihrer Mutter Lone, als ihr Vater nach einer weiteren durchzechten Nacht, die das Fass zum Überlaufen brachte, in eine Psychiatrie eingewiesen wird. Damals war sie vierzehn Jahre alt. Jackie besucht ihn fast täglich in Beckomberga, der größten Nervenheilanstalt Schwedens, und erlebt jedes Mal eine Reise ins Zauberland: Schnell fühlt sie sich heimisch, freundet sich mit Sabina, einer anderen jungen Patientin an, die viel Zeit mit ihrem Vater verbringt, führt tiefsinnige Gespräche mit dem Arzt Edvard, der fragwürdige Behandlungsmethoden praktiziert – und lernt den ersten Mann ihres Lebens kennen. Sie lernt ihren Vater von einer anderen Seite kennen, erkennt sein großes Herz und fragt sich, wieso es ihre Familie nicht zusammenhalten konnte.

In ihrem dritten, von der wunderbaren Ursel Allenstein ins Deutsche übersetzten Roman „Das große Herz“ (OT: Beckomberga. Ode till min familj) entfaltet Sara Stridsberg nach und nach, wie es dazu kommen konnte, dass Jackies Eltern sich voneinander entzweiten, das Kind dabei auf der Strecke blieb und jeder seiner Wege ging. In einem Augenblick hell und humorvoll wird schnell klar, dass jede Situation, jede Entscheidung auch ihre dunklen, ihre Schattenseiten hat, und so spielt Sara Stridsberg mit kurzen, prägnanten Episoden aus der Vergangenheit, der Zeit in der Psychiatrie, und der Gegenwart, in der Jackie selbst Mutter ist, mit ihrem Sohn Marion auf Erkundungstour der alten Gemäuer geht. Dort lernte sie selbst, dass die Grenze zwischen Düsternis und Geborgenheit hauchzart ist, sich alles von einem Augenblick zum nächsten schlagartig ändern kann.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Großartig!

Der ehemalige Sohn
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„Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst, aber derzeit rate ich dir - wach nicht auf! Schlaf weiter. Nein, im Ernst, schlaf lieber. Sonst sagst du noch was, und wirst sofort eingesperrt oder ...

„Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst, aber derzeit rate ich dir - wach nicht auf! Schlaf weiter. Nein, im Ernst, schlaf lieber. Sonst sagst du noch was, und wirst sofort eingesperrt oder zusammengeschlagen vor dem Hauseingang. Etwas anderes gibt es nicht in diesem Land. Entweder du hältst die Klappe, oder du kriegst eine auf den Deckel. Das ganze Land schläft, also schlaf auch du ruhig weiter. So beschissen ging's uns noch nie.“ (S. 155f)

Warum zu Hause sitzen und Tonleitern und Partituren üben, wenn man auch draußen das Leben genießen kann? Der 16-jährige Franzisk Lukitsch sollte eigentlich für seine Abschlussprüfungen am Konservatorium lernen, seine Handfertigkeit und Leichtigkeit am Cello verbessern, doch die Aussicht, gemeinsam mit seinen besten Freunden auf ein Festival zu gehen – und dort das Mädchen zu treffen, in das er verliebt ist –, ist um einiges verlockender. Doch als ein unvorhergesehener Wolkenbruch die Menschen in Aufruhr versetzt, entbricht eine Massenpanik, bei der Zisk schwer verletzt wird und schließlich ins Koma versetzt wird. Seine Mutter, seine Freunde, die Ärzte, alle haben ihn von Beginn an aufgegeben, er sei nicht mehr als ein lebloses Stück Gemüse; einzig seine Großmutter ist davon überzeugt, dass er eines Tages aufwache würde und kämpft dafür, dass die ärztliche Versorgung fortgeführt wird. Sie weicht keine Sekunde von seinem Krankenbett, spielt ihm Partituren vor, guckt mit ihm Fußballspiele im Fernsehen, schmückt sein Zimmer mit Fotos und Erinnerungen. Nach zehn Jahren schließlich passiert es wirklich: Franzisk macht die Augen auf und erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint.

In seinem Roman „Der ehemalige Sohn“, von Ruth Altenhofer aus dem Russischen übersetzt, erzählt Sasha Filipenko unter dem Deckmantel des ergreifenden Schicksals eines jungen Mannes von einem politisch gezeichneten Land, das von Aufständen, Gewalt und Unterdrückung betroffen ist. Symbolisch für den Stillstand, für die scheinbare Ausweglosigkeit steht Franzisk, der zehn Jahre im Koma lag, und in dieser Zeit von all dem – zu seinem großen Glück, wie die Großmutter meinte – nichts mitbekommen hat:

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Sehr besonders

Mars
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„Der Tod ist ein Traum, in den man kopflos rennt: Du hast keine Zeit, stehenzubleiben und nachzudenken, da das bedeuten würde, dass du aufwachst.“ (S. 11)

Schonmal darüber nachgedacht, dass es ein Paralleluniversum ...

„Der Tod ist ein Traum, in den man kopflos rennt: Du hast keine Zeit, stehenzubleiben und nachzudenken, da das bedeuten würde, dass du aufwachst.“ (S. 11)

Schonmal darüber nachgedacht, dass es ein Paralleluniversum geben könnte, in dem nichts unmöglich ist? Oder auf dem Mars zu leben, niemals wieder zurück zur Erde zu können, wo es eh nichts mehr gibt, was ein Gefühl von Heimat auslösen könnte?

In „Mars“, einer Sammlung von zehn kurzen Erzählungen, entwirft Asja Bakić neue Realitäten, Welten und Universen, die scheinbar keinen Bezug zur Realität haben, doch im Kern eine bodenständige Moral in sich zu tragen scheinen. Ihre Heldinnen stehen vor Aufgaben, die sie aus ihrer misslichen Lage befreien sollen, der Lüftung eines Geheimnisses näherbringen, oder ihrer wahren Identität auf die Spur verhelfen.

Jeder Geschichte ist eine geheimnisvolle Art inne, eine Mischung aus fantastischen, abscheulichen und Science-Fiction-Elementen. Was zunächst plausibel und natürlich erscheint, erfährt im Verlauf einen abstrusen Plot Twist, der überrascht und aufmerken lässt. Die Leichtigkeit, mit der Asja Bakić intensive Eindrücke in Worte fasst und ihnen das gewisse Etwas verleiht, hat mich gleichermaßen beeindruckt und teilweise auch verschreckt. So erhält jede Heldinnengeschichte eine ganz unterschiedliche Färbung, strahlt Hoffnung aus, Frust oder Verzückung, Aufbruchsstimmung und Handlungsbereitschaft. Besonders gut gefallen haben mir „Reise zum Durmitor“, in der eine junge Frau einen Ausweg aus der Vorhölle sucht, indem sie eine literarische Aufgabe erfüllen muss; „Abby“, die Geschichte einer Frau, die scheinbar ihr Gedächtnis verloren hat; und „Asja 5.0“.

Nicht alle Geschichten konnten mich überzeugen, aber gerade das ist ja das schöne an Kurzgeschichten-Sammlungen: Für jede*n ist etwas dabei! Unbedingt hervorgehoben werden muss aber die sprachliche Qualität der Texte, die sensible Wortwahl, die eindrucksvolle Konstruktion von inhaltlich anspruchsvollen Geschichten auf wenige Seiten beschränkt. Gerne mehr solcher Fantastereien und kurioser Wortreisen! Übersetzt aus dem Kroatischen von Alida Bremer.

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