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Veröffentlicht am 25.06.2023

Ironischer Witz und trostlos in Gütersloh

Mindset
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Sebastian Hotz präsentiert uns in seinem Roman »Mindset« die Geschichte von Maximilian Krach, einem selbst ernannten Missionar des neoliberalen Selbstoptimierungswahns. In fast leeren Tagungsräumen zweitklassiger ...

Sebastian Hotz präsentiert uns in seinem Roman »Mindset« die Geschichte von Maximilian Krach, einem selbst ernannten Missionar des neoliberalen Selbstoptimierungswahns. In fast leeren Tagungsräumen zweitklassiger Hotels versucht Krach, seine Ideologie zu verbreiten. Egal, wie sehr er von Schafen und Wölfen schwadroniert und davon erzählt, wie man sich in einen Wolf verwandeln muss, um voranzukommen – es hilft alles nichts. Sein Social-Media-Auftritt mag zwar Erfolg suggerieren, doch dahinter verbergen sich lediglich bearbeitete Stockfotos. Als der naive Mirko auf diesen Account stößt, träumt er von Glück und Reichtum. Endlich Gütersloh weit hinter sich lassen, der Gedanke macht ihn leichtgläubig. Der Mensch glaubt, was er glauben will. Als er auf Krachs Masche hereinfällt, nimmt die Geschichte ihren Lauf.

Mehr möchte ich zur Handlung nicht verraten, es gibt keine überraschenden Wendungen in dieser vorhersehbaren und geradlinig erzählten Geschichte. Dafür bietet der Roman jedoch zahlreiche Gründe zum Schmunzeln und treffend-lustige Beschreibungen, wie wir es von El Hotzo gewohnt sind und was ich an ihm schätze. Das Buch hat keine Längen, man liest sich gut durch die Geschichte. Aber: Das Ende wirkte etwas konstruiert und zu oberflächlich. Außerdem hätte die Geschichte definitiv ein paar unerwartete Plot-Twists vertragen können. Die Grundidee des Romans ist durchaus interessant, aber in ihrer Umsetzung bleibt sie leider zu vorhersehbar.

Nicht dass ihr mich falsch versteht, das Buch ist rundum amüsant. Hotz nimmt gekonnt das ganze Gequatsche über Mindset, den Glauben daran, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei und dass man alles erreichen könne, aufs Korn. Mit ironischem Witz hinterfragt er die Ideen hinter der neoliberalen Selbstausbeutungslogik und regt zum Nachdenken über die Möglichkeiten innerhalb unserer Wirtschaftsordnung und Gesellschaft an. Rennen wir nicht alle – wie Esel mit der Karotte vor der Nase – dem Erfolg hinterher? Ein weiteres gelungenes Element des Romans ist Hotz‘ Fähigkeit, die Trostlosigkeit von Städten wie Gütersloh und Mühlheim an der Ruhr auf greifbare Weise darzustellen. Die deprimierende Atmosphäre dieser Orte wird förmlich spürbar.

Trotz aller Kritik spreche ich eine Leseempfehlung für »Mindset« aus, jedoch mit der Einschränkung, dass man keine literarisch anspruchsvolle Erzählung erwarten sollte. Das Buch bietet solide Unterhaltung und regt zum Nachdenken an, aber es fehlt an tiefergehender Komplexität und unerwarteten Wendungen, der Stoff hätte es hergegeben. Dennoch verdient es seinen Ehrenplatz im Regal, denn manchmal sind Bücher auch dann gut, wenn sie keine literarischen Meisterwerke sind.

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Veröffentlicht am 22.06.2023

Amüsante, intelligente Unterhaltung

Alles Arschlöcher überall
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»Alles Arschlöcher überall« hat mich sofort gepackt und von von Anfang bis Ende gefesselt. Jan Bratenstein entführt uns in das Setting einer kleinen Kneipe, in der sich eine faszinierende Geschichte entfaltet, ...

»Alles Arschlöcher überall« hat mich sofort gepackt und von von Anfang bis Ende gefesselt. Jan Bratenstein entführt uns in das Setting einer kleinen Kneipe, in der sich eine faszinierende Geschichte entfaltet, die in nur einer einzigen Nacht spielt.
Der ortsfremde Klarinettist Tom Peter sucht nach einem Konzert einen ruhigen Ort zum Entspannen und findet diesen scheinbar im Café Exquisit. Was als erholsamer Abend beginnt, wird zum Albtraum, als eine Gruppe von Nazis zuerst im Lokal pöbelt und anschließend das Lokal belagert.

Bratenstein zeichnet herrliche Charaktere, die er mit feinster satirischer Überzeichnung ausstattet. Er beobachtet die Menschen vor und in der Kneipe genau und zeigt uns an die Verflechtungen von Polizei, Politik und der bedrohlichen braunen Suppe. In dieser Kleinstadt treffen wir auf Überzeugungstäter auf beiden Seiten des Konflikts, Stimmen der Vernunft, die zur Ruhe mahnen, und opportunistische Figuren, die ihre eigenen Interessen verfolgen. Sie alle sind auf ihre eigene Art und Weise miteinander verbunden, und der Autor zeigt auf meisterhafte Weise die komplexe Dynamik zwischen ihnen auf.

Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Spannung, die Bratenstein in seinem Buch erzeugt, obwohl die Figuren sich kaum von der Stelle bewegen. Mit seinem markanten Erzählstil und außergewöhnlich prägnanten Figurenstimmen zieht er uns in den Bann der Geschichte. Schon nach den ersten Seiten war es mir unmöglich, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Ich fühlte mich sofort in die Geschichte hineingezogen und möchte unbedingt erfahren, wie sich die Situation weiterentwickelt und welche Konsequenzen sie haben wird.

»Alles Arschlöcher überall« ist jedoch nicht nur ein unterhaltsames Buch, sondern auch ein Plädoyer für Verständnis. Jan Bratenstein zeigt auf eindringliche und humorvolle Weise, dass viele Probleme aus der Welt geschaffen werden können, wenn man bereit ist, miteinander zu reden und Vorurteile abzubauen. Es gelingt ihm, humorvoll und dennoch tiefgründig zu vermitteln, dass Kommunikation und gegenseitiges Verständnis die Schlüssel zur Lösung von Konflikten sind.

Jan Bratenstein hat mit »Alles Arschlöcher überall« ein außergewöhnliches Buch geschrieben, das sowohl zum Nachdenken anregt als auch bestens unterhält. Sein talentierter Erzählstil und die scharfsinnigen Charakterzeichnungen machen das Lesen zu einem einzigartigen Erlebnis. Ich kann dieses Buch uneingeschränkt empfehlen und es allen Leserinnen und Lesern nahelegen, die amüsante und zugleich intelligente Literatur zu schätzen wissen. »Alles Arschlöcher überall« hat mich überrascht und mich begeistert zurückgelassen. Es wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Charakterstudien im Altpapier

Das glückliche Geheimnis
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Was treibt einen Bestsellerautor an, über ein viertel Jahrhundert hinweg die Altpapiertonnen Wiens zu durchsuchen? Wenn man Arno Geigers Buch in die Hand nimmt, stellt man sich zwangsläufig diese Frage. ...

Was treibt einen Bestsellerautor an, über ein viertel Jahrhundert hinweg die Altpapiertonnen Wiens zu durchsuchen? Wenn man Arno Geigers Buch in die Hand nimmt, stellt man sich zwangsläufig diese Frage. Insofern ist dem preisbewehrten österreichischen Literaten mit seinem neuesten Buch, das jüngst bei Hanser erschienen ist, ein Coup gelungen.
Seine morgendlichen Streifzüge waren, für den stets monetär klammen Jungautor, anfangs eine Möglichkeit an Bücher zu kommen. Die restlichen Bücher verkauft er auf dem Flohmarkt, was ihm den Lebensunterhalt sicherte. Später sammelt er auch Notizzettel, Briefe und Tagebücher, die er mit besonderer Hingabe liest.
In Arno Geigers Romanen werden die Charaktere so tief und authentisch dargestellt, dass man das Gefühl hat, der Autor müsse die Erlebnisse selbst erlebt haben. Wie sonst kann man sonst so unterschiedliche Figuren, wie Sally (eine 50-jährige Frau in »Alles über Sally«) oder Veit (ein 23-jähriger Soldat im Krieg) so lebendig erschaffen? Das können nur wenige. Jetzt ist es raus, es war sein »glückliches Geheimnis«, das Lesen fremder Briefe und Tagebücher, die ihm eine solche Menschenkenntnis erlangen ließen. So haben die Streifzüge auf der Suche nach etwas Interessantem nicht nur den Autor, sondern auch viele Leser glücklich gemacht. Und doch, an dieser Stelle bleibt bei mir ein schaler Nachgeschmack. Bücher aus dem Altpapier ziehen ist das Eine. Aber Briefe und Tagebücher herauszusuchen und derart Privates zu lesen, das halte ich moralisch für bedenklich. Da helfen auch die Rechtfertigungen nichts, die Menschen hätten sich davon gelöst und es genau deshalb weggeworfen. Das ist ein heimliches Eindringen in die Privatsphäre anderer Menschen. Doch vielleicht ist das eine erfundene Geschichte, schließlich schreibt Geiger literarisch, also fiktiv. Wer weiß das schon.
Geigers Werk erzählt eine Geschichte, die man nicht aus der Hand legen möchte, und gibt dabei interessante Einblicke in gesellschaftliche Änderungen und tiefe Einblicke in ein Schriftstellerleben. Es wirkt fast so, als wenn der Autor nun, mit 54 Jahren, auf sein Leben zurückblickt, auf einen steinigen Weg, den er gegangen ist. Es ist, als wenn er Bilanz zieht. – nicht nur über das Schreiben, auch über sein Liebesleben. Und so ist es auch eine ungewöhnliche Liebeserklärung an K., seine Frau.
Er erzählt von den Zweifeln, ja der Verzweiflung, dem unbedingten Willen vom Schreiben zu leben, vom Glück, von Erfolgen, Rückschlägen und Niederlagen. Von Menschen, die an ihn und sein Talent glauben und denen, die es nicht tun. Auf seinen großen Durchbruch folgt der Zusammenbruch, er ist ausgebrannt. Und so ist dieses Buch fast eine Art »anderer Schreibratgeber«, eines, das man jedem schreibenden Menschen nur empfehlen kann.
Und noch etwas zeigt dieses Buch. Als der Autor mit seinen Streifzügen begann, da fanden sich viele private Notizen, Briefe und Tagebücher zwischen dem Papier. Im Laufe der Jahre wurden es weniger, die elektronische Kommunikation zog in unser Gesellschaftsleben ein. Geschriebenes wurde weniger weggeworfen, es reichte, es mit einem Mausklick zu löschen. Waren es anfangs auffallend viele Liebesromane, die im Müll landeten, so waren es später mehr Kriminalromane. Auch Archäologen suchen im Müll alter Gesellschaften um diese zu verstehen. In gewisser Weise liegt im Müll das Wissen. So ganz nebenbei hat Arno Geiger auch ein Zeitzeugnis, einer Gesellschaft im Wandel geschrieben. Und auch mit der Vergänglichkeit seines eigenen Erfolgs wird der Autor konfrontiert. Eines Tages zieht er ein abgegriffenes Exemplar seines Bestsellers »Es geht uns gut« aus dem Altpapier.

Fazit
Ein Buch, dass zu lesen lohnt! Einfühlsam, frei von gekünstelten und theatralischen Formulierungen, erzählt Arno Geiger seine Geschichte mit starken Wortbildern. Dafür gibt’s eine klare Leseempfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Lektionen eines Lebens

Lektionen
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or über 120 Jahren erschien »Buddenbrooks: Verfall einer Familie« von Thomas Mann. Ein ganz anderes Buch, als dieses hier und doch musste ich beim Lesen von »Lektionen« ständig an Buddenbrooks denken.
Es ...

or über 120 Jahren erschien »Buddenbrooks: Verfall einer Familie« von Thomas Mann. Ein ganz anderes Buch, als dieses hier und doch musste ich beim Lesen von »Lektionen« ständig an Buddenbrooks denken.
Es war nicht nur der Umfang von über 700 Seiten, der ähnlich ist, beide Romane handeln über die Dauer eines ganzen Menschenlebens. »Lektionen« hat das Zeug dauerhaft in die Literaturgeschichte einzugehen.

Es beginnt mit einer Erinnerung, des Protagonisten, Roland Baines. Es ist die Erinnerung an eine Klavierstunde, die Einfluss auf sein ganzes restliches Leben haben wird.
Tatsächlich spielt der Roman ab dem Jahr 1986. Roland wurde gerade von seiner Frau verlassen und über Europa breitet sich die nukleare Wolke von Tschernobyl aus. Er wird kurz des Mordes an seiner glücksuchenden Frau verdächtigt, bleibt letztendlich mit dem Baby zurück und wir begleiten ihn durch die kommenden Jahrzehnte.
Ian McEwan erzählt auch die scheinbar banalen Ereignisse in Rolands Leben auf eine Art, die fesselnd ist, einen fast zwingt weiterzulesen. Es ist kein Roman, der gewaltig angerauscht kommt, sondern einer, dessen Geschichte sich langsam entfaltet. Von Tschernobyl über den Falklandkrieg und den Mauerfall bis hin zu Corona führt er uns durch Baines’ Leben. Über allem steht die Frage: Welche Lektionen prägen ein Menschenleben? Wie beeinflussen einzelne Entscheidungen unser Leben? Bei der Lektüre dieses Buchs bekommt man das Gefühl das Leben zu verstehen. McEwan bringt uns das sowohl für die einzelnen Personen, wie auch für globale und historische Ereignisse nahe. Der Zusammenhang von Persönlichem und Politischem wird fast überdeutlich.

Es ist auch eine Geschichte von Liebe und ihrer Vergänglichkeit und von Missbrauch. Es drängt sich das Gefühl auf, hier hat einer sein Leben autofiktional erzählt. Es zeigen sich deutliche Parallelen zu McEwans Biografie. Und Missbrauch ist nicht zum ersten Mal ein Thema in seinem Werk.

Der Autor hat die Figuren tief gezeichnet und es sind starke Konflikte vorhanden – so wie wir es vom Autor kennen. Insgesamt ist es ein ungewöhnlicher McEwan, ich halte »Lektionen« für sein tiefgehendstes Werk. Der Autor ist ja auch nicht mehr der Jüngste und hat hier die Weisheit eines ganzen Lebens in ein Literaturwerk gepackt, dass es verdient hat in 100 Jahren ein Klassiker zu sein. Auf wenigen Seiten kam mir das Buch etwas langatmig vor. Aber was machen diese wenigen Seiten schon bei über 700 aus? Bei Buddenbrocks war es mehr!

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Das fiktive Leben des Louis Chabos

Sein Sohn
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»Sein Sohn« erzählt das fiktive Leben des Louis Chabos, der 1794 als Baby in ein Mailänder Waisenhaus gebracht wird. Die Kosten der Unterkunft wurden bei der Abgabe gleich für die folgenden 18 Jahre beglichen. ...

»Sein Sohn« erzählt das fiktive Leben des Louis Chabos, der 1794 als Baby in ein Mailänder Waisenhaus gebracht wird. Die Kosten der Unterkunft wurden bei der Abgabe gleich für die folgenden 18 Jahre beglichen. Dies ist der Start in ein ereignisreiches Leben, an dem uns Lewinsky teilhaben lässt.
Poetisch, mit kräftigen Worten schildert der Autor den Werdegang des Protagonisten und gibt eidetische Einblicke in das Leben des frühen 19. Jahrhunderts.
In einem spektakulären Plot zieht er als Vagabund umher, landet im Gefängnis, kann fliehen und nimmt an Napoleons Russlandfeldzug teil und danach folgt die Suche nach den Eltern, seinen Wurzeln, seiner Herkunft. Und das ist auch das große Thema des Romans:
Die Suche nach den eigenen Wurzeln, die Zweifel und Nöte, die eine unbekannte Herkunft mit sich bringt. Aber dieses Buch zeigt auch, dass es nicht unbedingt Erlösung bringt, die eigene Abstammung dann aufzuklären. Die Begegnung mit der Mutter ist mehr als verstörend und die weitere Suche nach dem Vater führt zu einem Ergebnis, dass Louis enttäuscht und wütend macht. So wütend, dass er einen entsetzlichen Plan fasst, der wiederum uns Leser verstören könnte. Wohlgemerkt könnte und nicht kann, denn Lewinsky fädelt Louis Beweggründe so geschickt in die Geschichte ein, dass wir sein Handeln nachvollziehen können – es sogar für die logische Auflösung halten. Mehr kann ich dazu nicht sagen, ich will ja nicht spoilern.
Eindrucksvoll empfand ich auch die Schilderungen der Zustände im Kinderheim und die der Schrecken des Krieges. In all diese Begebenheiten sind historische Fakten sorgsam eingearbeitet. Das gibt dem Roman einen besonderen Reiz, wenn man sich etwas in der Geschichte jener Zeit auskennt, allerdings tut es der Geschichte keinen Abbruch, wenn man geschichtlich uninteressiert ist.

Lewinskys Erzählweise ist beeindruckend. Die schnellen und häufigen Wechsel des Sprachtempos, aber immer stimmig mit der Handlung, schaffen eine eigene Spannung. Es war wieder eines jener Bücher, die ich gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Dieser Roman wirkt auch nach dem Lesen nach, es ist vor allem die unbeirrbare, hartnäckige Suche nach der eigenen Herkunft, die mich noch immer beschäftigt.

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