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Veröffentlicht am 05.05.2024

Ein Manuha der Extraklasse

Dao - Der Weg
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„Dao - Der Weg“ der chinesischen Tuschemalerin Cai Mogu de Sima Gonggong ist ein Manuha der Extraklasse. Reden wir erst einmal über die Qualität der Optik! DIN A4 Format, schweres Papier, Glanzoptik, komplett ...

„Dao - Der Weg“ der chinesischen Tuschemalerin Cai Mogu de Sima Gonggong ist ein Manuha der Extraklasse. Reden wir erst einmal über die Qualität der Optik! DIN A4 Format, schweres Papier, Glanzoptik, komplett zweisprachig, wirkt nahezu wie ein Kunstband, ich bin absolut begeistert, einfach so wertig ausgestattet! Die Zeichnungen und Malereien sind düster in dunklen und Sepia-Farben gehalten, dabei ist jedes einzelne Bild ein Kunstwerk für sich, ich könnte mir sofort vorstellen, diese Bilder in groß an die Wand zu hängen, einen ganzen Palast voll damit, so viel Kunst steckt in diesem Band und in jedem einzelnen Bild, ich bin wirklich beeindruckt. Wie viel Zeit muss da drin stecken. So etwas hatte ich so noch nicht in den Händen. Das Buch richtet sich an Erwachsene und Jugendliche, was zu den darin enthaltenen Märchen gut passt, denn diese sind zugegeben durchaus grausam und gruselig, ein Effekt, der sich durch die perfekte zeichnerische Umsetzung noch steigert.
Aus der deutschen Perspektive heraus betrachtet, ist es spannend, wie viel Assoziationen und Ähnlichkeit mit gängigen Märchen und Erzählungen unserer Kultur vorhanden sind, der Struwelpeter, Wilhelm Busch, Märchen wie Rotkäppchen, Rumpelstilzchen, Hänsel und Gretel und viele mehr drängen sich sofort auf. Das liegt natürlich an der Archetypischen Konstruktion von Märchen, ist hier aber besonders gut sichtbar. Inhaltlich erzählt das Buch alte Legenden und Schauergeschichten aus der Zeit der Qing-Dynastie, die den Kindern erzählt wurden, um sie zu größerem Gehorsam zu erziehen. Interessanterweise interpretiert die lesende Person die Märchen durch die Zeichnungen aber sofort auf die heutige Gesellschaft, Themen wie die Große Chinesische Hungersnot, der Brauthandel, die Ein-Kind-Politik sind sofort im Raum. Besonders großartig neben den 5 Streichen ist die Extrageschichte am Ende des Buches, die nicht umsonst Preise verliehen bekam, unfassbar toll gezeichnet und so viel Raum für die eigene Phantasie. Im hinteren Teil des Buches findet sich auch ein Extrakapitel über die Hauptfiguren: Hier erst erschließt sich mehr über „Die Feen-Fünf“ – ich hätte mir da eine andere Reihenfolge gewünscht, würde das in der deutschen Fassung dem Buch voranstellen. Hier hat mir auf jeden Fall der kulturelle Hintergrund gefehlt, der sich dann durch diese Informationen erst ergibt und ganz viel erklärt. Ich fand es sehr schön, dass es dann quasi noch ein paar Fotos aus dem Familienalbum gibt. Nicht zu vergessen die Selbstdarstellung des Autors – rasend sympathisch und große Schmunzelanfälle verursachend!
Fazit: Dieses extrem hochwertige Manuha gibt einen ganz besonderen Einblick in eine mir fremde Kultur, durch den ich viel gelernt habe und zeitgleich bestens unterhalten wurde. Und gäbe es einen Nobelpreis für Kunst, würde ich den für die einzigartigen Tuschezeichnungen unbedingt verleihen wollen.

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Veröffentlicht am 04.05.2024

Insgesamt leider nicht überzeugend

Was der See birgt
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„Was der See birgt“, der Auftakt einer neuen Krimireihe aus der schon bewährten Feder von Lenz Koppelstätter, erschienen bei Kiepenheuer und Witsch, besticht zunächst durch seine tolle Gestaltung: Auf ...

„Was der See birgt“, der Auftakt einer neuen Krimireihe aus der schon bewährten Feder von Lenz Koppelstätter, erschienen bei Kiepenheuer und Witsch, besticht zunächst durch seine tolle Gestaltung: Auf dem Cover natürlich der Gardasee, sich über Vorder- und Rückseite sowie Buchrücken erstreckend, an dessen Rand Gebirge drohend aufragen und dunkle Wolken ein Himmelsspektakel formen, im Faltumschlag innen dann eine Landkarte des Sees und der relevanten Orte, richtig schön gemacht!
Handlungsort ist Riva am Nordufer des Gardasees (wirklich toll, die Landkarte!), dort hat die ambitionierte Polizeireporterin Gianna Pitti, Vasco Rossi Fan und gerne mal ein auf der Seite des Dolce Vita unterwegs, es mit gleich zwei Stürmen zu tun: Der eine tobt nach einer durchgemachten Nacht in ihrem Kopf, der andere zieht ganz real über dem Gardasee auf. Und wie bei Shakespeare so auch hier: Sturm in der Natur bedeutet immer auch Sturm im System. Eine Leiche im Hafenwasser – eigentlich ja ein Geschenk für eine umtriebige Polizeireporterin, wäre es nicht dummerweise, wie sie durch eine nicht ganz legale Aktion herausfindet, ein Bekannter, ein naher Bekannter, vielleicht sogar ein sehr naher Bekannter – und schon nimmt das Chaos seinen Lauf.
Gianna Pitti ist sofort sympathisch, eben weil sie all das nicht ist, was die klassische weibliche Protagonistin in einem Krimi ausmacht: Tough, gefühlskalt, strukturiert, erfolgreich... Sie ermittelt eher auf ihre sehr eigene Art und findet dabei Hilfe bei ihrer Chefin Elvira und ihrem Onkel, dem „Marchese“ Francesco. Auch diese beiden sind toll gezeichnete Charaktere, die einem ans Herz wachsen. Eine gute Ausgangsbasis also für eine neue Krimireihe, zumal Koppelstätter wirklich viel Lokalkolorit sehr elegant einbringt?
Leider enden hier auch schon die positiven Faktoren, denn der Krimi krankt sehr an einer schlechten dramaturgischen Aufteilung. In der ersten Hälfte wird unglaublich ausgedehnt erzählt, so dass kaum Spannung aufkommt, der Fall immer mehr aus dem Fokus rückt und die lesende Person sich streckenweise in einem Heimatroman wähnt. In der zweiten Hälfte zieht das Erzähltempo dann sprunghaft an, es steigern sich aber auch die Unwahrscheinlichkeiten und da der Klappentext wichtige Handlungselemente spoilert – was ist das los, lieber Verlag? Warum tut man sowas einem Autor an? – kommt immernoch nicht wirklich viel Überraschung auf, trotz jeder Menge konstruierter Wendungen. In einem enorm langen Showdown wird dann auf den letzten Seiten so viel Information und Auflösung geballert, dass der Überblick teilweise verloren geht. Ein Ende im Hauruckverfahren, das versucht, einen Cliffhanger zum nächsten Band zu konstruieren – doch auch der ist relativ offensichtlich gebaut. Ich hatte mir ehrlich gesagt ein bisschen mehr erwartet. Die Schilderungen vom Gardasee und der Lokalkolorit sind gut gelungen, aber die Story ist leider schwach und zeigt einige Lücken. Von einem erfahrenen Krimiautor ist das eine nicht überzeugende Leistung.
Hab jetzt Lust auf Urlaub am Gardasee – aber nehme mir dann wahrscheinlich andere Bücher mit.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de sowie Kiepenheuer & Witsch für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 03.05.2024

Solider Thriller ohne große Überraschungen

Die Stille der Flut
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„Die Stille der Flut“, der Auftakt zu einer neuen Kriminalromanreihe, geschrieben in gemeinsamer Autorinnenschaft von Anna Johannsen und Elke Bergsma, spielt in der Kreisstadt Aurich in Ostfriesland. ...

„Die Stille der Flut“, der Auftakt zu einer neuen Kriminalromanreihe, geschrieben in gemeinsamer Autorinnenschaft von Anna Johannsen und Elke Bergsma, spielt in der Kreisstadt Aurich in Ostfriesland. Der Einstieg ins Buch ist relativ spröde geschrieben. Die beiden Hauptfiguren Lina und Kea werden doch sehr dramaturgisch eingeführt, geballt, fast listenhaft werden alle wichtigen Informationen über die beiden in kurze Kapitel gedrängt. Dabei ist die Figurenkonstruktion recht klischeehaft: Lina versammelt ungefähr alle möglichen Traumata in sich, die mensch sich nur vorstellen kann, ihr Gegenüber Kea ist die klassisch überforderte Mutter von Teenies, in einer schwierigen Trennung lebend, verknallt in ihren Arbeitskollegen und der auch in sie, aber geht natürlich nicht, die beste Freundin ist natürlich auch noch gestorben, die neue Freundin nur ein billiger Ersatz. Das ist alles sehr durchsichtig am Reißbrett gebaut und wird nicht viel Überraschung bergen. Natürlich sind beide auf ihre Art Karrieristinnen, Lina überehrgeizig (beweisen, dass sie was kann und wert ist, auch das sehr durchsichtig konstruiert nach dem Lehrbuch Psychologie), Kea eher Underachieverin und jetzt endlich ihre Chance sehend. Viel Kampfpotenzial also zwischen den zwei Frauen, zumal Kea als Polizistin zu Recht spürt, dass an der Neuen etwas nicht ganz sauber ist und Lina wiederum zu Recht damit kämpft, sich nicht wirklich auf das Team einlassen zu können. Ganz gut eingewoben wird dafür die richtige Dosis Lokalkolorit, das ist nicht aufdringlich gemacht und setzt doch klar eine Atmosphäre. Schriftstellerisch sehr spannend finde ich die doppelte Ich-Perspektive, das ist sehr ungewöhnlich und beim Lesen oft auch herausfordernd, sich zu merken, welches Ich gerade schreibt, aber das finde ich mal eine tolle Idee! Habe mich sofort gefragt, ob die Autorinnen jeweils einen Strang der Geschichte geschrieben haben nach gemeinsamem Plotting? Leider krankt die Idee daran, dass sich hier handwerklich nicht die Mühe gemacht wurde, eine klare Figurensprache zu entwickeln, wodurch die lesende Person ständig zurückblättern muss, um zu wissen, wer hier gerade nochmal spricht.
Die Handlung kommt auf jeden Fall gut im Schwung, ist zwar auch recht klar konstruiert, aber grundsätzlich gut gemacht und logisch, folgt meistens auch einen ganz guten Spannungsbogen. Linas Auftrag, einen Maulwurf zu enttarnen, rückt neben den Ermittlungen an einem aktuellen Mordfall dabei immer weiter in den Hintergrund. Es gibt ein paar gleichwertige Verdächtige im Raum für die Position des Maulwurfs, das ist ganz geschickt gemacht, wie die wechselseitig in den Fokus gerückt werden. Lina kommt zunehmend besser in Aurich an und taucht tiefer in die Strukturen ein. Dafür, dass sie Undercover ermitteln soll, geht sie mir viel zu sehr nach vorn in die Präsenz, das erscheint mir sehr unprofessionell und sie unterschätzt meiner Meinung nach die Struktur einer Mittelstadt von 40.000 Einwohnern – da ist schnell rum im Milieu, wenn jemand neu auftaucht. Solche Nachlässigkeiten häufen sich im Verlauf des Krimis, es gibt viele kleine Unstimmigkeiten und unglaubwürdige Konstruktionen, die mich immer wieder haben stolpern lassen. Das kulminiert am Ende des Romans in einer Verfolgungsjagd, die so viele logische Fehler beinhaltet, dass meine Spanungskurve gegen Null ging. Gut gefallen hat mir die Loverboy-Thematik, ein leider aktuelles Thema, zu dem noch nicht viel Bewusstsein in unserer Gesellschaft herrscht. Auch die zunehmende Verknüpfung des aktuellen Mordfalls mit dem Ausgangsgrund für Linas Versetzung, einem Drogenkartell und einem dazugehörigen Maulwurf, ist gut gemacht.
Alles im allen ein halbwegs solider Thriller also, aber auch kein Kracher, sehr deutlich in der Oberflächenkonstruktion und daher mit wenig Überraschungen aufwartend, geschrieben vor allem mit dem Ziel einer Fortsetzung. Den Folgeband würde ich wohl lesen, aber nur, weil mich die weitere Geschichte der beiden Frauen miteinander interessiert.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de sowie Edition M für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 03.05.2024

Geht nicht in den Buchladen. Lauft. Rennt!

Zuckerbrot
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Das Tolle an Rezensionsexemplaren ist, dass man dadurch immer wieder Bücher liest, die normalerweise im Buchhandlungsregal stehengeblieben werden. Ein solch überraschender Glückgriff ist für mich „Zuckerbrot“ ...

Das Tolle an Rezensionsexemplaren ist, dass man dadurch immer wieder Bücher liest, die normalerweise im Buchhandlungsregal stehengeblieben werden. Ein solch überraschender Glückgriff ist für mich „Zuckerbrot“ von Balli Kaur Jaswal. Das Cover in warmen Orangetönen gepaart mit einem lila Buchrücken und Lesebändchen vermittelt so viel Wohlfühlatmosphäre, gepaart mit einer Familiengeschichte, die in der Punjabregion spielt, eine Kultur, zu der ich trotz Verwandten in eben dieser Region sehr wenig Verbindung habe und bei der ich bei Büchern immer – alle Vorurteile auf meiner Seite – Bollywoodromantik vermute, dass ich das Buch wahrscheinlich nicht in meinen Warenkorb hätte wandern lassen. Dumm von mir, denn Zuckerbrot ist ein wundervolles Buch, ja, auch zum Wohlfühlen, aber eben absolut nicht nur. Und es bringt der lesenden Person nicht nur eine Kultur, sondern vor allem das Leben, die Klüfte zwischen Generationen, die Verbindung, die das Blut doch schafft, sowie auch die Grenzen, die wir manchmal zu früh setzen, auf sehr lebendige Art und Weise näher.
Lebendig ist eine perfekte Überleitung, denn sehr lebendig startet mensch auch ins Buch und wird sofort hineingeworfen in die Atmosphäre Singapurs, mit seinem einerseits so maximal geordneten Alltag, den vielen Regeln, der extremen Sauberkeit, den klaren Familienstrukturen und abseits davon den dann doch chaotisch-lauten, überbordenden Märkten und all dem, was unter der Ordnung brodelt. Hier in Singapur wächst Pin, in der Haupthandlung zehn Jahre alt und weiblich gelesen, auf – mit ihrer Mutter, die sie regelmäßig daran erinnert, bitte nicht so zu werden wie sie, eine Mutter, die anders als Pin extrem auf sich und ihre Erscheinung achtet, und ihrem Vater, der zu wenig Geld von der Arbeit nach Hause bringt, ein Pragmatiker ist, wie er im Buche steht, aber auch ein Fels in der Brandung, ein kleiner Fels, und der nichts lieber tut, als dem Loseglücksspiel zu frönen, denn irgendwann muss der große Gewinn ja kommen. Pin hat das Problem, das viele Kinder haben: Zu viele Rätsel bei diesen komischen Erwachsenen, die einem Kind nicht erklärt werden. Warum soll sie nicht werden, wie die Mutter, was ist vorgefallen zwischen dieser und deren Mutter, die nun in die beengte Wohnung der Kleinfamilie einziehen wird, warum ist ihr Vater so verständnisvoll für all die Launen der Mutter, wieso gibt es so viel Streit mit der Verwandtschaft, und, wichtige Frage: Warum kocht ihre Mutter ihre Stimmungen? Die ersten Kapitel geben wenig Antworten und stellen viele offene Fragen in den Raum, aber über allem liegt eine unglaubliche Nähe und Wärme, obwohl die Figuren wie kleine Solitäre nebeneinanderher kreisen. Was es mit dem Titel auf sich hat, wird früh geklärt (fast schon schade), wofür er symbolisch steht, entpuppt sich erst mit der Zeit.
Das Buch spielt auf verschiedenen Zeitebenen. Auf der ersten, 1990, erleben wir, dass die 10jährige Pin nicht nur die schon genannten Schwierigkeiten hat, leider sieht sie sich zusätzlich als Stipendiatin an einer Eliteschule, die finanziell nicht mithalten kann und als Inderin in Singapur, die dem Glauben der Sikhs angehört, jeden Tag mit Rassismus, Ausgrenzung, Verachtung und viel Einsamkeit konfrontiert. Selbst beim Fußballspielen mit den Jungs darf sie nur auf den Platz, wenn einer der anderen nicht mehr kann oder sich verletzt. Als ihre Großmutter zu ihnen in die beengte Wohnung zieht, zieht mit ihr auch die Vergangenheit von Pins Mutter ein und Pin verliert nicht nur ihr Zimmer, das sie fortan mit der Großmutter teilen muss, sie verliert auch die Düfte, die durch die Wohnung ziehen, wenn ihre Mutter kocht und an denen sie deren Stimmung erkennen kann, sie verliert auf eine Art ihre Kindheit, weil sie dem Geheimnis ihrer Mutter nicht mehr entgehen kann. Die Haut ihrer Mutter, die an Neurodermitis leidet, ist ein Spiegel dieser Entwicklung, blutrot wird sie und der Ausschlag wird immer heftiger. Mit der Großmutter zieht auch noch etwas anderes ein: „... ein furchtbares Schweigen, als ob etwas in unsere Wohnung eingedrungen wäre und alle Geräusche hinausgesaugt hatten.“
Auf der zweiten Zeitebene, 1967, lernen wir Pins Mutter Jini als Kind kennen, die Pin in dem Alter verblüffend ähnelt. Langsam entblättert sich, was dazu führte, dass Jini 1990 doch ganz anders wirkt als Pin und wieso das Verhältnis zu Pins Großmutter und zum Rest der Familie so unglaublich angespannt ist. Über all dem schwebt Gott – zu dem Pin nun wiederum ein sehr angespanntes Verhältnis hat, das die Autorin Balli Kaur Jaswal mit einer so wundervollen Komik wiedergibt, dass ich sie einfach nur dafür Knutschen könnte. Dennoch liegt unter der Komik auch viel Ernst, denn deutlich zeigt sie auch auf, warum Kinder und Religion eine ganz zerstörerische Kombi sein können.
Gemeinsam mit Pin und Jini reisen wir auch noch in andere Jahre ihres Lebens, aber noch mehr soll hier nicht verraten werden. Denn dieses Buch ist eine Entdeckung, sollte auf keinem Fall im Bücherladenregal versauern und muss, MUSS! unbedingt von ganz vielen Menschen gelesen werden. Es ist ein herzerwärmendes Plädoyer FÜR das Miteinandern, für das miteinander reden, gegen das Schweigen, für einen Gott, der Erbarmen hat, wenn es ihn denn schon braucht, für das Zuhören und den Glauben, aber nicht den an egal welchen Gott, sondern den Glauben aneinander. Und ganz nebenher ist es auch noch ein Buch gegen Alltagsrassismus, gegen Ausgrenzung und Intoleranz, aber: Das bemerkt mensch gar nicht, was eine weitere Leistung dieses einfach nur zu schätzenden Buches ist. Geht nicht in den Buchladen. Lauft. Rennt!

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Veröffentlicht am 29.04.2024

Chance verpasst

Die Telefonistinnen - Stunden des Glücks
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„Die Telefonistinnen – Stunden des Glücks“ von Nadine Schojer, erschienen 2024 im Bastei Lübbe Verlag, der Auftakt zu einer neuen Frauenromanreihe, die in der Nachkriegszeit spielt, startet entspannt mit ...

„Die Telefonistinnen – Stunden des Glücks“ von Nadine Schojer, erschienen 2024 im Bastei Lübbe Verlag, der Auftakt zu einer neuen Frauenromanreihe, die in der Nachkriegszeit spielt, startet entspannt mit einer Warteszene auf die D-Mark und viel Kölner Lokalkolorit – weitestgehend gut eingebettet, insgesamt war es mir dann doch ein bisschen viel Geschichtsreferat „Die prägenden Ereignisse der Kölner Nachkriegszeit“ – zumal die Autorin eigentlich nur Wissen bemüht, dass Wikipedia und andere auch schnell hergeben.
Die Figuren werden nach und nach in die Handlung eingeführt, was ich gut und hilfreich fand, so konnte ich sie alle gut kennenlernen und zuordnen und mir die Beziehungen klarmachen. Auch gefällt mir gut, dass sich, ohne dass sich das aufdrängt, die Kapitel gerade am Anfang ein bisschen Themen zuordnen, also z.B. Kapitel 1 „Köln in der Nachkriegszeit“, Kapitel 2 „Versicherung Pering und Arbeitsklima“, in Kapitel 3 lernen wir Hanni kennen usw. Die Atmosphäre der Nachkriegszeit ist gut gegriffen, das Leben zwischen Trümmern, der langsame Wiederaufbau, der vom Mangel an Baumaterial geprägt ist, die große Ungewissheit, die über allem schwebt, kommen die Männer noch zurück, sind sie verstorben, die vielen kleinen Neuerungen, mit denen die Menschen konfrontiert sind, das politische Misstrauen der Entnazifizierung, das hier und da leise anklingt, das Gefühl von Aufbruch aber auch die immer wieder sich hineindrängenden Erinnerungen an das Kriegsgeschehen, das gefällt mir alles sehr gut. Und über all dem die schwebende Ungewissheit, ob die noch fehlenden Männer wiederkommen werden oder doch verstorben sind.
Schön herausgearbeitet auch die Beziehungen zwischen den sehr unterschiedlichen Frauen und ihrer Annäherung, sehr lebendig, ich hatte direkt Bilder vor Augen. Alle Frauen tragen ein Geheimnis, nicht jedes entpuppt sich schon in diesem Band.
Der Schreibstil ist flüssig und die, meist sehr guten, Sprachbilder sind gut dosiert und drängen sich nicht in den Vordergrund. Teilweise rutscht da etwas unnötiger Kitsch rein „fühlte sie die Verlassenheit, die mit eisigen Armen nach ihr griff. Genau an der Stelle, wo sie früher die warmen, schützenden Hände Heinrichs gespürt hatte.“ (S. 19) Da wäre dann weniger mehr, andere Formulierungen gefallen mir nämlich dagegen sehr gut! „Sachte klopfte Gisela ihrem Sohn die Zweifel von der Schulter.“ (S. 16) Atmosphärische Wechsel sind immer sehr gut gegriffen und sinnlich beschrieben. Da gefällt mir auch die Dynamik. Die Kapitel haben auch für mich eine gute Länge, das lässt sich alles grundsätzlich sehr gut lesen.
In der zweiten Buchhälfte, die deutlich besser geglückt ist als die erste, zieht die Handlung deutlich an, die im ersten Teil oft noch hinter Beschreibungen zurücktritt. Es scheint so, als ob die Autorin selbst mit den Figuren warm geworden ist, das Kriegs- und Nachkriegskolorit wird sinnvoller und dosierter eingebunden, insgesamt ist der Bogen besser gespannt. Es gibt ein paar Dinge, die mich überrascht haben im Handlungskonstrukt und teilsweise gelungene Plottwists. Insgesamt aber bleibt leider alles ein bisschen sehr auf der Oberfläche, die Handlung ist im Überblick dennoch relativ vorhersehbar und wirkt reißbrettartig konstruiert und was mich wirklich stört, ist das Prinzip der Erlösung durch Männer für die Frauenfiguren. Hier bestünde die Chance, wirklich starke Frauengeschichten zu schreiben, aber zumindest in diesem ersten Band der Reihe braucht es am Ende immer einen Mann, um die Frauen zu erlösen und ihre Probleme zu beheben. Dabei ist auch das Konstruktionsprinzip „fast Erlösung – nochmaliges Hindernis – dann doch Erlösung“ einfach sehr simpel. Frauen scheinen auch grundsätzlich läufige Hündinnen zu sein, das hat mich streckenweise wirklich angeekelt, dieses Bild, noch dazu von einer weiblichen Autorin. Für meinen Geschmack ist der Fokus auf Lovestorys einfach zu groß – aber das mag anderen Leser:innen natürlich anders gehen. Der Titel des Buches lässt einen anderes erwarten, viel mehr Fokus auf die Arbeitswelt, auf den Aufbau der BRD, auf Frauen, die es schaffen, unter widrigen Bedingungen allein durchs Leben zu gehen. Das wird alles nicht erfüllt.
Sehr erhellend war für mich die Danksagung, in der klar wird, dass die Idee zur Reihe an die Autorin vom Verlag herangetragen wurde und nicht andersherum. Ich finde, das merkt man dem Buch auch deutlich an, es wirkt so, als hätte sich die Autorin mit diesem Band selbst erst einmal an die Geschichte heranschreiben müssen, wäre ihr noch eher fern und müsste ein paar klare Ziele erfüllen (Zeitkolorit, Romance, Spice, verschiedene Handlungsstränge anlegen, die man dann mit Nachfolgebänden fertig schreiben kann, man ahnt ja schon, der nächste Band wird Hanni in den Fokus stellen). Immer wieder verschwinden ihr auch angelegte Figuren aus dem Fokus, Julia z.B. ist im zweiten Teil eigentlich kaum mehr vorhanden, über die Emotionen von Giselas Sohn Peter, den ein Schicksalsschlag ereilt, erfahren wir sehr wenig, obwohl er in der ersten Buchhälfte durchaus eine Hauptfigur ist.
Insgesamt hätte ich mir von diesem Auftakt deutlich mehr erhofft und konnte, trotz des deutlich besser gelungenen zweiten Abschnitts, noch nicht wirklich viel Hunger auf die Folgebände entwickeln. Da die zweite Hälfte aber deutlich besser als die erste geschrieben ist, lohnt es sich vielleicht doch, der Reihe eine Lesechance zu geben. In diesem ersten Band wurde die Chance auf eine spannende Nachkriegsfrauengeschichte für mich verpasst.

Ein großes Dankeschön an lesejury.de und den Bastei Lübbe Verlag für das Rezensionsexemplar!

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