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Veröffentlicht am 26.11.2024

Ohne zuerst bei sich selbst anzukommen, entdeckt man keine neue Welt

Das perfekte Grau
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„Das perfekte Grau“, von Salih Jamal, erschienen 2024 bei btb, ist ein verblüffender Boat-Trip mit vielen soziologischen und philosophischen Einschüben, der durchaus als „Tschick für Erwachsene“ durchgehen ...

„Das perfekte Grau“, von Salih Jamal, erschienen 2024 bei btb, ist ein verblüffender Boat-Trip mit vielen soziologischen und philosophischen Einschüben, der durchaus als „Tschick für Erwachsene“ durchgehen kann. Salih Jamal gelingt über knapp 240 Seiten das Kunststück, weitestgehend die Waage zwischen Handlung und Gesellschaftsanalyse zu halten – und das mit einer mehrheitlich wirklich großartigen und besonderen Sprache.

Vier Outcasts des Lebens, Dante, Mimi, Novelle und Rofu, treffen jobbend in einem Hotel aufeinander. Jede dieser Personen für sich ist so eigen und sperrig, aber irgendwie gehen sie einem auch sofort ans Herz. Schräge, verschlossene Menschen, die offenkundig eine Geschichte mit sich herumtragen, die tiefe Wunden geschlagen hat. Nachdem es zu einem Zwischenfall kommt, machen die vier sich als Zweckgemeinschaft auf den Weg, egal wohin, vor allem weg. Als Fluchtfahrtzeug dient ihnen ein geklautes Boot und je weiter die Reise geht, desto mehr verschränken sich ihre Gedanken, Seelen und ihr Reiseziel. Erzählt aus der Ich-Perspektive von Dante erleben wir von Anfang an eine morbide Stimmung, die sich natürlich immer mehr als das Innen der Figuren erklärt. Gepaart ist diese Stimmung aber mit sehr viel Humor. Einfach ein gelungener Mix.

Während der lesende Mensch dem bunten Quartett auf seiner Reise folgt, beglückt der Autor mit vielen sehr wahren Gedanken über das Leben und die Schwierigkeiten, die dieses mit sich bringt. Ich fand viele gesellschaftlich-philosophische Ansätze, die ich teile oder die noch einmal etwas zusammenfassen, was ich ähnlich sehe, aber noch nie so gebündelt gelesen habe. Beeindruckend genau hingeschaut. Manchmal waren es mir allerdings fast zu viel Gedanken, es ist ein bisschen so, als würde wirklich jeder Handlungsmoment für eine soziologische oder philosophische Ausweitung genutzt. Ähnlich verhält es sich mit der literarischen Qualität, auch hier übertreibt der Autor manchmal und benutzt dann fast in jedem Satz noch ein Sprachbild, noch eine Analogie, noch eine Ladung Adjektive – so dass die Sprache manchmal ins schwülstige abrutscht. Da drängte sich mir der Vergleich zu Hermann Hesse auf – was einerseits unbedingt die besondere Qualität betonen soll, andererseits aber auch die Ausschweifung beinhaltet.

Problematisch im Buch sind leider auch misogyne Äußerungen, Bodyshaming, unmotivierte Gewalt. All das ist Teil der Realität und ergibt auch Sinn, da wir aus einer bestimmten Perspektive auf das Geschehen schauen. Es hätte mich aber gefreut, wenn eine andere Figur dieser Perspektive etwas entgegengesetzt hätte. Zumal der Autor an anderer Stelle verblüffend sensibel ist, ich habe glaube ich noch nie eine durch eine männlich gelesene Person geschriebene, so gute Beschreibung der Bedrohung und Gewalt gelesen, der weiblich gelesene Menschen in unserer Welt von Kind auf ausgesetzt sind.

Nach einer umfassenden Reise durch das Innen und Außen findet das Buch neben Freundschaft auch ein sehr ungewöhnliches und für mich genau passendes Ende. Es geht viel und in vielen Facetten um Identität in diesem Roman. Die Reise zu dieser ist immer auch eine Lebensreise. Ohne zuerst bei sich selbst anzukommen, entdeckt man keine neue Welt, so wird es an einer Stelle auf der Reise des Quartetts gesagt. Salih Jamal hat viel Welt in sein perfektes Grau geladen, viele wunderschöne Farben, die sich dort drin verbergen und entdeckt werden können. Ein ziemlich gutes Buch, das sich zu lesen lohnt! Vor allem sprachlich und soziologisch-philosophisch über weite Strecken beeindruckend mit wenigen Ausreißern.

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Veröffentlicht am 24.11.2024

Startet stark, endet schwach

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
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„Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“, der neue Roman und Deutscher Buchpreisträger von Martina Hefter, erschienen 2024 bei Klett-Cotta, verliert sich nach einem starken Start im Mittelmaß.

Das Buch liest ...

„Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“, der neue Roman und Deutscher Buchpreisträger von Martina Hefter, erschienen 2024 bei Klett-Cotta, verliert sich nach einem starken Start im Mittelmaß.

Das Buch liest sich eingangs superfluffig und macht richtig viel Spaß – gerade, weil sich unter der Leichtigkeit auch eine Menge Tiefgrund verbirgt. Die schlaflose Juno, die Göttin der Geburt, der Ehe und Fürsorge, gleichgesetzt mit Hera und somit die Bossgöttin aller Göttinnen (und ein Asteroid) pflegt Jupiter, den allmächtigen und alles verzehrenden Zeus der römischen Mythologie und zeitgleich den größten Planeten unseres Sonnensystems. (Leider findet sich im weiteren Verlauf des Buches kaum Bezug zu dieser Analogie.) Dabei verpasst Juno unter Umständen ihr eigenes Leben und noch mehr unter Umständen ist das sogar selbst gewählt, denn es offenbart sich, dass Jupiter eigentlich auch noch allein klarkommt. Laut Juno allerdings mit weniger Lebensqualität – da sich schnell andeutet, dass es eigentlich kaum mehr richtigen Kontakt zwischen dem Paar gibt und jede:r sich zunehmend sein eigenes Universum schafft, stellt sich eher die Frage, wozu Juno dieses Abhängigkeitssystem braucht. Vielleicht, um sich nicht dem eigenen Leben stellen zu müssen und den Fragen, die sie tief versteckt in ihrem Inneren umtreiben: Was will ich eigentlich vom Leben? Habe ich noch Ziele? Traue ich mich ran an mein Potential? Erlaube ich mir, mit Karacho zu scheitern, erlaube ich mir, wirklich von mir und meinem Talent überzeugt zu sein – und dass es dann wehtun könnte, wenn andere das anders sehen? Wie gehe ich um mit der eigenen Endlichkeit?
Die Sprache ist wundervoll, so viele schöne Sätze, dabei ist alles sparsam und knapp, nicht unnötig ausschweifend, gut gewählte kleine Sterne, die am Buchhimmel aufblitzen.
Der beschriebenen Theaterwelt merkt mensch an, dass Martina Hefter selbst dort unterwegs ist – umso mehr stört mich die große Ungenauigkeit, dass durchweg mit Bühnenlicht und Nebel geprobt wird, von Anfang an – das ist totaler Quark. Ich wünsche mir immer sehr, dass Kolleg:innen unsere Welt korrekt darstellen, es gibt eh so viel Irrglauben darüber, das muss nicht sein für ein bisschen Atmosphäre.
Benu, der Totengott, das Gegenüber im Internet, der Love-Scammer, der identifiziert wird und bei dem Juno trotzdem hängen bleibt als Kommunikationspartner, bleibt leider relativ konturlos, Jupiter, der Pflegefall zuhause ebenso.
Formal mochte ich, dass Hefter ihrem Buch einen Trailer voranstellt. Die kurzen Kapitel machen das Lesen leicht. Viele Lieblingssätze, ich hebe mal nur einen hervor: „Man muss nur kurz die Erde anheben.“ Der Buchtitel fällt früh. Den mag ich sowieso sehr, er fasst die Verlagerung unserer Kommunikation auf die Chatebene so gut zusammen. Auch gut die eingestreuten Informationen über Nigeria und unser nach wie vor sehr postkoloniales Denken.

Juno wird immer mutiger in ihrem Kontakt zu Benu, der auch einen Eskapismus aus ihrem eigenen Leben darstellt, kritisiert sich aber auch hart dafür. Ich mochte ihre Gedanken sehr: „Aber ohne Naivität keine Entdeckungen. Man musste manchmal die Möglichkeit des Todes ausblenden können, sonst kam man nicht weiter, und dazu musste man ein bisschen naiv sein.“ Oder wie ich zu sagen pflege: „Ohne Risiko kein Spaß.“ Auch gute Gedanken, die sich Juno über privilegiertes westeuropäisches Leben macht. Nichts, was wir haben, nichts, was wir tun, richten keinen Schaden an, an einer anderen Stelle auf der Welt. Das ist ein Gedanke, der so klar ausgesprochen extrem bedrückend ist. Und auf den wir in einigen Bereichen so wenig Einfluss haben. Weshalb zumindest Awareness so wichtig ist. Generell arbeitet Hefter das Thema „privileged White European person“ einfach perfekt heraus mit vielen kleinen Facetten und Unternoten. Und so geschickt in die Geschichte eingearbeitet, so selbstreflektierend und nicht anklagend, dass es richtig gut gelingt, den Finger in die Wunde zu legen, ganz nebenbei.
Was auch gut herauskommt ist Junos große innere Einsamkeit und ihr Gefangensein in dem Leben, wie es bei ihr gerade läuft. Und aus dem sie keinen Ausgang findet, sich dabei aber verloren hat. Nicht untypisch für den Lebensabschnitt, irgendwie feststecken in der Verantwortung für andere und die Antwort auf die Frage „und ich?“ nicht mehr formulieren können, aber innendrin steckt ganz viel Sehnsucht fest. Benu öffnet diese Büchse der Pandora nur durch seine Existenz.
Die kurzen Chats der beiden lockern die Prosa immer wieder auf und bieten auch Raum für Komik, das ist gelungen.

Ab der Mitte des Buches tritt Hefter dann aber leider auf der Stelle und schon nach kurzen Leseunterbrechungen gibt es nicht mehr viel Erinnerung an das schon Gelesene, da bleibt nichts hängen. Juno ging mir zunehmend auf die Nerven, irgendwie hat sie so ein Grundleid in sich, das sie gar nicht haben müsste eigentlich, so schlecht fühlt sich ihr Leben gar nicht an von außen, bzw. ich will ihr ständig zurufen „entscheide dich halt für was“. Das Altern beschäftigt sie sehr. Aber warum? Und warum macht sie das so sehr am Außen fest? „Die Gesellschaft“, die das tut, ist ihr doch gar nicht so wichtig?
Es gibt viele Vorausdeutungen auf eine Katastrophe – nur erfahren wir nie, was und wie diese ist, sondern bleiben in der Luft. Das hat mich wirklich verärgert nach so viel Aufbau für was?
Am Ende des Romans ist eigentlich gar nichts passiert. Keine Entwicklung, keine wirkliche Veränderung, keine Konkretion.
Leider einmal mehr ein Buch, das stark beginnt und dann immer weiter zerfasert und kein Ende findet. Den Deutschen Buchpreis verstehe ich nicht wirklich, für mich ein Durchschnittsbuch mit tollen Momenten und ja, beeindruckender Sprache, aber der große Wurf? Den sehe ich leider nicht.

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Veröffentlicht am 17.11.2024

Und wenn wir doch einfach losfliegen würden?

When Women were Dragons – Unterdrückt. Entfesselt. Wiedergeboren: Eine feurige, feministische Fabel für Fans von Die Unbändigen
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„When Women Were Dragons“, der neue Roman von Kelly Barnhill, auf Deutsch erschienen 2024 bei Cross Cult, bringt uns dem Matriarchat einen kleinen Schritt näher und zeigt dabei in einer nur scheinbar phantastischen ...

„When Women Were Dragons“, der neue Roman von Kelly Barnhill, auf Deutsch erschienen 2024 bei Cross Cult, bringt uns dem Matriarchat einen kleinen Schritt näher und zeigt dabei in einer nur scheinbar phantastischen Geschichte, in was für einer Fesselung weiblich gelesene Menschen in der heutigen Welt jeden Tag nach wie vor stecken.

Alex Green wächst als junges Mädchen in einem eindeutig patriarchalen System auf, in der ihre Zukunft klar vorgezeichnet ist: Heiraten, Kinder bekommen, einem Mann zur Seite stehen. Dass sie die Schule besuchen darf – eigentlich unnötig, dass sie naturwissenschaftlich hochbegabt ist – geschenkt. Viel zu früh in ihrem Leben erkrankt ihre Mutter an Krebs und wird durch ihre Tante Marla ersetzt. Doch als es 1955 zum Großen Drachenwandelns kommt und xxx Drachinnen in den Himmel steigen, verschwindet auch Tante Marla – zurück bleibt deren kleine Tochter Beatrice, die zu Alex Schwester wird. Über die Drachinnen wird zuhause geschwiegen. Die gesamte Gesellschaft versucht, das Ereignis zu ignorieren – auch als immer wieder und immer mehr Drachenwandlungen auftreten, während Alex immer mehr Verantwortung für Beatrice übernehmen muss und zeitgleich um ihren Platz in der akademischen Welt kämpft.

When Women Were Dragons ist ein eindringliches Buch über das Potenzial des Matriarchats, über die Frage, was mit der Welt wohl passieren würde, wäre sie nicht männlich, sondern weiblich regiert – und, da bin ich mit der Autorin einig: Die Welt wäre eindeutig ein besserer Ort. Klug zeigt Barnhill auf, an wie vielen Punkten weiblich gelesene Menschen von außen wie von innen überreglementiert und unterdrückt werden – und dass nur die Wut uns befreien kann. Wenn wir sie denn zulassen.

Das Buch erzählt lebendig und emotional, es schafft eine komplexe und doch zeitlich sehr nahe phantastische Welt. Durch eine zweite wissenschaftliche Ebene, das eingebundene Werk „Eine kurze Geschichte der Drachinnen“, können charmant zusätzliche analytische Informationen eingestreut werden. Der Kampf der Frauen um ihre Freiheit und Schwierigkeiten, sich für diese und die Konsequenzen zu entscheiden wird durch die Wandlung sehr deutlich. Barnhill stellt viele kluge Fragen über unsere Zeit, ohne dabei belehrend zu sein.

Leider ging es mir jedoch so, dass insgesamt viel zu weitschweifig erzählt wird und das Buch für seine knapp 500 Seiten mit zu wenig Handlung aufwartet. Es verfängt sich in redundanten Gedankenkreisen und kommt vor allem im ersten Drittel eigentlich gar nicht in den Gang. Was sehr schade ist, da ich die Grundidee wirklich hervorragend finde und viele Gedanken sehr teilen konnte – dennoch musste ich immer wieder pausieren, weil einfach kein richtiger Lesesog aufkam. Ich hätte mir auch gewünscht, dass das Thema weibliche Wut genauer herausgearbeitet wird, insgesamt blieb mir das Buch zu allgemein und dadurch etwas harmlos. An einer Stelle im Buch wird gesagt: „Sie müssen die Kleine im Auge behalten, sonst wachsen ihr eines Tages noch Flügel und sie fliegt davon.“ Dieses starke Bild für patriarchale Unterdrückung hätte ich gern mit mehr Details im ganzen Buch erlebt, genauso wie ich gerne mehr darüber erfahren hätte, wie die Drachinnen nach ihrer Wandlung leben, was genau für sie Freiheit ausmacht. Und auch die im Buch eingeführte Knotenmagie wird leider nie entziffert – was für mich auch ein großes Manko ist.

Ein starker Ansatz also, der sich leider in sich wiederholenden Endlosschleifen verheddert, ohne in die Tiefe zu gehen. Ich hatte mir mehr von diesem Buch erwartet, mehr Mut, mehr Radikalität. Das Patriarchat wird nicht mit sanften Worten aufgehoben werden, im Gegenteil, es ist gerade wieder im Aufwind. Wenn wir dem etwas entgegensetzen wollen, müssen unsere Drachinnen Feuer speien, nicht nur Kerzen anzünden.

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Veröffentlicht am 09.11.2024

Kluge Gesellschaftsanalyse mit Action, der etwas Reduktion gutgetan hätte

Balaclava
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„Balaclava“, von Campbell Jefferys, erschienen 2024 bei Ripple Books, ist ein kluger Roman, der, geschrieben von einem Australier, eine verblüffend gute Gesellschaftsanalyse des Ist-Zustandes in Deutschland ...

„Balaclava“, von Campbell Jefferys, erschienen 2024 bei Ripple Books, ist ein kluger Roman, der, geschrieben von einem Australier, eine verblüffend gute Gesellschaftsanalyse des Ist-Zustandes in Deutschland bietet, es dabei an Action auch nicht vermissen lässt, dem aber insgesamt eine erhebliche Straffung und klarere Auswahl der zu behandelnden Themen bestimmt sehr gutgetan hätte.

Das intelligente Cover umschließt fast 550 eng bedruckte Seiten, die einem leider dank schlechter Bindung zunehmend auch entgegenkommen beim Lesen, und die mir ein Leseerlebnis beschert haben, dass sich immer wieder sehr wie Arbeit angefühlt hat, was einerseits am mangelnden Lesekomfort, andererseits an einfach zu viel Inhalt gelegen hat.

Wie fasst mensch dieses Buch grob zusammen? Die Polizistin Mara kehrt nach üblen Vorfällen in Berlin als Undercover Agentin in ihre Heimat Hamburg zurück, wo sie schnell wieder in die linke Szene eintaucht, der sie ehemals angehörte und, ab von ihrem eigentlichen Auftrag, auf die Suche nach ihrem verschollenen Bruder geht, den sie vermeintlich auf einem Video unter einer Balaclava erkannt haben will. Von diesem Punkt aus entspinnt sich eine wahre Odyssee, die Mara quer durch Deutschland und darüber hinaus jagen lässt und in der sie immer mehr auch zur Gejagten wird.

Jefferys schreibt klug, mit erstaunlicher Ortskenntnis für einen Australier und analysiert unser Land, unsere Gesellschaft, unseren Zeitgeist treffsicher und erschreckend. Wohin unsere Gesellschaft gehen kann und wird, wenn sich die Fronten weiter so verhärten und der ignorante Rechtsruck sich weiter breitmacht, ist in diesem Buch ganz deutlich zu spüren. Hier und da liegt er dann doch mal daneben, z.B. das Wahlverhalten der jungen Generation imaginiert er vollkommen falsch, aber 99 Prozent des Buches sind schmerzhaft wahr.

Dabei streift Jefferys viele Themen neben der Protestkultur und dem Klimawandel, jedes einzelne hat absolut seine Berechtigung und kann, muss, sollte besprochen werden – alle zusammen in einem Buch sind aber einfach zu viel. Was mich begeistert hat: Jefferys schreibt feministisch, gut feministisch, glaubhaft feministisch, was ich sehr ungewöhnlich finde von einem männlich gelesenen Autor, ist mir in dieser Qualität noch nicht begegnet.

Wenn man es über die ersten 70 Seiten hinausschafft, die etwas sehr namens- und infolastig sind, steigt die Handlungsorientierung und streckenweise befinden wir uns fast in einem Politthriller. Leider aber geht dem Autor am Ende die Luft aus und er schreibt nach vielen dramatischen Wendungen ein schnelles Happy End herbei – das für mich keine Glaubwürdigkeit hat und auf einmal auch all die vielen Themen einfach dropped. Nichts ist wirklich besser geworden – aber irgendwie sind auf einmal alle zufrieden. Das hat mich sehr unzufrieden zurückgelassen, weshalb ich dem Buch nicht mehr als 3,5 Sterne geben kann – auch wenn ich mir wünsche, dass sich ganz viele Menschen mit den Themen des Buches auseinandersetzen – für eine bessere Welt! Etwas langen Atem braucht es für dieses Buch – aber für die Weltverbesserung ja auch.

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Veröffentlicht am 08.11.2024

Spannung pur und starke Figuren im historischen Frankfurt

Frevel
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„Frevel“, ein historischer Thriller, erschienen 2024 bei dtv und geschrieben von Nora Kain, laut Verlag ein Pseudonym für eine deutsche Bestsellerautorin, wartet auf jeden Fall mit Bestsellerqualitäten ...

„Frevel“, ein historischer Thriller, erschienen 2024 bei dtv und geschrieben von Nora Kain, laut Verlag ein Pseudonym für eine deutsche Bestsellerautorin, wartet auf jeden Fall mit Bestsellerqualitäten auf und ist ein hervorragender – ich würde eher sagen Historienkrimi, der mit Atmosphäre, großartig gestalteten Figuren, einer spannenden Story mit so einigen Plottwists und genau der richtigen Dosis Zeitkolorit besticht und bestens unterhält.

Situiert in Frankfurt am Main im Jahr 1800 geschehen in kurzer Abfolge mehrere bestialische Morde und die Spur von Zeitungsredakteur Johann und, eine tolle feministische Figur, Rechtsmedizinertochter Manon führt immer mehr in eine Richtung, die nach allen Gesetzen der Logik einfach nicht sein kann. Und bei ihren Nachforschungen geraten die beiden immer mehr selbst in Gefahr.

Kain schreibt flüssig und schwungvoll, mit einem guten Maß an Humor und einer immer guten Spannungskurve, die einen beim Lesen nie loslässt. Ich liebe den Eröffnungssatz des Buches: „Ich darf mich nicht übergeben, dachte Johann verzweifelt.“ Der setzt schon gut den Ton und zeigt etwas, was den Thriller sehr ausmacht: Die Hauptfiguren haben charmante Schwächen. Johann hat seinen Magen einfach nicht im Griff und Manon ihre Zunge genauso wenig. Das führt immer wieder zu herrlichen Situationen inmitten des aufregenden Geschehens um die Morde. Souverän bindet die Autorin in dieses auch Themen aus der Zeit ein, den Judenhass, den großen Aberglauben, der herrschte und absurde Blüten trieb, die Rolle der Frau, die Grausamkeit in Gefängnissen, um nur einiges zu nennen. Das geschieht ganz selbstverständlich, ohne dass Kain ihren Handlungspfad dafür verlassen muss. Und auch Frankfurt wird wunderbar beschrieben und mit kleinen historischen Informationen und Anekdoten lebendig gemacht.

Besonders gut aber hat mir gefallen, dass es immer wieder für mich unvorhersehbare Wendungen gab, die aber plausibel waren und wirklich herzuleiten aus dem Geschehen. Das macht für mich einen guten Thriller aus. Dieser war für mich deshalb eher ein Krimi, weil es doch sehr klar um den Kriminalfall geht und auch wenn das Tempo hoch war, ist es doch nicht atemlos, die Spannung ist wirklich gut gearbeitet, lässt einem aber immer Zeit zum Denken und Fühlen. Darum stimmt das Genre für mich nicht ganz – was aber nichts an einer Top-Bewertung und absoluten Leseempfehlung ändert. Ein auf allen Ebenen gelungenes Buch! Ganz großer Pluspunkt noch, dass die Autorin am Ende nicht auf der Erfüllung einer sich anbahnenden Romanze besteht, sondern die starke Manon, die ein so großartiger Charakter ist, in die Freiheit führt und ihr somit ihre Stärke wirklich lässt. Das habe ich so lange nicht gelesen und das hat mich wirklich begeistert. Also schnell einen Tee kochen und das Buch dann an kalten Abenden ganz wunderbar in einem Rutsch verknuspern.

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