Ohne zuerst bei sich selbst anzukommen, entdeckt man keine neue Welt
Das perfekte Grau„Das perfekte Grau“, von Salih Jamal, erschienen 2024 bei btb, ist ein verblüffender Boat-Trip mit vielen soziologischen und philosophischen Einschüben, der durchaus als „Tschick für Erwachsene“ durchgehen ...
„Das perfekte Grau“, von Salih Jamal, erschienen 2024 bei btb, ist ein verblüffender Boat-Trip mit vielen soziologischen und philosophischen Einschüben, der durchaus als „Tschick für Erwachsene“ durchgehen kann. Salih Jamal gelingt über knapp 240 Seiten das Kunststück, weitestgehend die Waage zwischen Handlung und Gesellschaftsanalyse zu halten – und das mit einer mehrheitlich wirklich großartigen und besonderen Sprache.
Vier Outcasts des Lebens, Dante, Mimi, Novelle und Rofu, treffen jobbend in einem Hotel aufeinander. Jede dieser Personen für sich ist so eigen und sperrig, aber irgendwie gehen sie einem auch sofort ans Herz. Schräge, verschlossene Menschen, die offenkundig eine Geschichte mit sich herumtragen, die tiefe Wunden geschlagen hat. Nachdem es zu einem Zwischenfall kommt, machen die vier sich als Zweckgemeinschaft auf den Weg, egal wohin, vor allem weg. Als Fluchtfahrtzeug dient ihnen ein geklautes Boot und je weiter die Reise geht, desto mehr verschränken sich ihre Gedanken, Seelen und ihr Reiseziel. Erzählt aus der Ich-Perspektive von Dante erleben wir von Anfang an eine morbide Stimmung, die sich natürlich immer mehr als das Innen der Figuren erklärt. Gepaart ist diese Stimmung aber mit sehr viel Humor. Einfach ein gelungener Mix.
Während der lesende Mensch dem bunten Quartett auf seiner Reise folgt, beglückt der Autor mit vielen sehr wahren Gedanken über das Leben und die Schwierigkeiten, die dieses mit sich bringt. Ich fand viele gesellschaftlich-philosophische Ansätze, die ich teile oder die noch einmal etwas zusammenfassen, was ich ähnlich sehe, aber noch nie so gebündelt gelesen habe. Beeindruckend genau hingeschaut. Manchmal waren es mir allerdings fast zu viel Gedanken, es ist ein bisschen so, als würde wirklich jeder Handlungsmoment für eine soziologische oder philosophische Ausweitung genutzt. Ähnlich verhält es sich mit der literarischen Qualität, auch hier übertreibt der Autor manchmal und benutzt dann fast in jedem Satz noch ein Sprachbild, noch eine Analogie, noch eine Ladung Adjektive – so dass die Sprache manchmal ins schwülstige abrutscht. Da drängte sich mir der Vergleich zu Hermann Hesse auf – was einerseits unbedingt die besondere Qualität betonen soll, andererseits aber auch die Ausschweifung beinhaltet.
Problematisch im Buch sind leider auch misogyne Äußerungen, Bodyshaming, unmotivierte Gewalt. All das ist Teil der Realität und ergibt auch Sinn, da wir aus einer bestimmten Perspektive auf das Geschehen schauen. Es hätte mich aber gefreut, wenn eine andere Figur dieser Perspektive etwas entgegengesetzt hätte. Zumal der Autor an anderer Stelle verblüffend sensibel ist, ich habe glaube ich noch nie eine durch eine männlich gelesene Person geschriebene, so gute Beschreibung der Bedrohung und Gewalt gelesen, der weiblich gelesene Menschen in unserer Welt von Kind auf ausgesetzt sind.
Nach einer umfassenden Reise durch das Innen und Außen findet das Buch neben Freundschaft auch ein sehr ungewöhnliches und für mich genau passendes Ende. Es geht viel und in vielen Facetten um Identität in diesem Roman. Die Reise zu dieser ist immer auch eine Lebensreise. Ohne zuerst bei sich selbst anzukommen, entdeckt man keine neue Welt, so wird es an einer Stelle auf der Reise des Quartetts gesagt. Salih Jamal hat viel Welt in sein perfektes Grau geladen, viele wunderschöne Farben, die sich dort drin verbergen und entdeckt werden können. Ein ziemlich gutes Buch, das sich zu lesen lohnt! Vor allem sprachlich und soziologisch-philosophisch über weite Strecken beeindruckend mit wenigen Ausreißern.