Frevel bietet alles, was es für einen packenden Thriller braucht
Frevel startet mit einem Auszug aus der Medicina forensis von Physicus und Chirurgicus Theophil Pontus, einer Figur aus diesem Buch, und verdeutlicht gleich, hier wird es detailliert um die Anfänge der ...
Frevel startet mit einem Auszug aus der Medicina forensis von Physicus und Chirurgicus Theophil Pontus, einer Figur aus diesem Buch, und verdeutlicht gleich, hier wird es detailliert um die Anfänge der Gerichtsmedizin gehen. Gleichzeitig läutet dieser Auszug das kommende Geschehen ein, denn als nächstes wohne ich einer Hinrichtung bei. Sie wird unglaublich detailliert beschrieben und spätestens jetzt ist klar: Für dieses Buch benötige ich einen starken Magen. Und den hat der junge Zeitungsredakteur Johann nicht. Er wird von seinem Chef dazu genötigt, direkt am Ort des grausigen Geschehens zu sein, damit am Ende die furchtbaren Details in aller Abscheulichkeit im „Frankfurter Korrespondenten“ abgedruckt werden können. Doch Johann ist nicht Journalist geworden, um Skandale und Sensationen auszuschlachten, sondern weil er der Wahrheit dienen möchte.
Sehr für die Wahrheit interessiert sich auch Manon, aber aus anderen Gründen. Im Gegensatz zu Johann und seiner offenen und Menschen zugewandten Art ist Manon mit einem analytischen Verstand gesegnet, der jedoch für eine scharfe Zunge sorgt. Dies ist in der Gesellschaft nicht gern gesehen, denn junge Damen wie Manon haben sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als bei Obduktionen zu helfen.
Als Manon und Johann aufeinandertreffen wird schnell klar, dass sie ein gemeinsames Ziel haben. Das ungleiche Duo stellt sich mit ihren Fähigkeiten den entstehenden Herausforderungen so interessant, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen möchte.
Das Handlungsgerüst von Frevel ist komplex und verfügt über mehrere Perspektiven. Zum einen begleite ich mithilfe des personalen Erzählers sowohl Manon als auch Johann. Ihre Erlebnisse werden chronologisch erzählt. Hierbei hilft an den Kapitelanfängen die Angabe des Datums, des Wochentages und der Uhrzeit den zeitlichen Überblick zu behalten.
In regelmäßigen Abständen finden sich kursiv gedruckte Auszüge aus „Medicina forensis“ von Theophil Pontus, Manons Vater. Diese kurzen Einblicke sind gleichzeitig ein Fenster in den damaligen Wissensstand.
Besonders packend ist die dritte Perspektive, die mit der Überschrift „Irgendwann“ gekennzeichnet ist und wo mir eine Frau selbst von ihrem zu erduldendes Martyrium erzählt. Diese Szenen sind geschickt platziert und tragen erheblich zur Spannung bei, da ich viel spekuliere, wer die Namenlose sein könnte.
Nora Kain fängt den damaligen Zeitgeist intensiv ein. Es ist spürbar, wie ein neues Menschen- und Weltbild entsteht, aber auch, wie sehr es den Menschen schwerfällt, alte Denkmuster zu durchbrechen. Manon, ihr Vater und Johann stehen für den Fortschritt. Doch andere Charaktere sind der Kontrast zu ihnen, wie beispielsweise der sensationslüsterne Chef von Johann, der alles druckt, was irgendwie eine starke Auflage garantiert. Ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt. Alle Charaktere sind sehr gut und facettenreich ausgearbeitet.
Der Schreibstil ist flüssig und an den richtigen Stellen mit einem feinen Humor gespickt. Zudem ist er sehr bildgewaltig. Das raue Leben der damaligen Zeit wird ungeschönt dargestellt, ebenso die Morde, welche nicht nur dazu dienen, die Anfänge der Gerichtsmedizin zu beleuchten. Nora Kain blendet keine Details aus und so braucht es an so mancher Stelle im Buch einen starken Magen.
Auch emotional ist Frevel manchmal kaum auszuhalten. Die Darstellung der Leben der Juden und der Umgang mit ihnen in dieser Zeit schnürt mir öfter mal die Kehle zu. Dabei findet Nora Kain aber immer einen guten Ausgleich, in dem sie zwar die damaligen Denkmuster darlegt, gleichzeitig aber auch die Widersinnigkeit aufdeckt.
Frevel ist ein unglaublich rasanter historischer Thriller, der mit immer neuen Spannungskurven und überraschenden Wendungen zu fesseln weiß. Als sich Stück für Stück die Puzzleteile zusammenfügen, bin ich sprachlos und völlig gebannt von den Enthüllungen. Fast alles wird aufgeklärt und ganz besonders das Ende verblüfft mich. Hier beweist Nora Kain, wie hervorragend sie die historischen Hintergründe recherchiert hat und lässt sich nicht zu einem Schluss verleiteten, der für die damaligen Verhältnisse unrealistisch gewesen wäre. Auch wenn ich es mir gewünscht hätte. So aber hege ich die Hoffnung, dass es irgendwann mal eine Fortsetzung mit diesen tollen Charakteren gibt.
Fazit:
Frevel bietet alles, was es für einen packenden Thriller braucht. Etliche Spannungskurven, historische Tiefe und ein ungleiches, aber durchweg sympathisches Ermittlerduo.