Unbedingte Leseempfehlung
Die Stimme der KrakenMit „Die Stimme der Kraken“ (Originaltitel: The Mountain in the Sea“ – ich habe Fragen an die übersetzende Person...), erschienen 2024 bei Tropen/J. G. Cotta, legt Ray Nayler einen Ökothriller vor, oder ...
Mit „Die Stimme der Kraken“ (Originaltitel: The Mountain in the Sea“ – ich habe Fragen an die übersetzende Person...), erschienen 2024 bei Tropen/J. G. Cotta, legt Ray Nayler einen Ökothriller vor, oder einen Wissenschaftsroman, oder einen Scifi-Kracher, oder eine Dystopie? – ich kann mich nicht entscheiden und das ist gut so, denn schon im ersten Abschnitt „Qualia“, der in die Handlung einführt wird deutlich: Hier hat mensch ein ultrakomplexes Buch in den Händen, dass sich dennoch total spannend und fluffig liest und den mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Der Thriller spielt im asiatischen Raum und der Start hat es in sich, wir tauchen direkt lebendig ein in die Atmosphäre von der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh, kurz AHZHCM, die Nayler mit wenigen knackigen Beschreibungen gekonnt und sinnlich greift. Sofort wird es auch visionär, offenkundig unserer Zeit voraus trifft ein Mann namens Lawrence in einem kleinen Cafè auf eine Person des Konzerns DIANIMA – oder ist es eine KI? – und berichtet dieser von einem Zwischenfall auf dem Archipel Con Dao, das jahrelang sein Lebensmittelpunkt war und auf dem er sich als Tauchlehrer und Veranstalter von Tauchgängen verdingte. Beim Tauchgang zu einem Wrack kam es dabei zu einem rätselhaften Vorfall, der der Auslöser für den weiteren Gang der Handlung war. Dieses erste Kapitel ist kurz und direkt mehr als spannend, setzt ganz viele Informationen und Fragen frei und endet so, dass die lesende Person, die es sowieso schon mit jeder Zeile gespürt hat, nun ganz sicher weiß: Hier ist etwas überhaupt nicht okay. Ein perfekter Einstieg in einen Thriller! Lawrence ist offenkundig bei seinem Tauchgang ungewollt auf eine besondere Existenzform, eine Spezies des Riesenkraken gestoßen – und nicht nur er ist davon fasziniert, sondern auch viele andere, vor allem jedoch der Konzern DIANIMA, der den Archipel Con Dao deshalb aufkauft, alle Menschen evakuiert und entschädigt und ab dann alles tut, um dieser Lebensform auf die Spur zu kommen. Ist dieses Wesen vielleicht der Schlüssel zur Zukunft, eine Möglichkeit, dem Wesen aller Dinge auf die Spur zu kommen und die KI als eine nur lächerliche Konstruktion erscheinen zu lassen? Die Meeresforscherin Dr. Ha Nguyen, eine Künstliche Intelligenz oder weit mehr als das namens Evrim und eine wahre Kampfmaschine Altantsetseg begeben sich zusammen auf die Reise zu einer neuen Spezies, dem Octopus Habilis – und je näher sie diesem Wesen rücken, desto tiefer werden auch die Erkenntnisse über die eigene Spezies.
Die Stimme der Kraken verhandelt auf wirklich brillante Weise die Themen der Existenzphilosophie: Was ist das Sein? Wann beginnt Bewusstsein? Gibt es ein Selbst? Freien Willen? Wo fängt menschliches Leben an? Sind wir als Spezies wirklich so besonders? All das ist eingebettet in ein dystopisches Setting, in dem Menschen als Sklaven gehalten werden, unser Ökosystem Erde bis an den Rand ausgebeutet wird, Wissenschaft korrumpierbar ist, KIs sich unter die Menschen mischen und es immer schwieriger ist, sie zu indentifizieren, KIs teils spooky sind, teils roboterhaft, teils aber auch die besseren Menschen, eine Welt, in der der Mensch als optimierbar und ersetzbar erscheint, aber doch auch immernoch existiert, eine Welt, die oft wie ausgehöhlt wirkt, doch in ihr pumpen die Tentakel des Lebens – und des Kraken.
Die Handlung verfolgt dabei mehrere Ebenen und Systeme, diese sind gut markiert und die Wechsel dazwischen sind gut nachvollziehbar. Ein Clou ist das Buch im Buch, es gibt viele Verweise auf ein Buch der wissenschaftlichen Hauptfigur Dr. Ha Nguyen „Wie Meere denken“, die mich sehr zum Nachdenken gebracht haben. Fast schon schade, dass dieses Buch noch nicht geschrieben wurde in unserer Realtität, das würde ich gerne lesen Und ein weiteres Buch im Buch ist das Werk „Die Mauern des Geistes“ von Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan. Und ja: Diese Mauern haben wir alle. Müssen wir sie einreißen und unser Bewusstes Sein ganz neu denken?
In jedem Fall konnte ich dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen. Unbedingt auch noch erwähnen muss ich die außerordentlich schöne Gestaltung, das stoffartige Hardtop, auf dem leuchtend der Krake illustriert ist, wunderschöne Farben und ein knackiger Farbschnitt – das macht sich auch gut im Regal!
„Das Großartige und das Schreckliche der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.“ Sagt Dr. Mínervudóttir-Chan an einer Stelle im Buch. Das ist so wahr, wie dieses Buch klare 5 Sterne verdient. Unbedingte Leseempfehlung.
Ein großes Dankeschön an vorablesen.de und Tropen/J. G. Cotta für das Rezensionsexemplar!