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Veröffentlicht am 21.04.2024

Unbedingte Leseempfehlung

Die Stimme der Kraken
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Mit „Die Stimme der Kraken“ (Originaltitel: The Mountain in the Sea“ – ich habe Fragen an die übersetzende Person...), erschienen 2024 bei Tropen/J. G. Cotta, legt Ray Nayler einen Ökothriller vor, oder ...

Mit „Die Stimme der Kraken“ (Originaltitel: The Mountain in the Sea“ – ich habe Fragen an die übersetzende Person...), erschienen 2024 bei Tropen/J. G. Cotta, legt Ray Nayler einen Ökothriller vor, oder einen Wissenschaftsroman, oder einen Scifi-Kracher, oder eine Dystopie? – ich kann mich nicht entscheiden und das ist gut so, denn schon im ersten Abschnitt „Qualia“, der in die Handlung einführt wird deutlich: Hier hat mensch ein ultrakomplexes Buch in den Händen, dass sich dennoch total spannend und fluffig liest und den mensch nicht mehr aus der Hand legen möchte.
Der Thriller spielt im asiatischen Raum und der Start hat es in sich, wir tauchen direkt lebendig ein in die Atmosphäre von der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh, kurz AHZHCM, die Nayler mit wenigen knackigen Beschreibungen gekonnt und sinnlich greift. Sofort wird es auch visionär, offenkundig unserer Zeit voraus trifft ein Mann namens Lawrence in einem kleinen Cafè auf eine Person des Konzerns DIANIMA – oder ist es eine KI? – und berichtet dieser von einem Zwischenfall auf dem Archipel Con Dao, das jahrelang sein Lebensmittelpunkt war und auf dem er sich als Tauchlehrer und Veranstalter von Tauchgängen verdingte. Beim Tauchgang zu einem Wrack kam es dabei zu einem rätselhaften Vorfall, der der Auslöser für den weiteren Gang der Handlung war. Dieses erste Kapitel ist kurz und direkt mehr als spannend, setzt ganz viele Informationen und Fragen frei und endet so, dass die lesende Person, die es sowieso schon mit jeder Zeile gespürt hat, nun ganz sicher weiß: Hier ist etwas überhaupt nicht okay. Ein perfekter Einstieg in einen Thriller! Lawrence ist offenkundig bei seinem Tauchgang ungewollt auf eine besondere Existenzform, eine Spezies des Riesenkraken gestoßen – und nicht nur er ist davon fasziniert, sondern auch viele andere, vor allem jedoch der Konzern DIANIMA, der den Archipel Con Dao deshalb aufkauft, alle Menschen evakuiert und entschädigt und ab dann alles tut, um dieser Lebensform auf die Spur zu kommen. Ist dieses Wesen vielleicht der Schlüssel zur Zukunft, eine Möglichkeit, dem Wesen aller Dinge auf die Spur zu kommen und die KI als eine nur lächerliche Konstruktion erscheinen zu lassen? Die Meeresforscherin Dr. Ha Nguyen, eine Künstliche Intelligenz oder weit mehr als das namens Evrim und eine wahre Kampfmaschine Altantsetseg begeben sich zusammen auf die Reise zu einer neuen Spezies, dem Octopus Habilis – und je näher sie diesem Wesen rücken, desto tiefer werden auch die Erkenntnisse über die eigene Spezies.
Die Stimme der Kraken verhandelt auf wirklich brillante Weise die Themen der Existenzphilosophie: Was ist das Sein? Wann beginnt Bewusstsein? Gibt es ein Selbst? Freien Willen? Wo fängt menschliches Leben an? Sind wir als Spezies wirklich so besonders? All das ist eingebettet in ein dystopisches Setting, in dem Menschen als Sklaven gehalten werden, unser Ökosystem Erde bis an den Rand ausgebeutet wird, Wissenschaft korrumpierbar ist, KIs sich unter die Menschen mischen und es immer schwieriger ist, sie zu indentifizieren, KIs teils spooky sind, teils roboterhaft, teils aber auch die besseren Menschen, eine Welt, in der der Mensch als optimierbar und ersetzbar erscheint, aber doch auch immernoch existiert, eine Welt, die oft wie ausgehöhlt wirkt, doch in ihr pumpen die Tentakel des Lebens – und des Kraken.
Die Handlung verfolgt dabei mehrere Ebenen und Systeme, diese sind gut markiert und die Wechsel dazwischen sind gut nachvollziehbar. Ein Clou ist das Buch im Buch, es gibt viele Verweise auf ein Buch der wissenschaftlichen Hauptfigur Dr. Ha Nguyen „Wie Meere denken“, die mich sehr zum Nachdenken gebracht haben. Fast schon schade, dass dieses Buch noch nicht geschrieben wurde in unserer Realtität, das würde ich gerne lesen  Und ein weiteres Buch im Buch ist das Werk „Die Mauern des Geistes“ von Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan. Und ja: Diese Mauern haben wir alle. Müssen wir sie einreißen und unser Bewusstes Sein ganz neu denken?
In jedem Fall konnte ich dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen. Unbedingt auch noch erwähnen muss ich die außerordentlich schöne Gestaltung, das stoffartige Hardtop, auf dem leuchtend der Krake illustriert ist, wunderschöne Farben und ein knackiger Farbschnitt – das macht sich auch gut im Regal!
„Das Großartige und das Schreckliche der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.“ Sagt Dr. Mínervudóttir-Chan an einer Stelle im Buch. Das ist so wahr, wie dieses Buch klare 5 Sterne verdient. Unbedingte Leseempfehlung.

Ein großes Dankeschön an vorablesen.de und Tropen/J. G. Cotta für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 18.04.2024

Das Potenzial noch nicht ganz ausgeschöpft

Mühlensommer
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„Mühlensommer“, der Debutroman von Martina Bogdahn, ist ein extrem ehrliches Buch über das Leben auf und mit einem kleinen Bauernhof – ein Buch voller Nostalgie, Kindheitserinnerungen der 70er und 80er ...

„Mühlensommer“, der Debutroman von Martina Bogdahn, ist ein extrem ehrliches Buch über das Leben auf und mit einem kleinen Bauernhof – ein Buch voller Nostalgie, Kindheitserinnerungen der 70er und 80er Jahre, Familienbindung und Heimatgefühl, aber auch voller Härte, Zweifel, Zwist und Ohnmacht. Der etwas harmlose Titel „Mühlensommer“ täuscht darüber hinweg, dass hier durchaus auch der Winter des Lebens verhandelt wird.
Der Einstieg ins Buch ist sehr gelungen: Maria wird aus ihrem energetischen Stadtleben gerissen, ein Notfall, der Vater hat sich daheim beim Arbeiten im Wald schwer verletzt, die Mutter kann in dieser Situation den Hof nicht mehr allein stemmen, Marias Bruder Thomas ist nicht erreichbar, Maria muss jetzt unterstützen und all ihre eigenen Pläne erst einmal zurückstellen. Der Kontrast zwischen dem überhitzten Stadtleben und dem stillen Bauernhof ist atmosphärisch klar greifbar. Dabei wird die Landromantik immer wieder gut in Bezug gestellt zu der ebenfalls vorhandenen Enge des Denkens, den Regeln und Ritualen, der Grausamkeit und den vielen Pflichten, die es zu erfüllen gibt – aber eben auch den Heimatgefühlen, den lebendigen Erinnerungen an Kindheit, den Gerüchen und Geräuschen, die es eben nur dort gibt. Direkt schon spürbar die vielen Fragen an das erwachsene Marketingagenturleben von Maria, was braucht der Mensch zum Glück? Maria gerät schnell in die Schere zwischen Heimatsgefühl und doch auch vielen nicht nur guten Erinnerungen. Mit der fortschreitenden Handlung werden Familienverhältnisse und Zerrüttung und Neid deutlicher. Dabei wechselt die Perspektive beständig zwischen der Gegenwart und Erinnerungen an die Kindheit von Maria hin und her. Ich konnte als Kind der 70er mit vielem relaten. Wie so ein Hof betrachtet wird von einem Außenstehenden (immerwährender Urlaub) im Verhältnis zu Hofbesitzern (immerwährende Arbeit und Fessel) wurde gut herausgearbeitet, über allem schwebt dennoch ein Heimatsgefühl, dem man sich nicht erwehren kann, auch wenn die Vernunft weiß, was man sich da ans Bein binden würde, wenn man bleibt. Die Frage, wie es dem Vater geht, rückt dabei zunehmend in den Hintergrund, immer mehr geht es um die Frage, wie es überhaupt mit dem Hof weitergehen soll – und mit Marias Leben. Wo gehört sie hin, die doch so voller Elan und Plänen vom Hof der Eltern geflüchtet war, die das als einzige das Abitur geschafft hat, die nur in die große Stadt wollte, etwas Eigenes aufbauen, anders leben, nicht so wie die Eltern, nicht auf dem Hof. Und die nun wieder in ihrem alten Kinderzimmer sitzt und merkt, dass hier vielleicht noch mehr auf sie wartet als nur eine alte Schneekugel. Immer mehr wird klar, dass eigentlich niemand richtig glücklich ist mit dem Gewählten. Maria wächst die Stadt über den Kopf, Thomas fühlt sich auch irgendwie gefesselt, die Mutter träumt von einer Hofbäckerei statt der Plackerei mit Wald, Feld und Vieh. Aber niemand macht sich auf den Weg. Dafür muss erst der Vater im Sterben liegen. Wann erkennen wir, was uns wert ist und wer wir sind, wohin wir wollen?
Am Ende fallen viele Dinge an den richtigen Platz, allerdings fallen sie auch sehr schnell und teilweise unmotiviert. Es wäre gut gewesen, vielleicht ein paar der vielen Erinnerungsteile einzusparen und dafür der Gegenwart und dem Zusammenfinden etwas mehr Zeit und Seiten zu gönnen. Natürlich reden wir hier auch über ein erstes Buch, aber es ist schade, dass die eigentliche Hauptstory doch immer wieder gegenüber den Anekdoten aus der Vergangenheit in den Hintergrund tritt. Insgesamt hat mich das Buch an vielen Stellen sehr gut unterhalten und es zeigt ein sehr authentisches Bild von einer kleinen Landwirtschaft und all dem, was daran hängt. Aber es wird leider auch das Potenzial nicht ausgeschöpft. Vielleicht gelingt das ja dann mit dem nächsten Buch, das hoffentlich folgen wird. Denn schreiben kann Martina Bogdahn richtig gut.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de sowie Kiepenheuer und Witsch für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 16.04.2024

Ein Buch als Lecture-Performance

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
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„Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ von Dana Grigorcea ist ein Werk, das sich nicht in Schubladen stecken lässt und sich einer Rezension nahezu entzieht, zumindest einer eindeutig wertenden. Und vielleicht ...

„Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ von Dana Grigorcea ist ein Werk, das sich nicht in Schubladen stecken lässt und sich einer Rezension nahezu entzieht, zumindest einer eindeutig wertenden. Und vielleicht führt das direkt zum Kern der Sache: Der Kunst.
Doch fangen wir außen an: Beim Einband. Wirklich wunderschön kommt der Schutzumschlag daher, haptisch sehr beglückendes, festes Papier und ein fragmentarisch wolkenhaftes Design, das gleichermaßen an Puzzle wie auch Memory erinnert. Das darunterliegende Hardcover verkehrt die Farben ins Gegenteil – und auch das passt so gut zum Inhalt des Romans, der eigentlich fast eher eine Lecture Performance ist.
Zwischen den Buchdeckeln verknüpft Dana Grigorcea auf der Oberfläche zwei Jahrhunderte und zwei Geschichten, bei genauerer Betrachtung sind es doch drei, die sowohl im weiten als auch im engen Sinne die Frage stellen: Was ist Kunst? Und wer darf von sich behaupten, sie zu schaffen? Welche Eigenschaften muss ein Werk haben, dass es sich Kunst, eine Person, dass sie sich Künstler:in nennen darf? Um dieser Frage auf die Spur zu gehen, wechselt das Erzählte zunächst rasant zwischen den bildenden Künstler Constantin Avis, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Bronzeskulptur nach New York reicht, um dort seinen künstlerischen Durchbruch zu erreichen einerseits sowie andererseits der Autorin Dora, die mit ihrem Sohn Loris und einem Kindermädchen ein Schreibstipendium an der ligurischen Küste antritt, um dort einen Roman über eben diesen Constantin Avis endlich zu Papier zu bringen. Die Perspektiven wechseln in sehr kurzen Kapiteln rasant und es braucht seine Zeit, die Handlungsbögen zu durchdringen. Grigorcea fängt sehr gut die Atmoshpäre der 20er Jahre und die Dekadenz im Künstlertum ein und auch in der zweiten Geschichte an der ligurischen Küste ist das Flair sehr gegenwärtig. Beide Hauptfiguren tragen die Gemeinsamkeit, dass das Leben sie von ihrer Kunst ablenkt oder dieser im Weg steht und verhalten sich sehr hermetisch und um sich selbst kreisend, was sie nicht unbedingt zugänglich macht. Auch nicht für die Liebe.
Dem Roman liegt ein wirklich brillantes Konstruktionsprinzip zugrunde, indem die Lesenden immer einen Teil dessen schon lesen, was parallel Dora erst noch erfindet. Dieses Spiegel-Prinzip, das auch in vielen kleine Motiven auftaucht, gipfelt darin, dass an einer Stelle die Schauspielerin Alba Fantoni im Film Alba Fantoni selbst vor einem Publikum spielt, betrachtet von einem Publikum im Kinosaal, wiederum betrachtet von der diese Geschichte ja schreibenden Dora, wiederum betrachtet von uns Lesenden. Und am Ende des Buches stellen wir fest, dass Fantoni gar nicht ist, was sie scheint. Das ist schon genial ausgedacht. Was ist echt, was ist Imitation, was erzeugt in der Spanne zwischen echt und imitiert etwas Drittes, Neues?
Während die Handlungen der Kunstschaffenden voranschreiten, wird in diese Geschichten hinein noch eine dritte Geschichte erzählt, die Geschichte der Laura Cavallaro – die nicht nur als Kontrast, sondern vor allem dazu dient zu zeigen, wie sehr Dora in der Möglichkeit lebt statt im Tun, wie eigentlich alle Menschen ein Leben lang auf der Suche sind und nicht zur Ruhe kommen, nie wirklich, wie das Suchen belebender ist als das Finden, zum anderen wird dadurch deutlich, wie sehr viele Künstler:innen immer in der Theorie leben, in der Idee. Es sind viele Fragen, denen Grigorcea nachgeht, auch der nach der Unterscheidung von Kunst und Handwerk. Ihr eigenes Handwerk versteht sie dabei sehr gut, ihre schriftstellerische Qualität kann es an vielen Stellen mit der eines Thomas Mann aufnehmen, ich musste tatsächlich oft an seinen Zauberberg denken.
Viel Lob also für Idee, Konstruktion und Sprache, da könnten noch viele Details genannt werden. Und dennoch lässt das Buch und auch sein Ende mich ratlos zurück. Es werden viele Fäden angesponnen und nicht fertig gewirkt, der Blick auf die Figuren bleibt immer distanziert und nüchtern, die Beziehungen wirken fast durchweg ungesund, die Künstler:innen werden als wahnhaft klischiert, alles bleibt offen, nichts verbindet sich wirklich, auch nicht mit mir. Das alles ist sicher kein Zufall, sondern genauso gewollt, zu klug wird hier gearbeitet. Aber genau diese Klugheit lässt das Buch für mich im Abstrakten bleiben, trotz konkreter Geschichten und hat in mir nichts ausgelöst, die zugrundeliegenden Stories bleiben an der Oberfläche, der Blick auf die Kunst einseitig. Und so müsste ich für die schriftstellerische Qualität fünf Sterne geben, für das Gefallen einen. Weshalb ich mich bei drei einpendeln werde und nur vorschlagen kann, sich selbst ein Bild zu machen, in welche Richtung das eigene Pendel ausschlägt.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 04.04.2024

Wer wir sind

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
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„Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ von Alena Schröder, erschienen 2021 bei dtv, ist ein berührender Roman über die Frage, wer wir sind.
Die junge Studentin Hannah, orientierungslos ...

„Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ von Alena Schröder, erschienen 2021 bei dtv, ist ein berührender Roman über die Frage, wer wir sind.
Die junge Studentin Hannah, orientierungslos und etwas verpeilt gestrandet in einem Leben zwischen Dissertation ohne Antrieb, Affaire mit dem Prof fast nur mit Trieb, Verantwortung für eine Großmutter im Pflegeheim, Schuld daran vermutlich der Herdentrieb, stößt plötzlich durch eben diese Großmutter Evelyn auf eine ihr nicht bekannte entfernt jüdische Abstammungsgeschichte und einen verschollenen Vermeer. Auf der Suche nach mehr Informationen und dem Gemälde findet sie vieles nicht, aber etwas viel Wichtigeres doch: Einen Weg zu sich selbst, den eigenen Wünschen und Bedürfnissen, neuen Zielen oder erst einmal dem Gegenteil davon: Dem Loslassen.
Dieser Roman ist dabei so bewegend, so schwungvoll und liebevoll erzählt, so klar und ehrlich und so voller Sensorik, dass ich ihn in einem Rutsch durchgelesen habe. Und gerade jetzt sind sie wichtig, die Bücher, die uns an unsere Vergangenheit im dritten Reich erinnern und uns ermutigen, Fragen zu stellen. Das Buch stellt diese Fragen nie didaktisch oder vordergründig, aber im Hintergrund wird Geschichte immer wieder erlebbar und macht deutlich, wie wir sicher alle fündig werden in unserer Familienhistorie: Wenn wir nur anfangen zu suchen. Sind wir, was wir waren? Sind wir unsere Abstammung, die Vergangenheit? Ganz sicher nicht, aber das Wissen darum kann unser Sein präzisieren und unserem Weg eine Richtung geben. Ein großartiges Buch, das unbedingt gelesen werden will! Einzig die Liebesgeschichte der Protagonistin hätte ich so nicht gebraucht, feministisch gesprochen würde ich gerade auch Autorinnen wünschen, doch häufiger darauf zu vertrauen, dass eine weiblich gelesene Romanfigur auch ohne auskommt. Dem Lesevergnügen hat das aber keinen Abbruch getan.

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Veröffentlicht am 01.04.2024

Ein Seiltanz ins Glück

Alte Sorten
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„Alte Sorten“ von Ewald Arenz, erschienen 2019 im DuMont Buchverlag, ist ein Buch wie ein Spätsommerabend: warm, irgendwie nostalgisch, summend und glücklich machend.

Liss und Sally sind zwei Menschen, ...

„Alte Sorten“ von Ewald Arenz, erschienen 2019 im DuMont Buchverlag, ist ein Buch wie ein Spätsommerabend: warm, irgendwie nostalgisch, summend und glücklich machend.

Liss und Sally sind zwei Menschen, die auf der Oberfläche der pure Gegensatz sind, innendrin aber so gleich, dass diese zwei Seelen direkt miteinander schwingen wie Ying und Yang eben oder schwarz und weiß – erst miteinander vollkommen. Beide tragen ein Geheimnis, beide tragen tiefe Wunden. Und vielleicht geschieht das ja manchmal wirklich, dass zwei Menschen, die genau den anderen so sehr brauchen, aufeinandertreffen, ganz zufällig, und sich dann nicht mehr loslassen, ganz ohne Zwang, ganz ohne Müssen.

Alte Sorten ist ein Buch voller Melancholie und voller Hoffnung, mit einem packenden Plot, von dem ich nichts spoilern möchte, mit so viel Gefühl und so viel Schmerz, aber vor allem mit Licht! Diesem sanften Licht, das morgens über einer Wiese steht, weshalb das Setting eines alten Bauernhofes nicht besser gewählt sein könnte. Die Alten Sorten, das vergessene Wissen, das viele, was schon immer in uns wohnt, all das kann ein Weg zur Heilung sein und ein Weg raus aus unserer lauten Welt, ohne dass wir diese hassen und verdrängen müssen. Arenz wählt im Schreiben seine Worte so klug, alles ist mit so viel Genauigkeit und Bedachtsamkeit gesetzt, dass mensch hier durch eine Sternstunde des Schreibens schreiten darf und am Ende des Buches voller Sehnsucht ist, noch einmal ungelesen von vorn beginnen zu können. Weil das aber nicht geht, muss ich jetzt diese Rezension beenden, tut mir leid, ich habe keine Zeit, ich muss schnell alle anderen Bücher von Ewald Arenz lesen!

„Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: dass Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in so einer perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte.“ (S. 127) So ist dieses Buch. Unbedingt lesen.

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