Schlacht im Blut
Die Formel der Hoffnung„Beim Wettlauf gegen Polio war die Zeit wie Treibsand: Je angestrengter sie versuchte, voranzukommen, desto tiefer wurde sie heruntergezogen, bis sie feststeckte.“ (S. 291)
Vanderbilt-Hospital, Nashville, ...
„Beim Wettlauf gegen Polio war die Zeit wie Treibsand: Je angestrengter sie versuchte, voranzukommen, desto tiefer wurde sie heruntergezogen, bis sie feststeckte.“ (S. 291)
Vanderbilt-Hospital, Nashville, 1940: Nur durch eine Unachtsamkeit hat Dr. Dorothy Horstmann die Stelle als Assistenzärztin überhaupt bekommen – man hielt sie für einen Mann, weil man ihre Bewerbungsunterlagen nicht gründlich genug gelesen hatte und weibliche Ärztinnen unüblich (wenn nicht sogar undenkbar) waren. Doch Dorothy will nicht „nur“ Ärztin werden, sondern in die Forschung. Sie hat sich dem Kampf gegen Polio verschrieben, das sich immer mehr ausbreitete. Ab 1880 forderte die „Kinderlähmung“, die zum Teil auch Erwachsenen befiel, immer mehr Opfer. Wenn die Krankheit schnell genug erkannt wurde, konnte man mit Gipsverbänden, heißen Wollpackungen und der eisernen Lunge gegensteuern, aber viele Patienten blieben trotzdem ihr Leben lang gezeichnet oder überlebten nicht.
„Ich habe es satt, so oft von etwas so Winzigen besiegt zu werden, das man nicht einmal in Mikroskop sehen kann.“ (S. 130) Dorothy Horstmann ist eine sehr spannende Persönlichkeit. Ihre Vorfahren stammten aus Deutschland und hatten sich in Amerika ein gutes Leben aufgebaut, als ihr Vater an Hirnhautentzündung o.ä. erkrankte und geistig behindert blieb. Seine Andersartigkeit hat Dorothy aber nicht als Einschränkung empfunden, sondern als Gewinn. Da ihre Mutter jetzt das Geld verdienen musste, kümmerte er sich um Dorothy, zeigte ihr die Welt durch seine Augen, brachte ihr Museen und Musik nahe. Wahrscheinlich hat sie von ihm die Fähigkeit übernommen, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen und alles immer wieder zu hinterfragen. Sie war zielstrebig und sehr intelligent, stand aber leider zu selten für sich ein und ließ sich von ihren Kollegen und Vorgesetzten kleinhalten und übergehen.
„Am Ende wollen wir doch alle das Beste, für die Kinder, für alle.“ (S. 100) Beim Lesen fragt man sich unweigerlich, ob Dorothy manchmal zu blauäugig war und es ihren männlichen Kollegen wirklich um die Impfung ging, oder darum, einen Wettkampf um jeden Preis zu gewinnen. Es werden ethisch verwerfliche Tests gemacht, Ergebnisse von anderen gestohlen und als eigene ausgegeben ...
Lynn Cullen erzählt von einer Frau, die aneckte und herausstach (und dass nicht nur wegen ihrer Körpergröße), die ihr ganzen Leben der Forschung widmete, unzählige Feldstudien machte, Zahlen sammelte und Kongresse besuchte und trotzdem von der Geschichte vergessen wurde – weil sie „nur“ eine Frau war, weil sie kaum anerkannt wurde, weil sie zu spät Gelder für Studien bekam und ein Mann aufgrund ihrer Entdeckungen den Impfstoff entwickelte.
Doch damit stand sie nicht allein. Ich war erschüttert zu lesen, dass eine der Uni-Sekretärinnen promovierte Mathematikerin war und die Statistiken zu der Verbreitung der Polio-Fälle, die die Männer zwar machten, aber nicht auswerteten, längst interpretiert hatte. Oder das eine andere Assistentin, die sich bei der Arbeit angesteckt hatte, querschnittsgelähmt im Rollstuhl saß und ihre Hände kaum noch bewegen konnte, trotzdem weiter Auswertungen machte. Diese Frauen stehen für viele, die nicht gesehen wurden, die für ihre Arbeit lebten und ihr Privatleben dahinter zurück stellten.
Ein interessantes Buch über eine sehr spannende, leider vergessene Wegbereiterin.