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Veröffentlicht am 08.10.2023

Schlacht im Blut

Die Formel der Hoffnung
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„Beim Wettlauf gegen Polio war die Zeit wie Treibsand: Je angestrengter sie versuchte, voranzukommen, desto tiefer wurde sie heruntergezogen, bis sie feststeckte.“ (S. 291)
Vanderbilt-Hospital, Nashville, ...

„Beim Wettlauf gegen Polio war die Zeit wie Treibsand: Je angestrengter sie versuchte, voranzukommen, desto tiefer wurde sie heruntergezogen, bis sie feststeckte.“ (S. 291)
Vanderbilt-Hospital, Nashville, 1940: Nur durch eine Unachtsamkeit hat Dr. Dorothy Horstmann die Stelle als Assistenzärztin überhaupt bekommen – man hielt sie für einen Mann, weil man ihre Bewerbungsunterlagen nicht gründlich genug gelesen hatte und weibliche Ärztinnen unüblich (wenn nicht sogar undenkbar) waren. Doch Dorothy will nicht „nur“ Ärztin werden, sondern in die Forschung. Sie hat sich dem Kampf gegen Polio verschrieben, das sich immer mehr ausbreitete. Ab 1880 forderte die „Kinderlähmung“, die zum Teil auch Erwachsenen befiel, immer mehr Opfer. Wenn die Krankheit schnell genug erkannt wurde, konnte man mit Gipsverbänden, heißen Wollpackungen und der eisernen Lunge gegensteuern, aber viele Patienten blieben trotzdem ihr Leben lang gezeichnet oder überlebten nicht.

„Ich habe es satt, so oft von etwas so Winzigen besiegt zu werden, das man nicht einmal in Mikroskop sehen kann.“ (S. 130) Dorothy Horstmann ist eine sehr spannende Persönlichkeit. Ihre Vorfahren stammten aus Deutschland und hatten sich in Amerika ein gutes Leben aufgebaut, als ihr Vater an Hirnhautentzündung o.ä. erkrankte und geistig behindert blieb. Seine Andersartigkeit hat Dorothy aber nicht als Einschränkung empfunden, sondern als Gewinn. Da ihre Mutter jetzt das Geld verdienen musste, kümmerte er sich um Dorothy, zeigte ihr die Welt durch seine Augen, brachte ihr Museen und Musik nahe. Wahrscheinlich hat sie von ihm die Fähigkeit übernommen, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen und alles immer wieder zu hinterfragen. Sie war zielstrebig und sehr intelligent, stand aber leider zu selten für sich ein und ließ sich von ihren Kollegen und Vorgesetzten kleinhalten und übergehen.

„Am Ende wollen wir doch alle das Beste, für die Kinder, für alle.“ (S. 100) Beim Lesen fragt man sich unweigerlich, ob Dorothy manchmal zu blauäugig war und es ihren männlichen Kollegen wirklich um die Impfung ging, oder darum, einen Wettkampf um jeden Preis zu gewinnen. Es werden ethisch verwerfliche Tests gemacht, Ergebnisse von anderen gestohlen und als eigene ausgegeben ...

Lynn Cullen erzählt von einer Frau, die aneckte und herausstach (und dass nicht nur wegen ihrer Körpergröße), die ihr ganzen Leben der Forschung widmete, unzählige Feldstudien machte, Zahlen sammelte und Kongresse besuchte und trotzdem von der Geschichte vergessen wurde – weil sie „nur“ eine Frau war, weil sie kaum anerkannt wurde, weil sie zu spät Gelder für Studien bekam und ein Mann aufgrund ihrer Entdeckungen den Impfstoff entwickelte.
Doch damit stand sie nicht allein. Ich war erschüttert zu lesen, dass eine der Uni-Sekretärinnen promovierte Mathematikerin war und die Statistiken zu der Verbreitung der Polio-Fälle, die die Männer zwar machten, aber nicht auswerteten, längst interpretiert hatte. Oder das eine andere Assistentin, die sich bei der Arbeit angesteckt hatte, querschnittsgelähmt im Rollstuhl saß und ihre Hände kaum noch bewegen konnte, trotzdem weiter Auswertungen machte. Diese Frauen stehen für viele, die nicht gesehen wurden, die für ihre Arbeit lebten und ihr Privatleben dahinter zurück stellten.

Ein interessantes Buch über eine sehr spannende, leider vergessene Wegbereiterin.

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Veröffentlicht am 05.10.2023

Weihnachten im Glück-lichen Waschsalon

Frau Glück und die Winterlichter
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„Hauptsache, Elvis lebt.“ (S. 8) Seit 45 Jahren betreibt Gerda Glück einen Waschsalon im Frankfurter Norden. Gestartet sind sie und ihre Mutter damals mit 10 Waschmaschinen, denen Gerda die Namen berühmter ...

„Hauptsache, Elvis lebt.“ (S. 8) Seit 45 Jahren betreibt Gerda Glück einen Waschsalon im Frankfurter Norden. Gestartet sind sie und ihre Mutter damals mit 10 Waschmaschinen, denen Gerda die Namen berühmter SchauspielerInnen und SängerInnen gegeben hat, doch kurz vor Weihnachten 2008 gibt auch Rock Hudson den Geist auf. Jetzt ist Elvis ist letzte Maschine, die noch läuft.
Eigentlich kann Gerda schon länger nicht mehr von dem Salon leben. Sie hat zwar jeden Tag Kundschaft, aber die meisten besuchen sie nur auf einen Schwatz, auf Kaffee oder Tee und Kekse, die sie ihnen meist noch nicht mal berechnet. Nur wenige kommen zum Wäschewaschen, wie der ehemalige Finanzbeamte Karl, der bei ihr mit seinem Morgenkaffee in den Tag startet und im Laufe der Jahre zu ihrem besten Freund geworden ist. „Heute waren sie nur noch zwei alte Leute, die vor einer ebenso alten Waschmaschine saßen und mehr in der Vergangenheit als in der Zukunft lebten.“ (S. 110)
Doch nicht nur die Waschmaschinen, auch das Haus, das Gerda und ihre Mutter damals gekauft haben, ist in die Jahre gekommen. Regelmäßig springen die Sicherungen raus, vor allem im Advent, wenn Gerda ihren sowieso schon sehr bunten Laden in ein glitzerndes, blinkendes, musikalisches Weihnachtswunderland verwandelt. Aber noch kann sie sich nicht von ihm trennen, denn sie wartet seit 45 Jahren darauf, dass ihre große Liebe wiederkommt: „… vielleicht würde Jason eines Tages zurückkehren und so wie an jenem Novemberabend 1963 einfach in der Tür stehen. Er musste sie doch finden können. Wenn sie fortging, würde es dieses Wiedersehen niemals geben.“ (S. 20)

Bei Gerda kommt einfach keine Weihnachtsstimmung auf. Sie muss endlich eine Entscheidung wegen ihres Hauses und Geschäfts treffen, denn lange werden Notreparaturen nicht mehr halten. Aber „Dieser Ort war ihr Zuhause und nicht nur ein Platz zum Wäsche waschen.“ (S. 56) Außerdem erinnert sie sich gerade in dieser Zeit an die wenigen Wochen mit Jason, in denen sie sich kennengelernt, verliebt und ihre gemeinsame Zukunft geplant hatten. Wegen ihm hat sie sich nie wieder für einen anderen Mann interessiert und das Leben an sich vorbeiziehen lassen, dabei gibt es seit Jahren jemanden, der gern Jasons Platz einnehmen würde, sich aber nicht traut.
Um sich von ihren Problemen abzulenken, hilft sie den anderen Bewohner ihrer Straße, befolgt ihre Tipps aber selbst nicht.

Anna Liebig hat die vorweihnachtliche Stimmung in Frankfurt sehr gut eingefangen, den Weihnachtsmarkt auf dem Römer mit seinen Delikatessen, die bunten Lichter und die Musik. Auch der kleine Esel und das Karussell aus ihren beiden vorigen Weihnachtsbüchern tauchen kurz auf.
Geschickt flicht sie Gerdas Erinnerungen an die Zeit mit Jason ein, sodass man nicht zu früh erfährt, was damals eigentlich schief gegangen ist. Lag es daran, dass Beziehungen zwischen Deutschen und ehemaligen Besatzern verpönt waren und sich Gerda vor den Vorurteilen der Leute schämte? Wollte sie ihre Mutter nicht allein lassen, die außer ihr niemanden mehr hatte? Oder lag es an etwas ganz anderem?

„Frau Glück und die Winterlichter“ ist eine leicht melancholische, wunderbar hoffnungsvolle und romantische Weihnachtsgeschichte, in der nicht nur Gerda auf die große Liebe hofft.

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Veröffentlicht am 03.10.2023

Das Haus der blauen Kinder

Winterherz
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„Sie werden sehen, die sind alle blau, die Herzkranken.“ (S. 8) Kurz vor Weihnachten wird der 14jährige Wilhelm von seiner Mutter aus Berlin ins Sanatorium Gottleuba bei Dresden gebracht. Erst vor wenigen ...

„Sie werden sehen, die sind alle blau, die Herzkranken.“ (S. 8) Kurz vor Weihnachten wird der 14jährige Wilhelm von seiner Mutter aus Berlin ins Sanatorium Gottleuba bei Dresden gebracht. Erst vor wenigen Wochen wurden bei ihm schwere Herzprobleme festgestellt, aber selbst in der berühmten Charité hat man nicht herausfinden können, welche Krankheit er hat. Doch sie scheint galoppierend voranzuschreiten, niemand weiß, ob er Weihnachten noch erlebt.
In seinem Viererzimmer, dass er sich mit Milo, Edgar und Bruno teilt, ist er der Jüngste und augenscheinlich Gesündeste, den ihm fehlen (noch) die typischen blauen Lippen. Und er ist der Unternehmungslustigste, denn „Ich will Abenteuer erleben und nicht vor Langeweile sterben.“ (S. 63) Damit manövriert er sie immer wieder in gefährliche Situationen, aber die vier Freunde haben endlich wieder Spaß am Leben. Doch in einem Heim, das von starren Regeln geprägt ist, ist Individualität unerwünscht ...

Die Geschichte der Jungen ist sehr berührend, denn sie sind dem Tod geweiht und wissen das auch. Jeder Tag ist ein Geschenk. Die Ärzte können ihnen nicht mehr helfen, ihre Leiden durch die Kur nur lindern und ihnen dadurch vielleicht etwas mehr Lebenszeit schenken, in der sie allerdings nicht viel von dem machen dürfen, was Jungs in dem Alter Spaß macht. „Du wirst tot sein, mein Freund. Wie wichtig sind dir diese Regeln, wenn es um eine Abenteuer geht?“ (S. 80)

Für Wilhelm ist es besonders schlimm, weil er erst seit kurzem krank ist. Er hat Angst, ist zum ersten Mal von seiner Mutter getrennt und darf nicht mit ihr telefonieren, dabei macht er sich aus einem ganz bestimmten Grund Sorgen um sie. Und er entdeckt die Liebe, erst zu einer Schwesternschülerin und durch sie zu Büchern.
Edgar ist schon 18, verlobt und hat heimlich Hanteln in die Kur geschmuggelt, um weiter trainieren zu können. Denn wenn er schon sterben wird, will er dabei wenigstens gut aussehen.
Bruno ist eine echte Leseratte und hat unzählige Bücher dabei, um in ihnen die Abenteuer zu erleben, von denen er nur träumen kann: „Sie helfen mir, viele Leben zu haben.“ (S. 17)
Milos ist dunkelhäutig, weil sein Vater, den er nie kennenlernen durfte, aus Mosambik stammt. „Mein Vater wurde in sein Land zurückgeschickt, bevor ich geboren wurde. Er durfte meine Mutter nicht lieben. Es war bei Strafe verboten. Ich bin ein verbotenes Kind.“ (S. 19)

Ralf Günthers „Winterherz“ weckt bei mir sehr ambivalente, bittersüße Erinnerungen. Ich bin in Dresden geboren und aufgewachsen und war als Kind jeden Sommer (insgesamt 10- oder 11-mal) für jeweils 6 Wochen in Bad Gottleuba zur Kur. Ich erkenne die beschriebene Treppe und die Gebäude wieder und habe genau das erlebt, was der Autor beschreibt. Die Kuren fanden getrennt nach Geschlechtern statt, es gab nur über Briefe Kontakt zu den Familien und alles unterlag extrem strengen Regeln, an die man sich gefälligst zu halten hatte. Kein schönes Klima für Heranwachsende. Die mehr oder weniger versteckte Kritik am DDR-Regime kann ich sehr gut nachvollziehen.
Die Gebäude waren bei uns allerdings alle wieder aufgebaut und ich glaube, die erwähnte Zisterne war das kleine Schwimmbecken im Keller des Haues, in dem ich immer gewohnt habe. Und wir mussten uns die Wannen für die Schwefel- und Moorbäder nicht mehr teilen ...

Mein Fazit: Eine herzzerreißende Weihnachtsgeschichte über Freundschaft, über Leidensgenossen, bei den das Sterben zum Alltag gehört, über ihre gemeinsamen Träume und (vielleicht letzten) Abenteuer …

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Veröffentlicht am 02.10.2023

Ein Leben für die Mode

Der Glanz der Zukunft. Loulou de la Falaise und Yves Saint Laurent
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„Ich kenne keinen Menschen, der so besessen von Kleidern und Accessoires ist wie Du.“ „Nun, es macht mir Spaß, meine Garderobe auf meine eigene Weise zu gestalten. Es ist wie ein Abenteuer mit ungewissem ...

„Ich kenne keinen Menschen, der so besessen von Kleidern und Accessoires ist wie Du.“ „Nun, es macht mir Spaß, meine Garderobe auf meine eigene Weise zu gestalten. Es ist wie ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.“ (S. 83)
1966: Louise le Bailly de la Falaise ist 18, als sie von ihrer Mutter aus New York nach London geschickt wird, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Nach vier sehr freien Jahren in der New Yorker Kunst- und Kulturszene „quält“ ihre Großmutter, Lady Rhoda Birly, sie jetzt mit Ballettstunden und Festivals, auf denen Louise ihre selbstgeschriebenen Gedichte vortragen muss und passenden Ehemännern in spe vorgestellt wird. Dabei würde sie ihre Freiheit gern noch ein bisschen genießen und lieber weiter durch Ateliers und über Flohmärkte streifen, um sich zu ihrer auffälligen Garderobe inspirieren zu lassen.
Schnell findet sich der perfekte Ehemann – der letzte Ritter Irlands. Desmond Fitz Gerald, The Knight of Glin, ist 10 Jahre älter als Louise und beeindruckt sie mit seiner Weltgewandtheit, Erfahrung, Abstammung und seinem Freundeskreis, zu dem u.a. Mick Jagger gehört. Ihre Großmutter und Eltern sind begeistert, alles wird arrangiert, ohne nach ihrer Meinung zu fragen. Doch ihr ausgeflippter Stil, der Desmond vor der Ehe gefiel, passt so gar nicht auf sein irisches Schloss und zu seiner Ehefrau. Auch, dass sie einen Schreibmaschinenkurs macht und als Moderedakteurin beim Queen-Magazin arbeitet, gefällt ihm nicht. Die Ehe scheitert. Sie geht nach New York und Paris, taucht noch tiefer in die Modewelt ein und lernt Yves Saint-Laurent kennen …

Michelle Marly verwebt in ihrem neuesten Buch geschickt Realität und Fiktion und bringt mir eine bemerkenswerte Frau näher, die ich bisher nicht kannte. Das Buch liest sich wie das Who-is-Who der 60er und 70er, lässt Modeikonen, Fotografen, Balletttänzer, Maler, Schauspieler und Musiker dieser Zeit wieder lebendig werden.

Louise wurde nach der Scheidung ihrer Eltern hauptsächlich von ihrer Mutter, einem früheren Modell und It-Girl erzogen, die sich für ihre Tochter den sicheren Hafen einer guten Ehe erhoffte. Sie versuchte Louise nach ihrem Vorbild zu formen und mischte sich in wirklich alles ein. Dabei wollte die nichts anderes, als sich durch (ihre) Mode ausdrücken und selbst verwirklichen. Als Loulou de Falaise erfand sie sich neu, brachte endlich ihr wahres Ich zum Vorschein. „Ihre größten Ziele waren zweifellos nicht die Liebe oder gar Versorgung fürs Leben, sondern Selbständigkeit und Erfolg.“ (S. 248) Sie war eine junge Frau zwischen Tradition und Moderne, zwischen Burberry und Flowerpower, zwischen Haute Couture und Flohmarkt. Sie startete als Modell, wurde Mode-Assistentin, (Schmuck-)Designerin und ließ sich von allem inspirieren, was sie umgab.

Anders als man beim Buchtitel vermuten könnte, spielt Yves Saint-Laurent nur eine Nebenrolle, trotzdem bekommt man einen guten Eindruck von ihm und seiner Arbeitsweise. Er ist extrem schüchtern und introvertiert, arbeitet bis zum Umfallen und vergöttert seine Mutter und Coco Chanel, die ihn leider zu einem seiner größten Fehlschläge inspirieren.

Natürlich spielen in einem Buch über diese Zeit und Szene auch Drogen eine große Rolle. Es wurde so ziemlich alles und leider oft viel zu viel konsumiert, ohne einen Gedanken an die Konsequenzen. Loulou schien sich dabei aber sehr zurückgehalten zu haben.

Ein beeindruckendes Buch über das sehr bewegte, bunte Leben einer Frau und Künstlerin, die sich selbst neu erfand und in der Mode verwirklichte.

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Veröffentlicht am 30.09.2023

Herz aus Gold

Fräulein Gold: Die Lichter der Stadt
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„… ihr ging auf, dass eigentlich nichts an ihrem Leben perfekt war. Nichts außer Meta. Und dass sie sich besser beizeiten ein Beispiel an ihrer kleinen Tochter nehmen und endlich genug Liebe für das Unvollkommene, ...

„… ihr ging auf, dass eigentlich nichts an ihrem Leben perfekt war. Nichts außer Meta. Und dass sie sich besser beizeiten ein Beispiel an ihrer kleinen Tochter nehmen und endlich genug Liebe für das Unvollkommene, das Gescheiterte, dass Zweifelhaft ihrer Existenz aufbringen sollte. Nur so könnte sie ihr Leben in etwas verwandeln, auf das sie stolz wäre.“ (S. 16)
Berlin 1929: Seit 2 Jahren arbeitet Hulda als Hebamme in der Mütterberatungsstelle am Nollendorfplatz, allerdings darf sie keine Entbindungen mehr durchführen, sondern den Schwangeren und jungen Mütter nur noch erklären, wie sie mit ihren Babys umgehen und worauf sie achten müssen. Immer öfter vermisst sie ihren alten Job, die damit verbundene Aufregung und Verantwortung. Aber dann könnte sie sich nicht ausreichend um ihre dreijährige Tochter Meta kümmern, die ein echter, sehr dickköpfiger, Sonnenschein ist.
Als die junge Schauspielerin Milli zu ihr in die Beratung kommt, weil sich ihre Tochter nicht richtig entwickelt, fallen Hulda die Hämatome an Millis Armen auf. Ihr ist sofort klar, was das bedeutet, und sie will Milli helfen. Doch die glaubt, es wäre längst zu spät dafür. Das kann und will Hulda nicht hinnehmen.
Zudem sorgt sie sich um ihre Freunde und Bekannten. In Berts Kiosk, Jettes Apotheke und das Café der Winter wurde eingebrochen. Ist eine Bande unterwegs?
Außerdem gibt es weiterhin Stress mit den Nazis. Ihr Vater, der berühmte Maler Benjamin Gold, der sich für unantastbar hielt, wird überfallen und verprügelt. „Gewalt ist stärker als Kultur und gute Sitten.“ (S. 224)
Und dann ist da ein neuer Mann in Huldas Leben, bei dem sie sich endlich wieder als Frau, und nicht nur als Mutter fühlt, aber es ist kompliziert …

„Die Lichter der Stadt“ ist bereits der 6. Band mit der sympathischen Hebamme Hulda Gold und langsam wandelt sich die Reihe vom Krimi zum Gesellschaftsroman. Anne Stern beleuchtet die Zeit, die voller politischer und gesellschaftlicher Unruhen und Umbrüche ist.
Die Handlung dreht sich um Huldas Leben als alleinerziehende Mutter, was damals noch verpönt war, den Spagat zwischen Arbeit und Privatleben. Nicht zuletzt ist sie eine Frau, die sich nach Liebe und Partnerschaft sehnt. Außerdem hat Hulda ein Herz aus Gold. Sie setzt sich für die Schwachen und Hilflosen, Vergessenen und Ausgestoßenen ein, schaut hinter die Fassade der Menschen und versucht, zu helfen. Diesmal verschlägt es sie in die Theaterszene, aber auch Kellerkneipen und Bars, die vor allem von Homosexuellen frequentiert werden, die sich dort (noch) frei fühlen können.

Mit Irma Siegel führt Anne Stern eine neue spannende Protagonisten ein. Die schon ältere weibliche Kriminalbeamtin muss sich in der Polizeidirektion und bei ihren Ermittlungen vor Ort dauernd neu beweisen, muss stets mehr leisten als ihre männlichen Kollegen und wird trotzdem selten ernst genommen. „Schicken die in der Roten Burg jetzt also wirklich schon Frauen zu Kapitalverbrechen? So schlimm steht es bei den Behörden?“ (S. 246) Die Chance, in einem Mordfall zu ermitteln, bekommt sie nur, weil der eigentlich zuständige Kollege besoffen ist. Und sie löst den Fall mit Bravour (und Huldas Hilfe).
Irma ist bärbeißig und schroff, raucht ihre Zigarillos Kette – ein echtes Original. Und sie hat einen Mann und Kinder, aber eigentlich kein Interesse an ihrer Familie. Sie sieht sich in erster Linie als Polizistin und erst in zweiter als Ehefrau und Mutter. Ich hoffe, Irma begegnet Hulda auch in den zukünftigen Büchern wieder.

Ich bin wieder begeistert, wie sehr Anne Stern in die Geschichte ihrer Stadt eintaucht und sie für die Leser erlebbar macht. Und ich liebe ihre poetischen Beschreibungen: „Wie eine greise düstere Königin kam Hulda ihr liebes altes Berlin bei Nacht vor, die sich noch ein letztes Mal die glitzernden Juwelen angehängt hatte und nicht bemerkte, dass sie selbst nur noch Haut und Knochen war. Ein Skelett auf seinem Thron mit notdürftiger Tünche über dem Totenschädel.“ (S. 113)

Seit 6 Bänden fiebere ich mit Hulda mit, die wegen ihrer jüdischen Abstammung in immer größere Gefahr gerät, beobachte gespannt ihre weitere Entwicklung und hoffe, dass noch viele Abenteuer folgen werden. 5 Sterne für dieses Lesehighlight!

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