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Veröffentlicht am 11.09.2020

Patriarchalische Strukturen + destruktive Männlichkeitsbilder erkennen und verändern

Sei kein Mann
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Ich wollte nur kurz hineinschauen und habe mich so festgelesen, dass ich das vorliegende Buch fast in einem Rutsch las.

Der Schriftsteller und ehemalige Sozialpädagoge stellt unser allgegenwärtiges patriarchalisches ...

Ich wollte nur kurz hineinschauen und habe mich so festgelesen, dass ich das vorliegende Buch fast in einem Rutsch las.

Der Schriftsteller und ehemalige Sozialpädagoge stellt unser allgegenwärtiges patriarchalisches System dar, untersucht das Konstrukt „Männlichkeit“ und zeigt Auswege aus diesen destruktiven Strukturen auf gesellschaftlicher sowie auf individueller Ebene.

Er beginnt mit einer kritischen Bestandsaufnahme, in der er sehr faktenreich das Patriarchat darstellt, wobei es für bereits sensibilisierte Leser*innen vielleicht nicht viel Neues gibt. (Die nebenbei gegebenen Einblicke in die kongolesische Kultur sowie die persönlichen Erfahrungen des Autors in England fand ich sehr spannend.) Er erklärt die Strukturen und Dynamiken und zeigt, wie die Rechte der Männer gegenüber den Rechten der Frauen geschützt und priorisiert werden. Er geht auf die me- too Debatte ein, „Privilegiert zu sein bedeutet, nicht verurteilt zu werden!“ Zudem thematisiert er Diskriminierungen, aufgrund von Hautfarbe und Sexualität. (Super spannend empfand ich die kurzen, etwas später folgenden Ausführungen über Geschlechterfluidität in vorkolonialer Zeit!)

Darauf aufbauend untersucht er die bestehenden Männlichkeitskonstrukte. Er beschreibt, wie gesellschaftlich gesehen „ein echter Mann“ sein soll. Als ein wesentliches Merkmal benennt er das Unterdrücken von Gefühlen, das Nichtzeigen dürfen. Den Männern werde beigebracht, eine Maske zu tragen, welche „die wahren Gefühle und Probleme verdeckt“. So lautet auch der englische Originaltitel „Mask off“, den ich insgesamt etwas passender finde. Dass Gefühle kaum mehr gezeigt oder besprochen werden sollen, habe für viele Männer katastrophale Folgen, es kommt zu Entfremdung und Depression.
Einen weiteren sehr kritischen Hauptpunkt sieht er darin, dass Gewalt als ein oft priorisierter Weg gesehen wird, Konflikte zu lösen. Er fragt sich: „Wie kann es sein, dass wir als Gesellschaft männliche Gewalt eher akzeptieren als männliche Liebe?“
Deutlich zeigt er die Toxizität dieser Männlichkeitskonstrukte, die nicht nur für Frauen zerstörerisch sei, sondern auch in großem Maße für Männer, denn: „Nur ein kleiner elitärer Kreis, die Oberschicht der Männer, profitiert wirklich vom Patriarchat.“

Der Autor diskutiert nun, wie auf gesellschaftlicher Ebene ein Wandel zur wirklichen Geschlechtergleichheit gelingen kann. Er verweist auf die Wirkmächtigkeit von sozialen Medien, die Wirkkraft von Vorbildern wie Musikern und Sportlern. Er fordert einen anderen Umgang mit psychischen Erkrankungen, fordert die Thematik der Einvernehmlichkeit unbedingt in den Sexualkundeunterricht mitaufzunehmen und vieles mehr. Zudem erklärt er Feminismus und äußert sich zur Frage, ob auch Männer Feministen sein können.

Schlussendlich zeigt er ganz praxisnah in zehn Handlungsanweisungen, was Jungen bzw. heranwachsende Männer für sich und andere tun können, um sich aus den toxischen und destruktiven Männlichkeitskonstrukten befreien zu können. Ein sehr großartiges und überzeugendes Ende, welches mich aufgrund seiner Konkretheit sehr positiv überrascht hat!

Dieses humanistische Essay liest sich unterhaltsam, humorvoll und nachvollziehbar. Es zeugt von klaren Gedanken, einer feinen Beobachtungsgabe und viel Empathie. Die Sprache ist einfach, klar und manchmal recht locker,dabei aber stets seriös gehalten. Das Einbringen von Statistiken, kurzen Interviewausschnitten sowie ein Quellenverzeichnis runden das Ganze ab.

Hauptansprechpartner sind vor allem heranwachsende Männer und Frauen. Ihnen kann das Werk eine wesentliche Hilfe sein, sich selbst und bestehende Strukturen besser zu verstehen, Problemlösungen zu entdecken und eine bewusste Haltung zu entwickeln. Meinen Kindern werde ich dieses Werk auf jeden Fall in die Hand drücken!
Davon abgesehen ist das Werk für alle anderen ebenso geeignet und sehr empfehlenswert!

Veröffentlicht am 05.09.2020

Sehr empfehlenswertes Kinder- und Jugendbuch!

Adresse unbekannt - Nominiert zum Deutschen Jugendliteraturpreis
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Schon seit vier Monaten wohnt Felix mit seiner Mutter Astrid in einem Minibus in Vancouver. Seine Mutter findet keinen Job, und wenn sie einen findet, verliert sie ihn schnell wieder. Sie haben daher kein ...

Schon seit vier Monaten wohnt Felix mit seiner Mutter Astrid in einem Minibus in Vancouver. Seine Mutter findet keinen Job, und wenn sie einen findet, verliert sie ihn schnell wieder. Sie haben daher kein Geld für die Mietzahlungen.
Felix geht nach dem Sommer auf eine neue Schule, in der er seinen alten Freund Dylan wieder trifft. Zu den beiden gesellt sich schon bald die schlaue, aber auch recht wenig beliebte Winni aus ihrer Französischklasse. Die drei schreiben Artikel für den französischen Teil der ansonsten englischsprachigen Schülerzeitung. Winni nervt zwar, aber eigentlich ist sie auch ganz nett...ziemlich nett sogar..:)
Felix Lage spitzt sich allerdings immer mehr zu, da er manchmal nichts zu essen hat und auch nicht regelmäßig duschen kann.

Man erfährt alles aus der Perspektive von Felix. Anfangs berichtet er auf dem Polizeirevier seine Geschichte, wie es dazu kam, dass seine Mutter und er in einem Minibus wohnen. Was mit seiner Großmutter geschah, wer eigentlich sein Vater ist, wie sie zu dem Bus gekommen sind und wie sich das Leben im Bus anfühlt (auf Dauer nicht so gut). Aber - Felix hat nun ein wenig Hoffnung auf einen Geldgewinn, da er sich bei einer Junior Fernseh- Quiz Show angemeldet hat....

Die Geschichte hat mir wirklich wunderbar gefallen. Sie ist rund erzählt, spannend, fesselnd und witzig. Abenteuerlich, träumerisch und auch sehr liebenswürdig. Es gibt Unglücks- und auch Glücksmomente, die Begebenheiten sind überwiegend recht realistisch. Ich wurde oft berührt und konnte das Buch nicht mehr zur Seite legen.
Die drei Freunde Felix, Dylan und Winni sind mir ans Herz gewachsen (wenn sie mich auch etwas an das Harry Potter Trio erinnerten..:))

Es geht um Freundschaft, Familie, Werte, Ehrlichkeit, Geldsorgen, Obdachlosigkeit und den ganz normalen Alltag von fast Dreizehnjährigen. Es geht aber auch um eine psychisch labile Mutter. Das bereitete mir Bauchschmerzen, da dies letztlich nur hingenommen wurde, aber langfristig keine Veränderung/ Verbesserung angenommen werden kann. Diesbezüglich tat mir Felix leid und ich fand seine Situation insgesamt vielleicht etwas zu optimistisch dargestellt. Wenn gleich die Dynamik zwischen ihm und seiner Mutter sehr realistisch gezeichnet wurde.

Das Buch wird ab 10 Jahren empfohlen, ich werde es meinen erst mit 13 geben, da sie dann etwas mehr verstehen und mehr damit anfangen können.
Der Roman bereitete auch mir als Erwachsene ein großes Lesevergnügen..:)

Veröffentlicht am 04.09.2020

Unterhaltsamer 2.Teil der Reihe um DCI Jonah Sheens

Wer auf dich wartet
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Letztes Jahr las ich ich den ersten Band dieser Krimireihe. Da ich ihn nicht schlecht fand, war ich nun auf ihren Neuen neugierig.
Mord in Southhampton - Zoe, eine Kunststudentin ist tot. Ihr Ex Freund ...

Letztes Jahr las ich ich den ersten Band dieser Krimireihe. Da ich ihn nicht schlecht fand, war ich nun auf ihren Neuen neugierig.
Mord in Southhampton - Zoe, eine Kunststudentin ist tot. Ihr Ex Freund Aidan, Dozent an der Uni, war zur Tatzeit über Skype verbunden. Dabei konnte er die Geschehnisse zwar nicht direkt sehen, aber eindeutige Geräusche hören. Höchst beunruhigt informiert er die Polizei, muss sich selbst jedoch etwas bedeckt halten, da er einiges zu verbergen hat.
Das Team um DCI Jonah Sheens nimmt nun die Arbeit auf und ermittelt vorrangig in Zoes Freundeskreis. Hier gibt es insbesondere Zoes junge und depressive Freundin Angelina mit Borderline Strukturen, ihre ehemalige, sehr religiöse Mitbewohnerin Maeve, den jähzornigen und eifersüchtigen Arbeitskollegen Victor sowie Felix, den etwas merkwürdigen Vermieter. Aber auch in Zoeys Familie gibt es mehr Schein als Sein, da ihr Vater seine Alkoholabhängigkeit versteckt.

Das Team um DCI Jonah mit den Kollegen Juliette Hanson, Lightman und O`Malley wird knapp, aber prägnant und sympathisch in Szene gesetzt. Man bleibt recht distanziert und die dezenten Privatgeschichten behindern nicht die eigentliche Ermittlungsarbeit, die hier sehr im Fokus steht.

Die meisten Figuren werden zwar nicht tief, aber mit Ecken und Kanten dargestellt und verheimlichen Dinge. Sie werden mit Empathie und Wohlwollen gezeichnet, die meisten waren mir jedoch eher unsympathisch. Ich wurde etwas abgestoßen und sogar gegruselt und fühlte mich streckenweise wie in einem Psychothriller (bin aber auch eher zart besaitet), weil die meisten wirklich psychisch auf bedenkliche Weise angeschlagen schienen..:) Und zwar so, dass ich mich fragte, wie dieser Freundeskreis überhaupt funktionieren konnte…Insgesamt wirkte die Atmosphäre zumeist etwas unheilvoll und auch traurig auf mich.
Zoe wird besonders anfangs als sehr selbstbewusst und stark geschildert, doch im Verlauf zeigen sich ihre Handlungen doch eher naiv, co-abhängig und stetig helfend. Ihre Beziehung zu Aidan wird beleuchtet, gerät zwar relativ überzeugend, an manchen Stellen mir jedoch zu schwülstig und trivial.
Auch gefielen mir einige Dialoge nicht so recht, sie wirkten platt und unglaubwürdig.

Thematisch geht es um ungesunde Beziehungen, Liebesbeziehungen, Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und Co- Abhängigkeiten, um die Sinnhaftigkeit von Affairen sowie letztlich auch um Empowerment.
Viele Frauenfiguren standen hier im Mittelpunkt, das gefiel mir sehr gut. Sie werden zwar diskussionswürdig beschrieben (Schlankheitswahn, männlich- orientiert), aber es werden auch immer wieder Emanzipationsbestrebungen sichtbar.

Ich las den Krimi gut in einem Rutsch und war gefesselt. Rückblenden, Perspektivwechsel und kurze Kapitel sorgen für Spannung und ein hohes Tempo. Es gab viele vermeintliche Täter, das gefiel mir sehr gut, ich konnte gut miträtseln und es wurden oft falsche Fährten gelegt, wobei einige wenige relativ durchsichtig waren.
Einige Ähnlichkeiten zum Erstlingskrimi bestehen sowohl thematisch, als auch strukturell. So geriet auch der Showdown, der mir leider schon beim ersten Mal nicht recht gefiel, auch hier etwas unglaubwürdig und übertrieben.

Fazit: Unterhaltsamer Kriminalroman
3,5 Punkte

Veröffentlicht am 24.08.2020

Reichhaltiger Inhalt, etwas mühseliger Stil

Die Sommer
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Leyla lebt in verschiedenen Kulturen. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater ein ehemals geflüchteter staatenloser Kurde aus Syrien. Leylas Großmutter, gläubige Ezidin, lebt dort noch in einem kleinen Dorf. ...

Leyla lebt in verschiedenen Kulturen. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater ein ehemals geflüchteter staatenloser Kurde aus Syrien. Leylas Großmutter, gläubige Ezidin, lebt dort noch in einem kleinen Dorf. Leyla verbringt dort jedes Jahr ihre Sommerferien.
Als der Krieg jedoch beginnt, kann sie nicht mehr hinfahren. Stattdessen sitzt der Vater nun rund um die Uhr vor dem Fernseher und verfolgt angespannt die aktuellen Geschehnisse. Angesichts des Syrien- Krieges sowie der Gefahr durch die Daesch (IS), welche die Eziden auslöschen will, helfen sie ihren Verwandten bei der Ausreise nach Deutschland.
Zugleich erzählt der Vater seine eigene Flucht- Geschichte.
Leyla selbst fühlt sich nirgendwo richtig zugehörig, überall macht sie aufgrund ihres Andersseins Diskriminierungserfahrungen. Zudem der Krieg, der ihre Familie hochbelastet und unmittelbar betrifft, von ihren deutschen Freundinnen und Schulkameraden gar nicht wahrgenommen wird.

Viele Thematiken werden hier bearbeitet: die Kurdische Geschichte mitsamt der Unterdrückung, die Ezidische Geschichte mitsamt der Massaker, der Krieg in Syrien, das Flüchtling -Sein, das Asylrecht in seiner ungenügenden Ausprägung, das Migrant - Sein in Deutschland. Es ist zudem eine Familien- und Coming of Age Geschichte inklusive Queer-Seins. Zu viel? Einerseits ja und andererseits auch nicht. Hier wird ein durchaus realistisches Bild gezeichnet, welche unsere aktuelle Modernität abbildet, die komplex, widersprüchlich und vielgestaltig ist. Insofern finde ich das folgerichtig und gelungen.

Nicht so gelungen empfand ich den Schreibstil, die Art des Erzählens. Der Roman kam oft wie eine Aneinanderreihung von Anekdoten daher oder auch wie ein Bericht. Für mich las sich das auf Dauer beschwerlich, sehr nüchtern, zu oft emotionsarm. Wenngleich mich auch einige Szenen wirklich berühren konnten und aufgrund der detaillierten Beschreibungen auch klare Bilder entstanden, besonders vom Alltag in diesem kurdischen Dorf. Ebenso eindrücklich gelangen die Erlebnisse des Vaters sowie die Figur der Großmutter. Zwar werden die Figuren sehr distanziert geschildert, so blieb aber auch genügend Abstand, um über sie nachzudenken. Und über manche Entscheidungen, welche die Figuren treffen oder eben auch nicht treffen (Leyla in ihrer Passivität), lohnt es sich durchaus nachzudenken.

Mehrmals musste ich dennoch Pausen einlegen. Der „brave“ berichtende Schreibstil, die vielen Fakten und aneinandergereihten Anekdoten ermüdeten und langweilten mich etwas. Erst mit Zeit und paralleler Recherche "erarbeitete" ich mir diesen "Romanbericht". So informierte ich mich mit Hilfe anderer Quellen über Eziden und ezidische Kurden im speziellen und erst danach verstand ich Teile dieses Werkes besser, konnte Dinge besser einordnen und sie erhielten mehr Farbe und Hintergrund.
Mich verwirrte zum Beispiel anfangs die Verbindung von Eziden und Kurden – dies wusste ich vorher nicht und es schien mir auch aufgrund der unterschiedlichen Religionen unverständlich. Hierauf geht die Autorin leider kaum ein und thematisiert auch nicht, dass es auch große Konflikte zwischen ezidischen und muslimischen Kurden gab und gibt. Das fehlte mir. Selbstkritisch wurde mir jedoch auch bewusst, wie gern ich Menschen in bestimmte Schubladen sortieren möchte..:)

Insgesamt war das für mich ein etwas unbefriedigender Mix zwischen Bericht und Roman, der jedoch wichtige Themen anspricht, zur Völkerverständigung beiträgt, zur weiteren Auseinandersetzung anregt und damit auch ziemlich nachhallt.
3,5 Punkte

Veröffentlicht am 17.08.2020

Sehr intensiv und berührend

Was Nina wusste
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Der Klappentext fasst den Roman sehr gut zusammen. Grossman erzählt die Geschichte einer über Generationen traumatisierten Familie, die, wie man im Nachwort erfährt, auf wahren Begebenheiten beruht.

Drei ...

Der Klappentext fasst den Roman sehr gut zusammen. Grossman erzählt die Geschichte einer über Generationen traumatisierten Familie, die, wie man im Nachwort erfährt, auf wahren Begebenheiten beruht.

Drei Frauen und ein Mann: Vera, 90 Jahre, ihre Tochter Nina, um die 60 Jahre sowie Gili, 39 Jahre und Gilis Vater Rafael fahren gemeinsam nach Kroatien auf die Insel Goli Otok. Hier musste Vera fast 3 Jahre lang in einem jugoslawischen Straf- und Umerziehungslager Titos verbringen. Ihr Mann Milos hatte sich noch in Haft erhängt. In dieser Zeit verblieb ihre gemeinsame Tochter, die damals 6 jährige Nina ohne ihre Eltern. Obwohl dies nun alles schon sehr lange her ist, wird die „Familie bereits über drei Generationen vergiftet“, geprägt und traumatisiert von der Diktatur und dem Krieg. Was damals genau geschah und welche Spuren dies hinterließ, davon erzählt dieser Roman. Handlungsorte sind schwerpunktmäßig Jugoslawien vor, während und nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere das Umerziehungslager Goli Otok sowie ein Kibbuz in Israel.

Die Geschichte nahm mich sehr gefangen, entwickelte einen starken Lesesog und schuf ein beeindruckend intensives Leseerlebnis, aufwühlend, berührend und ins Innerste gehend. Schon auf den ersten Seiten kamen mir die Tränen. Angesichts des beschriebenen Leids wurde ich zu tiefem Mitgefühl angeregt, jedoch nie herunter gezogen. Es las sich zwar traurig und schmerzhaft, aber auch ein wenig schräg und humoristisch, so dass ich oft schmunzeln und auch lachen musste. Zudem beeindruckten mich diese starken Figuren sehr.

Die seelisch sehr tief gezeichneten Figuren kamen mir sehr nahe, als Leserin war ich sehr dicht an ihnen dran, obwohl man alles aus Gilis Perspektive erfährt. In den Zeiten wird immer wieder gewechselt, manchmal muss man auch sehr genau aufpassen, um zu bemerken, wessen Innenleben gerade eingefangen wird.

Rafael und Gili sind Filmemacher, daher lag es nahe, dass sie alles von ihrer Fahrt nach Goli Otok aufzeichnen, insbesondere die Gespräche miteinander. Gili fungiert zusätzlich noch als „Scriptgirl“, so dass man auch als Leser
in klare filmische Sequenzen vor Augen hat.

Bei Vera, der außergewöhnlich charismatischen, starken, tätigen und sehr hilfsbereiten Frau laufen alle Fäden zusammen. Sie wurde in einer ungarisch-jüdischen Familie geboren und heiratete den Serben Milos. Eine damals sehr ungewöhnliche, nicht allseits akzeptierte Verbindung, aber die Liebe zwischen den beiden schien ungewöhnlich stark.

Ihre Tochter Nina ist hingegen kaum greifbar, unnahbar, stets auf der Flucht, „sie ist da und zugleich abwesend“, „sowohl das verirrte als auch das schwarze Schaf“ der Familie.

Gili, die Erzählerin, steht kurz vor der Trennung, da sich ihr Lebensgefährte ein Kind wünscht. In Bezug auf ihre Mutter ist Gili sehr verbittert, wütend und böse, weil sie so früh von ihr verlassen wurde. Im Verlauf der Reise erfährt und sieht sie jedoch sehr viel und langsam verändert sich ihre Perspektive.

Die Geschichte dieser „verkappten“ Familie mit ihren starken Persönlichkeiten wird hier äußerst eindrücklich und psychologisch tief erzählt. Dabei wird die Geschichte der Juden gestreift, die Geschichte des Balkans, Krieg, Faschismus und Kommunismus. Es geht um Verlust, Verrat, Verlassenwerden, Mutterschaft, Liebe zum Kind, Liebe zum Mann und zur Frau. Und vor allem geht es um die Entstehung von Traumata, deren Langzeitfolgen, die Weitergabe an die folgenden Generationen sowie die versuchte Heilung.

Eines meiner Lesehighlights des Jahres!