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Veröffentlicht am 02.12.2025

Und wenn das alles ist, okay.

Bis zum Mond
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„Bis zum Mond“ hat mich neugierig gemacht, es einmal selbst auszuprobieren. Nein, nicht Kryptowährung, Gott bewahre, ich rede von koreanischen Hotdogs mit Zucker. Habe vorher nie davon gehört, aber einen ...

„Bis zum Mond“ hat mich neugierig gemacht, es einmal selbst auszuprobieren. Nein, nicht Kryptowährung, Gott bewahre, ich rede von koreanischen Hotdogs mit Zucker. Habe vorher nie davon gehört, aber einen Imbiss in Köln gefunden, der genau das serviert – und es schmeckt tatsächlich lecker. Allein dafür war das Buch sehr lesenswert. Sonst? Kommt vermutlich auf die Erwartungshaltung an.

Drei Freundinnen arbeiten in verschiedenen Abteilungen eines führenden Süßwarenherstellers. Sie sind ein wenig gelangweilt, auch frustriert, weil sie keine richtig guten Bewertungen bekommen und mindestens ein Teamleiter in ihren Augen die wandelnde Inkompetenz ist und den Weg auf der Karriereleiter versperrt. Wie weiterkommen? Eun-sang hat eine Idee: Kryptowährung. Während die Hauptfigur Dahae sich schnell entscheidet, ebenfalls in Etherum zu investieren, ist Ji-song deutlich zurückhaltender – und zunehmend genervt von ihren Freundinnen, die nur noch ein Thema kennen.

Wer bei Jang Ryujins Debütroman ein Drama erwartet, wird vermutlich enttäuscht. „Bis zum Mond“ ist ein relativ einfacher Unterhaltungsroman, der bei sinkendem Kryptokurs zwar kurz die Figuren schnappatmen lässt, ansonsten aber die Protagonistinnen und Leser:innen nicht allzu sehr in Aufregung versetzt. Gleichzeitig ist das Buch aber ein schöner Blick in das koreanische Leben – vom Beurteilungssystem im Büro über den Wohnungsmarkt bis zum potenziellen Eheleben. Und das ist nicht nur interessant, sondern durchaus auch unterhaltsam.

Warum es ein großer Bestseller in Korea ist, mögen andere beantworten. Das Label weckt allerdings zu hohe Erwartungen. Und schon Kettcar sangen einst „nur schade, wenn man mehr erwartet“, denn „Bis zum Mond“ wird diesen Erwartungen leider insgesamt nicht gerecht. Aber als cozy Buch über eine Frauenfreundschaft in den 20ern, mit Spitzen gegen inkompetente Männer und hoffnungsvollem Ende, ist es doch nett im besten Sinne. Und es hat mir koreanische Hotdogs nähergebracht – und wenn das am Ende alles ist, völlig okay.

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Veröffentlicht am 17.10.2025

Starke Frauenfiguren in einer deprimierenden Welt

Schwanentage
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Wie gerne hätte ich „Schwanentage“ ein wenig mehr gemocht. Es ist ein gutes Buch, keine Frage, nur leider kein sehr gutes oder großartiges. Es hat spannende Figuren, tolle Frauen, aber leider sind sie ...

Wie gerne hätte ich „Schwanentage“ ein wenig mehr gemocht. Es ist ein gutes Buch, keine Frage, nur leider kein sehr gutes oder großartiges. Es hat spannende Figuren, tolle Frauen, aber leider sind sie so gefangen in ihren Rollen, dass kein Ausbrechen möglich ist. Das mag realistisch sein, ist aber vor allem auch: deprimierend.

Yu Ling ist Kindermädchen für eine reiche Familie. Und quasi die Ersatzmutter für Kuan Kuan, den kleinen Sohn. Trotzdem plant sie mit ihrem Liebhaber dessen Entführung bis Kuan Kuans Vater und Großvater verhaftet werden und die Mutter untertaucht. Yu Lings Plan ist gescheitert, ihr Freund macht sich stattdessen mit ihren Ersparnissen vom Acker. Und Yu Ling kümmert sich, weil es ja sonst keiner macht, weiter um Kuan Kuan.

Der Anfang, das Grundgerüst, hat mich durchaus neugierig gemacht. Wohin geht diese Reise, was wird aus den Hauptfiguren, aber auch den Nebencharakteren? Davon tauchen einige interessante auf – Kuan Kuans Lehrerin, die Fitnesstrainerin des Vaters, eine geheimnisvolle Person am Telefon der Großmutter, die Mutter des Jungen. Und auch Yu Ling hat ein Geheimnis, das die Familie erst vor wenigen Monaten herausgefunden hat – sie hat Schuld auf sich genommen für ein Verbrechen, dass sie nie begangen hat.

„Schwanentage“ ist als gesellschaftskritisches Buch durchaus gelungen. Es zeigt unterschiedliche Frauenfiguren, die in verschiedenen Rollen gefangen sind. Das Kindermädchen mit einer vermeintlich kriminellen Vergangenheit. Die reiche Tochter, deren Leben vorgezeichnet war. Und einige andere. Aber keine diese Frauen vermag es aus ihrer Rolle auszubrechen. Denn Zhang Juerans Roman ist kein Märchen. Vielleicht ist das auch gut so, ich brauche auch kein Happy End, aber etwas mehr Tiefe, etwas mehr Hoffnung oder auch etwas mehr Gefühl hätte dem Buch in meinen Augen gut getan.

Witz immerhin hat es, das zeigt schon der Titel, denn der „Schwan“, den Kuan Kuan mit nach Hause nimmt und in einem Zelt einquartiert, ist ein Wahrheit eine Gans, aber alle spielen sein Spiel mit. Vermutlich ist auch das eine Metapher dafür, dass die Frauen das machen, was die Männer vorgeben. Auch wenn dieser erst sechs Jahre alt ist.

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Veröffentlicht am 26.09.2025

Verdammt realistische Coming-of-Age-Geschichte

Beste Zeiten
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Das Leben Anfang 20? Oft gar nicht mal so einfach. Auch nicht für Sickan. Ihrer Heimat ist sie in Richtung Stockholm entflohen. Weg vom Mobbing der Schulzeit, von der südschwedischen Langeweile, den Eltern, ...

Das Leben Anfang 20? Oft gar nicht mal so einfach. Auch nicht für Sickan. Ihrer Heimat ist sie in Richtung Stockholm entflohen. Weg vom Mobbing der Schulzeit, von der südschwedischen Langeweile, den Eltern, die zwar Akademiker sind, aber nichts aus sich machten. Stattdessen Studium, WG-Leben, erste Beziehungen – und alles, was daran doch nicht so golden ist, wie sie es sich ausgemalt hat.

„Beste Zeiten“ passt am besten in Anführungszeichen, denn so richtig rund läuft es nicht. Zwar wohnt sie nach einem Anfang in einem Wohnheim in einer WG mit Hanna und das in einer teuren Stockholmer Wohnung (für die sie dank Hannas wohlhabender Mutter kaum mehr zahlt als vorher). Zwar hat sie irgendwann eine Beziehung mit Abbe. Zwar ist sie die beste Studentin ihres Fachs. Aber Hanna kennt keine Grenzen, Abbe ist seltsam abwesend und plant einen Umzug nach Mexico City und das Studium lässt sie schleifen, um für andere Leute Hausarbeiten zu schreiben.

Wie schon in „Okaye Tage“, das übrigens auch immer am besten in Anführungszeichen stand, überzeugt Jenny Mustard mit einem ruhigen und doch schonungslos ehrlichen Realismus. Nichts wird beschönt, gleichzeitig aber auch nicht unnötig prekär dargestellt. Sickan erlebt typische Situationen wie Partys, Liebe und Krach. Und leider auch für viele junge Frauen typische Situationen wie Mobbing und sexuelle Übergriffe.

„Beste Zeiten“ ist dabei ein wirklich guter Coming-of-Age-Roman, wenn das Leben Anfang 20 noch zu diesem Genre zählt. Aber auch die Rückblenden sind schockierend und eindrucksvoll, besonders Sickans Erlebnisse mit 13, ohne zu spoilern. Manchmal scheint die Geschichte etwas an Fahrt zu verlieren, ein paar Seiten plätschert es mal dahin, was aber auch irgendwie gut zum Leben in diesem Alter passt, bevor es wieder an Fahrt aufnimmt. Und zu einem passenden, guten, realistischen Ende kommt.

Etwas kurios wirkt es manchmal, dass schwedische Wörter unübersetzt bleiben, in einem Roman einer Schwedin, der in Schweden spielt. Aber das scheint schon im Original so zu sein, ist „Beste Zeiten“ doch zunächst auf Englisch erschienen. Irgendwann liest man es auch einfach so mit, die meisten Wörter sind eh verständlich, der Rest lässt sich googlen.

Ganz an „Okaye Tage“ kommt ihr Zweitwerk nicht ganz, emotional zumindest. Aber Jenny Mustard entwickelt sich zu einer bedeutenden Stimme der Twenty-Somethings. Und ich bin schon sehr gespannt, welche Geschichte sie als nächstes erzählen wird – und ob der Titel zu den Vorgängern passt. Vermutlich schon.

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Veröffentlicht am 22.09.2025

Wilde Reise durch die Nacht

Afterdark
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Ich mag ja diese verdichteten Bücher, die nur in einem ganz kurzen Zeitraum spielen. Wie Murakamis Afterdark. Eine Nacht in Tokio aus den Perspektiven verschiedener Figuren. Manche begegnen sich, andere ...

Ich mag ja diese verdichteten Bücher, die nur in einem ganz kurzen Zeitraum spielen. Wie Murakamis Afterdark. Eine Nacht in Tokio aus den Perspektiven verschiedener Figuren. Manche begegnen sich, andere nicht. Ein bisschen Drama, ein bisschen Mystery, ganz viel Alltag. Ich habe das Buch zum ersten Mal vor vielen Jahren auf einer Bahnfahrt von Mainz nach Koblenz gelesen, spätabends, genau zur richtigen Zeit - und als ich ankam, war ich gerade mit dem Buch durch, habe es nahezu verschlungen und wäre gerne noch viel länger gereist, bis nach Köln oder Fehmarn, vor allem aber durch diese Geschichte. Einer meiner Alltime-Favorites.

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Veröffentlicht am 18.09.2025

Halleluja!

Monstergott
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Gut möglich, dass Caroline Schmitts zweiter Roman auf ein kontroverses Echo stoßen wird, schreibt sie doch über Menschen in einer Freikirche. Zur Beruhigung all jener, die sich bereits mit Blasphemie-Plakaten ...

Gut möglich, dass Caroline Schmitts zweiter Roman auf ein kontroverses Echo stoßen wird, schreibt sie doch über Menschen in einer Freikirche. Zur Beruhigung all jener, die sich bereits mit Blasphemie-Plakaten auf dem Weg zum Verlag machen möchten: Glaube und Religion wird in „Monstergott“ nicht kritisiert – wohl aber diejenigen, die diese bigott ausleben und andere darunter leiden lassen.

Ben und Esther sind in ihren 20ern und seit Jahren in der Freikirche aktiv, deren Gründung ihre Eltern mitbegleitet haben. Der Pfarrer ist ein hipper Typ, der mit „Ostersonntag Mindset“-Cap und Elektroroller durch die Gegend düst und vor sich hinkumpelt. Neben ihren Jobs als Krankenpflegerin und Fluglotse sind die Geschwister Teil des Lobpreis-Teams, das die Gottesdienste musikalisch untermalt, ja, sogar aufwertet. Gleichzeitig haben sie zu kämpfen. Esther mit dem Pfarrer, Ben mit sich selbst. Und dann heiratet auch noch Esthers beste Freundin – und lädt Leute aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit ein.

Hatte schon ihr Debüt „Liebewesen“ großartig gezeichnete Figuren, legt Caroline Schmitt hier noch einmal eine Schippe drauf. Ausnahmslos alle Charaktere sind schlüssig, greifbar, bekannt. Man lernt sie zu lieben oder zu hassen, je nachdem welche Rolle sie in diesem Geflecht spielen.

Wie wunderbar Esther ausrastet, als sie ihre Jugendliebe wiedertrifft, Paul, der von jetzt auf gleich weg war. Und wie sie innerlich zusammenbricht, als sie den wahren Grund dafür erfährt.

Wie Ben hadert, mit sich und seiner nie ausgesprochenen, aber doch klar skizzierten sexuellen Orientierung, die doch scheinbar der Bibel widerspricht. Wie er Hilfe sucht und dabei doch nur erniedrigt wird, genötigt wird zu einer Konversationstherapie, die mehr Schein als sein ist und ihn in nur noch tiefere Depression stößt.

Wie der scheinbar sympathische Pfarrer Esther und Ben gleichermaßen manipuliert, welche Geheimnisse er selbst verbirgt und wie klein er wird, nachdem Esther Tacheles redet. Überhaupt, wie schlüssig sich die Figuren auf diesen nicht einmal 300 Seiten entwickeln, auf dieser Tour de Force im Namen des Herrn.

Ein ganz wunderbares Buch, das nicht nur Leute anspricht, die nicht (mehr) an Gott glauben, sondern auch von Christ:innen gelesen werden sollte. Denn es zeigt, wie sehr Menschen gleichzeitig an Gott glauben und denn von vermeintlich nächstenliebenden Gemeinschaften ausgegrenzt werden können. Dabei könnte es doch so einfach sein – mit etwas mehr Empathie, Weltoffenheit und Liebe. Halleluja!

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