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Veröffentlicht am 02.02.2020

“Vater, Mutter, Kim” und diese Lücke, die bleibt.

Vater, Mutter, Kim
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“Vater, Mutter, Kim” von Eivind Hofstad Evjemo habe ich nun schon vor einer Weile gelesen und habe nach wie vor das Gefühl, diesem Roman hier nicht gerecht werden zu können. Evjemo erzählt nämlich nicht ...

“Vater, Mutter, Kim” von Eivind Hofstad Evjemo habe ich nun schon vor einer Weile gelesen und habe nach wie vor das Gefühl, diesem Roman hier nicht gerecht werden zu können. Evjemo erzählt nämlich nicht nur eine einfache Geschichte. Sie ist viel tiefgründiger und greift ganz andere Gedankenebenen an. Es geht mehrfach um den Verlust und die Trauer. Es geht um eine Familie, die ein Kind adoptiert. Es geht um Anteilnahme, um Menschlichkeit, Zurückhaltung und …

“Dieses unmittelbare Gefühl, wenn ein Damals und ein Jetzt zusammenfallen, dass etwas Unveränderliches, ja Ewiges, zwischen dem Anwesenden und dem Verlorenen entsteht. Für sie ist es wohl das, was einem Glauben am nächsten kommt. Wenn sie es fühlt, dann existiert es auch und kann nicht angezweifelt werden, denkt sie, und der Gedanke verschwindet sofort…”



Sella und Arild leben in einem kleinen Haus. Es scheint ein ruhiger, ereignisloser Tag zu sein und dann erblickt Sella das Auto ihrer Nachbarn, wie sie langsam durch die Siedlung fahren. Nach einer Woche Abwesenheit kehren sie nun endlich zurück und damit zunächst auch Sellas Hoffnung. Doch die Familie ist nicht vollständig. Ein Platz ist leer, der ihrer Tochter, die einem Terroranschlag auf Utoya zum Opfer fiel. Sella möchte ihnen ihre Anteilnahme zeigen, ihnen etwas backen. Waffeln vielleicht? Später wird sie diese in den Brotkasten legen und diese Geste immer wieder hinauszögern. Sella und Arlig kennen das Leid, die Trauer, den Verlust. Auch sie haben vor Jahren ihren Adoptivsohn Kim verloren. Sein Platz ist leer, wird es immer sein und doch lassen die Gedanken ihn nie verschwinden, geschweige denn Normalität einkehren. Rückblicke ermöglichen einen Einblick in ihr früheres Leben, den Kummer kein Kind zu bekommen, die Schwierigkeit ein Fremdes zu adoptieren, mit dessen Eigenarten fertig zu werden, gar Gewalt auszuüben und ihm doch ein zuhause und Liebe zu schenken, auch wenn dies oftmals einseitig erscheint. Und dann, dann ist da diese große Lücke, die ihr, aber auch anderen geblieben ist.



Es ist ein eher ruhiges, klares, teilweise gar beklemmendes Bild, das Evjemo hier zu Tage bringt. Aber es ist eben kein Roman, der sich mit einem turbulenten Plot brüsten kann, und das ist auch gut so, denn sonst würde es dieses feine, leicht Philosophische und Tiefgründige nur unnötig aufwirbeln, gar zerstören und den Fokus auf die Handlung lenken. Die Menschlichkeit und der Umgang mit dem Verlust steht hier im Vordergrund und das macht Evjemo sehr geschickt. Zumindest gefiel es mir sehr, dass das Hauptaugenmerk eben nicht auf diesen Anschlägen beruht, sondern die Gedanken der Protagonisten einfängt. Es ist eigentlich eher Sellas Geschichte, die hier präsent wird und ein sehr großes emotionales Abbild von Vertrauen, Liebe, Hoffnung über Trauer, Schmerz, Verzweiflung und Hilflosigkeit bereithält. Als Leser wird man hierzu zwischen den einzelnen Kapiteln bzw. Jahresausschnitten etwas hin und her geworfen und doch ist gerade dieses ‘Spiel’ wichtig um sich näher mit den einzelnen Protagonisten und ihrer Geschichte zu befassen. Und natürlich ist man zunächst etwas verwirrt, vielleicht sogar enttäuscht weil augenscheinlich kaum etwas passiert, im Text heißt es sogar: “Von oben gesehen, könnte man denken, es sei gar nichts passiert.” und doch sind diese 273 Seiten recht gewaltig, aber eben nur auf den zweiten, emotionaleren Blick.
In diesem Zusammenhang fällt mir dann auch Sarah Kuttners Roman “Kurt” ein und doch kann man beide nur bedingt miteinander vergleichen. In beiden geht es um Trauer und den Verlust. Kuttner, beschreibt eher die Verarbeitungszeit, das Tief, die Hilflosigkeit ihrer Protagonisten. Kurt ist unglücklich vom Klettergerüst gefallen und sein Vater scheint in der Welt aus Trauer gefangen. Seine Freundin versucht ihm eine Stütze zu sein und doch schaffen sie es nur gemeinsam Schritt für Schritt sich zu verstehen, sich wieder anzunähern und sich dem Leben neu zu wappnen.
Bei Evjemo ist diese Verarbeitungszeit bereits geschehen. Es ist eher die ständig mitschwingende Trauer und Erinnerungen, die noch danach aufkommen und das Leben begleiten. Der Schicksalschlag der Nachbarn, weckt die Unsicherheit, den Schmerz von damals und doch versuchen sie ihr Leben aufrecht zu halten. Vor allem Sella beschäftigt dies sehr. Und dann ist da noch die Anteilnahme am Verlust der anderen, die Skepsis, die Frage nach dem Wann. Wann ist der richtige Zeitpunkt auf die Betroffenen zuzugehen? Was werden sie denken? Und wie wäre der richtige Weg? Sella backt gerade hierfür häufiger Brötchen oder Waffeln, die sie den Nachbarn gerne vorbeibringen möchte, es ist ihre Form/Geste der Nähe und Aufrichtigkeit. Doch sie zögert den Weg hinüber zu gehen stets aufs Neue hinaus. Und diese tiefen Gedankengänge liebe ich an diesem Roman. Man fühlt sich in die Protagonistin hinein, begleitet sie, schaut, wie sie sich ihr Leben aufbaut und einiges wieder verliert, Menschen kennenlernt und verschwinden lässt. Man nimmt ihren Kummer, den Schmerz, ihre Liebesbemühungen auf, möchte eine Stütze sein, doch einem bleiben nur die Beobachtung und die Gedanken.
Das Leben kommt immer anders als man sich das selbst erhofft, manchmal unvorhergesehen schnell, manchmal ist es Arbeit, manchmal wird sie geschätzt, manchmal auch nicht und manchmal bleibt einem nur der Blick zu den ‘anderen’ und die Überwindung der eigenen Gedanken. Eivind Hofstad Evjemo – eine großartige Stimme aus Norwegen mit einem großen, unaufgeregten Roman voller Wärme, Einsamkeit und Leid.

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Veröffentlicht am 02.02.2020

Ein ereignisreicher Roman, ein geschichtsträchtiges Haus und eine tragische Freundschaft

Das Erbe
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Nachdem mir Ellen Sandbergs Roman "Die Vergessenen" vor einem Jahr noch so unglaublich gut gefallen hat, war "Der Verrat" für mich einfach eine große Katastrophe. Also das heißt nun nicht, dass man ihren ...

Nachdem mir Ellen Sandbergs Roman "Die Vergessenen" vor einem Jahr noch so unglaublich gut gefallen hat, war "Der Verrat" für mich einfach eine große Katastrophe. Also das heißt nun nicht, dass man ihren zweiten Roman nicht lesen dürfte oder er nun schlecht geschrieben wäre, aber für meinen Geschmack war es einfach zu viel Kitsch, Herzschmerz, Familienstreit, komische Vorfälle, ARD und ZDF der große Spielfilm am Abend lassen grüßen. Nun erschien vor einiger Zeit “Das Erbe”, ein wieder etwas geschichtsträchtigerer Roman, und da dachte ich, er könnte wieder mehr mit ihrem ‘ersten’ Roman mithalten, doch nun ja…



“In diesem Haus … Wie soll ich es sagen? Es steckt nichts Gutes darin. Neid, Hass, Gier. Verrat. […] Es ist so viel Leid damit verbunden. Ich habe mein Auskommen und wollte eigentlich nur herausfinden, was aus meiner Großmutter wurde. Und plötzlich bin ich zu einem Teil Jude. Das beschäftigt mich.”



Also in diesem Roman gibt es drei Handlungsstränge, die sich nach und nach vereinen und dann in zwei verschiedene Richtungen fortlaufen. Zum einem wäre da die Geschichte von Mona Lang. Im Spätsommer 2018 erfährt sie, dass ihre Großtante Klara sie als Alleinerbin einsetzte, allerdings kannten sie sich kaum. Mona wohnt seit mehreren Jahren mit ihrem Mann/Freund in Berlin und hat sich eigentlich so gut es geht von ihrer Familie abgekapselt. Seit einem tragischen Unfall, den sie überlebte, hat sich vieles angestaut, Hass und Wut dominieren ihr Verhältnis und Mona ist das schwarze Schaf der Familie. Als sie nun in München das Haus der Großtante erbt, spitzt sich vieles zu. Ihr Partner hat eine neue Liebe gefunden. Und ihre Mutter hat bereits fest mit dem Erbe und damit einem sehr teuren Gemälde gerechnet, doch das Vermögen ist um einiges größer und entfacht damit auf ein Neues Gier, Missgunst und Leid. Doch was alle bis dato nicht ahnen… dieses prunkvolle und heute 12 Millionen teure Anwesen ist aus nicht ganz freien Stücken in die Hände ihrer Familie gelangt und soll noch für einige Überraschungen sorgen.
Der zweite Handlungsstrang spielt im Jahre 1938 und blickt somit zurück auf Klara, ihre Eltern, ihre jüdische Freundin und den Vermieter Jakob Roth. Als die Unruhen beginnen und die Nationalsozialisten anfangen die Juden nach und nach zu schikanieren und zusammenzutreiben, wollen die Roths nach Amerika auswandern, doch alles kommt am Ende so ganz anders als geplant.
Und dann gibt es da noch die arbeitslose Sabine und ihre Familie aus Hamburg Harburg. Bisher blieb ihr der große Reichtum verwehrt, aber sie träumt bereits vom großen Vermögen. Und als dann noch ihre an Alzheimer erkrankte Oma in ein Pflegeheim überführt wird, macht Sabine eine Entdeckung, die ihr ganzes Leben verändern wird… Surprise.



“Weißt du was? Ich glaube, dein wahres Erbe sind die Geschichten, die sie [Klara] dir hinterlassen hat. Die Geschichte von Mirjam, ihren Eltern und einer wahren Freundschaft zwischen zwei Männern. Auf deinen Roman.””Und auf das Leben.”



Und ja, man kann es sich nun vielleicht schon denken wie alles zusammengehört, aber in diesem Buch findet noch viel, viel mehr statt. Und gerade das hat mich ja schon bei Der Verrat so furchtbar aufgeregt. In diesem ‘Teil’ geht es nun um das Erbe, den Blick in die Vergangenheit, eine zufällige Parallele zur gleichen Zeit und mehrere Menschen suchen plötzlich in ihrem Stammbaum nach Antworten. Natürlich spielen dann auch wieder eine Romanze, eine Liebesbeziehung, das Fremdgehen, Lug, Betrug und Co mit rein. Ein (versuchter) Mord, Drohungen, verschiedene Dilemmas ‘runden’ dann das Gesamtbild ab und irgendwie schafft Sandberg alias Inge Löhning auch wieder alles miteinander zu verweben und kein Detail einfach so unter den Tisch fallen zu lassen. Aber es ist einfach zu viel, durch die zahlreichen Wiederholungen und Beschreibungen der einzelnen Personen und Zusammenhänge, wird die eigentliche Geschichte so ein bisschen vom Ganzen erdrückt bzw. Löhning hat durch die ganzen plötzlichen Zwischenfälle und ‘neue spannende Ideen’ den Fokus so ein bisschen aus den Augen verloren. So ist es ein netter Unterhaltungsroman, den man auch weglegen und irgendwann wieder ergreifen und weiterlesen kann, ohne dass das Verständnis beeinträchtigt wird, schließlich passiert ja ständig was neues und so kann man immer wieder mit den Augen rollen oder gespannt durch die Seiten fliegen. Vielleicht ist dieses Viele und die Aufdröselung der ganzen Vermutungen vom Anfang auch gerade der Trick, der einen durch diesen Roman treibt, denn man hat binnen kürzester Zeit eine Idee vom Ende, wird dann mehrfach in andere Richtungen geschubst, um am Ende doch wieder bei dem zu landen, was man anfangs dachte… wenn man nun versteht was ich meine.

Ohne jetzt auf weitere, fragliche Details einzugehen zu wollen oder noch mehr zu verraten, empfehle ich diesen Roman nun jenen, die bereits Der Verrat toll fanden, wenig Zeit haben, aber trotzdem nebenbei irgendetwas spannendes und ‘liebendes’ lesen möchten oder sonst eher in diesem Liebe/Vertrauen/Verrat-Themen zuhause sind. Und alle anderen, die etwas gut recherchiertes und spannendes von Ellen Sandberg lesen möchten, greifen dann doch lieber zu Die Vergessenen, denn diese Geschichte verbindet etwas gekonnter gegenwärtige Spannung mit fraglich, moralischen Konflikten der Vergangenheit.

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Veröffentlicht am 02.02.2020

ein intensiv, komplexer Roman über Nähe, Menschlichkeit und den Wunsch nach Frieden

Schutzzone
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Mira Weidner ist eine junge Frau, die im Auftrag der UN Berichte über Krisenregionen schreibt, ihre Vision vom Frieden hegt und zwischen verfeindeten Staatsministern vermittelt. Nach verschiedenen Aufenthalten ...

Mira Weidner ist eine junge Frau, die im Auftrag der UN Berichte über Krisenregionen schreibt, ihre Vision vom Frieden hegt und zwischen verfeindeten Staatsministern vermittelt. Nach verschiedenen Aufenthalten in New York und Burundi arbeitet sie nun für die Vereinten Nationen in Genf, der sogenannten neutralen “Hauptstadt des Friedens”, doch selbst hier ist das keine leichte Aufgabe. Schutzzone enthält nun ihre Ansichten, Gedanken und Ausschnitte vom Leben und der Liebe, einen Blick auf ihre Arbeit und die damit verbundene Welt(politik). Doch während Mira beruflich eher erfolgreich ist, so stellt ihr Liebesleben einen großen Konflikt dar. Sie fühlt sich oft einsam und sehnt sich menschlicher Nähe. Als sie dann bei einem Empfang ihren alten Jugendfreund Milan wiedersieht, entwickelt sich zwischen den beiden so ein loses, affärenähnliches Techtelmechtel. Alles gerät mehr und mehr ins Wanken, verliert sich… hm ja. Ich glaube, so kann man diese Geschichte zumindest so grob zusammenfassen. Es ist eher ein Ausschnitt/eine Fragment-Zusammenstellung verschiedener Jahre und Orte, teilweise oberflächlich, distanziert, manchmal rein ‘beruflich’, manchmal aber auch sehr persönlich und wahnsinnig tiefgründig.

“Wir spielen uns klare Grenzen vor. Aber jeder Versuch, ein Land mit exakten Grenzlinien zu zeichnen, hat zu nichts als Absurditäten geführt. Daran sind mehr Menschen gestorben als an Malaria. Und dann versuchen wir es auch noch in unserem Alltag, in unseren Beziehungen und sind überrascht, wenn wir genau daran scheitern …”

Schutzzone gewährt so einen faszinierenden Blick auf das politische Treiben innerhalb der Vereinten Nationen. Aber nicht nur das, Nora Bossong beschäftigt sich sehr intensiv und klug mit den hochkomplexen Fragen nach Frieden, Schutz, Macht, Wahrheit und Gerechtigkeit. Dafür splittert sie Miras Geschichte und Erlebnisse in mehrere Fragmente, getrennt nach Orten, Jahren und eben auch nach jenen Begrifflichkeiten und Wünschen, wenn nicht sogar Utopien. Mira setzt sich mit der Politik, dem persönlichen Willen und der Hoffnung mit ihrem Einfluss für eine bessere Welt zu sorgen, auseinander und treibt selbst doch eher ziellos durch ihr privates Leben und ihre (Liebes)Beziehungen zu anderen Menschen. Und damit verbunden ist es dann nicht nur ein politischer Konflikt im großen Trubel des menschlichen Willens, der hier thematisiert wird, sondern auch die Frage nach Nähe, Verständnis und Versöhnung.
Auch wenn man dabei Mira, ihrer Geschichte und ihren Gefühlen zu Sarah und Milan seitenweise näher kommt, so bleibt der gewonnene Gesamteindruck doch eher distanziert und kühl. Man sympathisiert mit ihr und kann sie doch nur schwer greifen. Teilweise wird man als Leser von vielen verschiedenen Gedanken und Eindrücken ihrerseits überrollt, manchmal ist dies durch die fragmentarische Aneinanderreihung und den damit verbundenen Zeit- und Ortsprüngen auch so verwirrend, dass man dem Ganzen nur noch sehr schwer folgen kann. Was läuft nun genau mit Milan? Ich denke es war vorbei? Und Sarah? Gab’s da jetzt eine Affäre? Wer sagt nun was? Sind es noch ihre Gedanken oder ist es schon die Antwort? Hmm. Miras Gedanken verschwimmen recht häufig durch lange Aneinanderreihungen mit dem gesprochenen Wort und sind oftmals sehr schwierig nachzuvollziehen oder zu trennen. Manchmal driftet sie vom eigentlichen Thema ab, lässt sich auf umliegende Eindrücke ein, und springt dann bereits im folgenden Abschnitt wieder zurück. Das macht es nicht ganz leicht und bedarf sehr viel Aufmerksamkeit. Es gibt so einen Satz, der für mich irgendwie dieses Buch toll zusammenfasst: “Es gibt Protagonisten, Nebenrollen und die Staffagefiguren, die man nur braucht, um die Leinwand zu füllen, es gibt die Gesichter, Körper, skizzierte Rückenansichten, die nach einer Weile verschwinden, sich einfach auflösen, überstellt werden von ein paar Gebäuden, Lichtflecken, einer Kanone, einem Brunnen, einem Schatten, den irgendetwas außerhalb des Bildrandes wirft, […] und man blickt jemandem ins Gesicht, man fährt ihm über den Rücken, […] fühlt seine Haut, hört seine Stimme […], so dass man meint, sie hätte größere Wirklichkeit als andere Geräusche, aber es liegt allein an der Nähe, durch die alles mehr Raum einzunehmen scheint.”
So! Und gerade das, was sich im Privaten bei der Hauptperson abspielt ist dann übergeordnet für mich auch so ein kleines Gleichnis zur heutigen Erscheinung der Politik und Medienwelt. Vieles wird angerissen, herausgetrennt, viel erwartet, nichts getan, hinterfragt und doch ist es am Ende nicht das, was man sich davon erhofft. Vielleicht denke ich da nun auch schon wieder zu weit, aber das, was sie im Beruf versucht so gezielt und geordnet wie möglich in Erfahrung zu bringen, zu bewegen und abzuarbeiten, scheitert bzw. verliert sich im Privaten.
Bossong widmet diesem dann doch recht vielschichtigen Thema nicht nur auf dieser persönlichen, einen Ebene, sondern durch diese verschiedenen Ortswechsel stellt sie so ein bisschen die Weltpolitik und deren Krisen dar. New York, Genf – als größere Orte der ‘Macht’ und dann gibt’s da eben auch noch das Treiben in Burundi oder in der vermeintlichen Schutzzone auf Zypern. Und damit wirft sie dann so Beispiele in den Raum, die für viele aktuelle und vergangene Krisenherde stehen könnten. So habe ich dann auch ständig an die momentanen Unruhen im Iran gedacht, an Israel oder die eher schwierige Beziehung zu Polen, USA, China oder der Türkei. Und so hat dieser Roman dann auch sehr viel gedankliches Potential in Hinblick auf die Welt, aber auch auf das innerste Verlangen der Menschheit – der Drang nach mehr und dem entgegengesetzten Frieden und der Liebe.

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Veröffentlicht am 02.02.2020

Die Geschichte einer Frau im Taumel zwischen Glück und Unglück

Ástas Geschichte
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Ást ist Isländisch und bedeutet so viel wie Liebe. Ásta ist eine Romanfigur, an die Sigvaldi dachte, als es um die Namensfindung seiner Tochter ging. Helga stimmte dem zu und Jón Kalman Stefánsson fand ...

Ást ist Isländisch und bedeutet so viel wie Liebe. Ásta ist eine Romanfigur, an die Sigvaldi dachte, als es um die Namensfindung seiner Tochter ging. Helga stimmte dem zu und Jón Kalman Stefánsson fand diesen Gedanken anscheinend so inspirierend, dass er Ásta einen ganzen Roman widmete. "Ástas Geschichte" heißt sein neustes Werk und handelt von der Liebe, dem Verlust und dem Leben mit all’ seinen Höhen und Tiefen.



Dieses Buch ist die Geschichte eines Kindes, einer jungen Erwachsenen, einer sehnsüchtigen Frau, die Briefe an ihre große Liebe schreibt, und ein Blick auf einzelne Menschen in ihrem Leben. Ásta wird in den 50ern, sehr, sehr leidenschaftlich, am Küchentisch gezeugt. Ihr Name soll Großes bedeuten und doch scheint er ihr nicht sonderlich viel Glück zu bringen. Sie wandert stets auf dem schmalen Grad zwischen Glück und Unglück. Und so begleiten wir sie dann auch durch ihr Leben und ihre Höhen sowie Tiefen. Schon früh hat sie die ersten großen Verluste erlebt, ihre Mutter verlässt sie und Ásta wächst bei einer Ziehmutter auf. Später wird sie auf einen Hof geschickt, eine Art Erziehungsheim, da sie einem Mitschüler einen Fausthieb verpasst und ihm die Nase bricht. Dort lernt sie die Abhängigkeit, die Einsamkeit und die Fürsorge, aber auch die Nähe zwischen den Menschen und Jósef kennen. Und dann? Dann verliert sie erneut – So als sei es ein Ausgleich zu dem, was sie glücklich stimmt.
Es ist ein herber Verlust und ein noch größerer Rückschlag, der ihr ganzes Leben in neue Bahnen lenkt, ihr Menschen nimmt und sie trauern lässt. So geht es weiter, bis sie sich selbst das Leben nehmen möchte, fallen möchte, sich verlieren. Doch auch das scheitert und ihr Leben bleibt ein einziges Auf und Ab aus kurzen Gewinnen, riesigen Verlusten, großer Sehnsucht und tiefer Trauer. Es ist ein poetischer Roman zwischen Leben, Liebe… Tod und mittendrin ist eine junge Frau namens Ásta auf der Suche nach sich selbst.



“Es lässt sich nicht erzählen, ohne sich zu verirren, ohne fragwürdige Wege zu beschreiten oder weiterzugehen, ohne umzukehren, nicht einmal, sondern mindestens zweimal ­- denn wir leben in allen Zeiten”




Gerade dieses Zitat beschreibt sehr gut, wie es mir beim Lesen erging. Ástas Geschichte fand ich toll und sie hat mich immer wieder an Kent Harufs Victoria aus “Lied der Weite” erinnert. Auch sie bricht aus ihrem alten Leben heraus, kommt an einen Hof und das Leben scheint irgendwie eine Wendung zu nehmen. Ásta ergeht es ähnlich, sie wächst bei einer Ziehmutter auf, hat bereits ihre Wurzeln verloren und wird nun, nachdem sie einem Mitschüler die Nase bricht, auf einen Hof in der Westfjorde geschickt. Hier hat sie dann nicht nur ein neues Umfeld und neue Gegebenheiten, an die sie sich gewöhnen muss, sondern findet, auch wenn es ihr bis dato noch nicht so klar ist, ihre erste größere Liebe. Diese Zeit auf dem Hof, ihre Bekanntschaften mit Sex, dem anderen Geschlecht, der Abhängigkeit, Einsamkeit aber auch Sehnsucht empfand ich insgesamt als ein recht interessantes, ruhiges Wechselspiel. Sie lernt die Welt aus einer ganz anderen Sicht kennen, abgeschieden in der Pampa. Doch mit ihrer Rückkehr nahm dann das Unglück wieder seinen Lauf, vieles gerät aus den Fugen, sie ist sich unsicher, verliert ihren Lebensmut, verschiedenste Gedanken, Partner, Ortswechsel finden statt bzw. tauchen auf. Und dann ist da noch die Geschichte ihrer Familie, ihres Vaters und seiner neuen Frau, von Helga, der Ziehmutter und weiteren Verwandten, die immer wieder zwischendrin das Bild stören, komplettieren und doch häufig verwirren und den Fokus von der Hauptprotagonistn entfernen.

Am Ende habe ich so eher so eine gemischte Meinung. Jón Kalman Stefánsson hat mich streckenweise sehr fasziniert. Auch der Satz seines Romans hat mich großteils neugierig gemacht, denn es wechseln sich beinahe luftig leere Seiten und anspruchsvolle Kapitel ab, bringen zum Nachdenken und lenken den Fokus auf einzelne Sätze, Wörter und Gedanken. Und dann ist da eben der Roman als Ganzes, das zwar lesenswert ist, aber für mich gerne etwas klarer, teilweise aber auch ausschweifender und tiefgründiger werden könnte. Vielleicht ist es aber auch einfach ein typischer, isländischer Roman mit einer für mich eher unerwarteten, gar ungreifbaren Mentalität und Aussagekraft… aber das, muss ich dann doch noch etwas weiter ergründen oder, sofern sich einmal die Möglichkeit ergeben sollte, in Form einer Lesung genauer kennen lernen, denn ich habe das Gefühl, dass in diesen Zeilen noch viel mehr enthalten ist, als ich dann tatsächlich beim Lesen wahrgenommen habe.

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Veröffentlicht am 02.02.2020

der Kampf gegen das Aussterben

Die Letzten ihrer Art
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Ich gebe ja zu: Ich bin ein Lunde-Fan oder zumindest irgendwas in der Richtung. Im letzten Herbst erschien nun im btb-Verlag der dritte Teil des Klimaquartetts und doch bin ich sehr überrascht. "Die Geschichte ...

Ich gebe ja zu: Ich bin ein Lunde-Fan oder zumindest irgendwas in der Richtung. Im letzten Herbst erschien nun im btb-Verlag der dritte Teil des Klimaquartetts und doch bin ich sehr überrascht. "Die Geschichte der Bienen" war wochen-, gar monatelang in den Bestsellerlisten verzeichnet und viele haben den Bienen ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Bei "Die Geschichte des Wassers" wurde es dann bereits etwas ruhiger und von dem dritten Teil "Die letzten ihrer Art" habe ich kaum etwas vernommen. Und gerade das finde ich sehr, sehr schade. Vielleicht sehe ich das nur so, weil für mich die Bienen zwar interessant, aber im Vergleich zu den anderen am schwächsten war. "Die Geschichte des Wassers" war da irgendwie schon aktueller, realistisch vorstellbarer und zeigte viel mehr von der möglichen und nahenden Katastrophenzukunft. Leider war die Geschichte für mich nicht richtig rund bzw. nicht zu Ende erzählt, was ich damals sehr schade fand, aber jetzt mit Beendung des dritten Teils, gerade gut, denn die Tochter Louise taucht wieder auf und erzählt somit auch das abschließende Ende von Teil zwei. Und schon alleine deshalb hat sich dieses Buch für mich gelohnt, aber nicht nur das... es hat die nahende Katastrophe noch einmal von einer etwas anderen Seite gezeigt. Fern ab von Flüchtlingslagern, mit Blick auf die Tierwelt, das Wetter, die Nahrungsmittelknappheit, den eher vorstädtischen Kampf ums Überleben und den Beginn von etwas Neuem. Aber eins nach dem anderen...



In Maja Lundes Roman "Die letzten ihrer Art" gibt es wie immer drei verschiedene Erzählstränge. Mit Michail Alexandrowitsch Kowrows Bericht reisen wir in die Vergangenheit, um genau zu sein ins Jahr 1881. Er ist Zoologe und arbeitet in St.Petersburg in einem Zoo. Die Menschen legten damals noch ein bisschen mehr Wert auf Unterhaltung und Außergewöhnliches. Der einstige Star war Berta, das deutsche Nilpferd... doch irgendwann hatte sich Michail daran satt gesehen. Als ihm dann eines Tages der Schädel eines getöteten mongolischen Wildpferdes gebracht wird, ist er hin und weg von der Idee gerade diese, als ausgestorben geltenden Tiere im Zoo zur Schau zu stellen. Er plant eine Expedition in die Mongolei um weitere Exemplare zu finden und versucht das dafür dringend benötigte Geld zusammenzubekommen. Nach zahlreichen Briefwechseln gewinnt er den Abenteurer Wilhelm Wolff für sich und geht mit ihm auf diese beschwerliche Reise.

Ein Jahrhundert später treffen wir dann in der Mongolei auf die Tierärztin Karin und ihren Sohn Mathias. Gemeinsam versuchen sie eine Herde der beinahe ausgestorbenen Przewalski-Pferde in die freie Wildbahn zu entlassen. Karin lebt für diese seltene Tierart und möchte nun ihr Bestes versuchen um die aus Europa überführten Tiere nach und nach an die Wildnis zu gewöhnen. Doch am Ende ist dies deutlich schwieriger als erwartet und auch die Beziehung zu ihrem Sohn, wird damit ein weiteres Mal auf die Probe gestellt.

Und dann gibt's da natürlich noch den 'Kern' dieses Romans. Wir schreiben das Jahr 2064. Der Klimakollaps ist bereits eingetreten. Die Menschen sind seit Jahren auf der Flucht in den Norden. Trockenheit, Hitze, Regen im Überfluss, das Klima spielt verrückt, die Insekten sind großteils ausgestorben und auch die Tierwelt wurde stark ausgedünnt. Eva und ihre Tochter Isa leben gemeinsam mit ein paar bis dato noch verbliebenen Tieren auf einem kleinen Hof in Norwegen. Während alle anderen um sie herum bereits geflüchtet sind, versuchen sie so lange wie möglich hier die Stellung zu halten. Alles wirkt sehr angespannt, die Situation, die Stimmung zwischen ihnen, aber auch die Beziehung zu den restlichen Bewohnern der kleinen Ortschaft. Als dann eines Tages eine fremde, abgemagerte Frau Zuflucht sucht, stellt es sie vor eine neue Herausforderung. Und als dann auch noch kurze Zeit später die Stromversorgung komplett wegbricht, sind sie so ganz auf sich alleine stellt und auch ihr Kampf ums Überleben beginnt.



Wie man vielleicht nun schon herauslesen kann, ist das verbinde Element die Tierwelt oder besser gesagt die Wildpferde. Die einen versuchen sie zu fangen, die anderen sie auszuwildern oder sie so lange wie möglich zu erhalten. Und gerade das ist unter den jeweils vorherrschenden Umständen eine enorme Herausforderung, aber nicht nur das, denn nach dem Klimakollaps ist die ganze Welt ein nach und nach wegbröckelnder Gletscher, der kaum noch Hoffnung zulässt und für übergeordnete Bedrohungen sorgt.

Dieser Roman eröffnet so ein bisschen den Blick auf die mögliche Katastrophe der Zukunft, aber er ist auch zwischenmenschlich eine Erfahrung. Sie alle sind nicht allein, versuchen mit den Menschen um sich herum klar zu kommen und sich zu entwickeln. Gerade durch diese Erlebnisse finden sie mehr und mehr zueinander. Alle sind in irgend einer Art auf der Suche nach dem großen Glück und finden, wenn überhaupt, eher zurück zum Wesentlichen bzw. Wichtigeren im Leben. Die einen finden etwas mehr, andere verlieren oder nabeln sich ab. Und so prallen hier dann 'auf der zweiten Ebene' auch sehr unterschiedliche Geschichten aufeinander und das macht diesen Roman dann auch sehr faszinierend und bewegend. Ich rede nun bewusst etwas drum herum, denn gerade die jeweiligen Enden machen diesen Roman für mich aus. Gefühlt war es irgendwie so eine unerwartete, thematische Wendung innerhalb dieses doch recht pferdelastigen Schauspiels. Und ich bin ganz gewiss kein Pferdefreund, habe mich zeitweise sogar nur auf die Geschichte Evas fokussiert, um dann im letzten Drittel wieder alle Protagonisten 'neu' zu entdecken und ihren Erlebnissen zu verfolgen. Und dann war ich tatsächlich auch von den Pferden sehr begeistert. Es ist so eine große, vielschichtige Herausforderung, die ihren Ursprung bereits vor Hunderten von Jahren gefunden hat. Manchmal sind es gerade diese schwächeren Arten, die ohne die Hilfe des Menschen, evolutionär vielleicht sogar schon ausgestorben wären oder sich eben einfach weiterentwickelt hätten. Die Pferde, so heißt es, überlebten, weil man sie eben fing und gezielt vermehrte, ein Auge drauf warf und sich die Population erholen konnte. Und gerade das sollten wir Menschen dann auch mehr als Aufgabe unseres Könnens und Handelns betrachten. Schwächeren helfen, egal ob Mensch oder Tier. Gerade dadurch würden wir dann auch wieder mehr an einem Strang ziehen und zusammenwachsen. Vielleicht ist das nun wieder sehr reininterpretiert, aber ich empfinde jede Geschichte so ein bisschen als Zeichen der Hilfsbereitschaft, des Zusammenhalts, aber eben auch als optimistischen Kampf für das Leben und als Zuversicht, eben dass es wieder bessere Zeiten geben wird.

Dieser Roman endet mit einem Abschnitt über Mathias in der Mongolei 2019. Die Geschichte ist noch nicht vorbei und nun hoffe ich wirklich, dass sich dann in Lundes viertem Band alles noch einmal irgendwie zum Besseren wenden wird oder wartet da doch die große Katastrophe? Wir werden es erfahren.... irgendwann.

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