Nora Bossong – Schutzzone
Im Büro der Vereinten Nationen in Genf hat Mira viel zu tun, aktuell laufen die Vorverhandlungen für den Friedensprozess auf Zypern. Auf einem Empfang trifft sie Milan wieder, bei dessen Familie sie als ...
Im Büro der Vereinten Nationen in Genf hat Mira viel zu tun, aktuell laufen die Vorverhandlungen für den Friedensprozess auf Zypern. Auf einem Empfang trifft sie Milan wieder, bei dessen Familie sie als Kind einige Monate lebte und dessen Vater von einem Krisenherd zum nächsten flog und dessen Familie ihr die Welt der großen Politik öffnete. Auch Mira verfällt dem Glauben, etwas in der Welt bewegen, Frieden stiften und Unrecht ahnden zu können. Doch je mehr Katastrophen sie in Augenschein nimmt, desto mehr schwindet dieser Glaube und ihr Wirken und das der NGOs wird hinterfragt. Dient sie nur einem Selbstzweck, dem Erhalt der Organisation? Zugleich muss sie sich dann der Frage stellen, welchen Sinn sie in ihrer Lebensführung sieht und vor allem: was Milan ihr eigentlich bedeutet.
„und manchmal, nur manchmal, überkommt mich die Angst, das falsche Leben zu leben, als würde es das richtige irgendwo geben, aber man berührt immer nur den Ersatz, die Fälschung“
Nora Bossongs Roman, nominiert auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019, verknüpft geschickt unterschiedliche Themen, die ihre Protagonistin beschäftigen: die große Frage nach dem Sinn des Lebens, als junge Frau der Widerspruch zwischen Karriere und Familie und vor allem die große Politik und die Sinnhaftigkeit oder Sinnfreiheit der Friedensmissionen und wie diese vor Ort an den Plätzen unglaublicher Grausamkeiten wahrgenommen werden. Hinter allem lauert aber noch die ganz große Frage, was denn eigentlich wahr ist, wer darüber die Deutungshoheit besitzt und ob es nicht zugleich mehrere Wahrheiten geben kann. Das ist eine ganze Menge und keiner dieser Einzelaspekte ist literarisch einfach und überzeugend umzusetzen. Der Autorin gelingt es aber, diese in einer einzigen Geschichte glaubwürdig motiviert und sprachlich wie dramaturgisch überzeugend zusammenzuführen.
Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, so viel Bemerkenswertes und Erwähnenswertes bietet der Roman. Die Erzählung auf zwei Zeitebenen – Miras Erfahrungen in den unterschiedlichen Krisenregionen einerseits, das Wiedersehen mit Milan während der Genfer Zypernverhandlungen andererseits – erlaubt die zwei großen Handlungsstränge parallel entwickeln zu lassen. Die junge Frau, die mit großen Erwartungen an die Arbeit bei der UNO geht und im Laufe der Zeit einen kritischen Blick für ihr Wirken entwickelt und am Ende sogar fast kapituliert, entwickelt sich parallel zu jener Frau, die in dem Kindheitsfreund plötzlich mehr zu sehen scheint als nur einen alten Vertrauten. Unsicherheit zu Beginn, wohin soll das führen, dann scheint es Möglichkeiten zu geben, Hoffnungen erwachsen, aber die Rechnung war zu einfach, hat wesentliche Faktoren übersehen.
Auch wenn es ein ernüchterndes Fazit ist, das die Protagonistin zieht, so waren doch die Kapitel um den Genozid in Ruanda und die Verantwortung der Weltöffentlichkeit für mich die mit Abstand stärksten. Der Kolonialherrenhabitus, der nie wirklich abgelegt wird, das systematische Wegschauen, weil’s bequemer ist, die Lebenswelt der Lokalbevölkerung, die den Helfern nie wirklich zugänglich ist und überhaupt die Blase, die diese um sich herum bauen und die die Illusion trägt, dass ihre Arbeit richtig und wichtig wäre und einen Beitrag zur Gerechtigkeit leisten könnte, werden plausibel und überzeugend durch die Handlung verdeutlicht ohne so eine mahnende oder gar besserwisserische Stimme zu benötigen.
Nora Bossong entlarvt geschickt Ambivalenzen sowohl auf moralischer wie politischer Ebene und hinterfragt große Begriffe, mit denen sie Ihre Kapitel überschreibt: Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung. Ein Roman, der bisweilen unter die Haut geht und sich nachdrücklich einbrennt. Für mich der heißeste Kandidat auf den Gewinn des Buchpreises in diesem Jahr.