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Veröffentlicht am 08.04.2020

Was Glaube bewirken kann ...

Ein wenig Glaube
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"Ein wenig Glaube" von Nickolas Butler ist für mich ein sehr besonderes Buch. Im Großen und Ganzen geht es um die familiäre Liebe, die Abhängigkeit, den Glauben und irgendwie auch um die Angst und den ...

"Ein wenig Glaube" von Nickolas Butler ist für mich ein sehr besonderes Buch. Im Großen und Ganzen geht es um die familiäre Liebe, die Abhängigkeit, den Glauben und irgendwie auch um die Angst und den Verlust. Lyle und Peg Hovde leben im ländlicheren Wisconsin. Ihr erstes Glück blieb ihnen verwehrt, denn ihr Sohn Peter starb bereits nach einigen Monaten. Durch einen Zufall erfuhren sie von einem Mädchen, das ein Kind gebar und dieses einfach nicht behalten könne. Sie setzen alles daran, das Kind zu adoptieren und ihm ein behütetes Leben zu schenken. Jahre sind seit dem vergangen, Lyle und Peg sind bereits Großeltern und ihre Tochter Shiloh kehrt mit ihrem Enkelsohn Isaac wieder nach Hause zurück. Während Shiloh arbeiten fährt, kümmert sich Peg um den 5 Jährigen und zwischen ihnen scheint eine ganz besondere Bindung zu bestehen. Doch dann tritt ihre Tochter einer neuen Glaubensgemeinschaft bei. Sie verliebt sich in den Pfarrer und dem Kind werden plötzlich heilende, göttliche Kräfte nachgesagt. Während Shiloh sich nun komplett im neuen Glauben verliert, erahnen die Großeltern bereits Schlimmstes. Ereignisse und Beschuldigungen folgen und die ganze Familienbeziehung wird auf eine harte Probe gestellt. Die Tochter verliert den Glauben an ihre Eltern, sie behauptet Lyle sei ein schlechter Einfluss für Isaac, sei mit dem Teufel verbandelt. Er darf Isaac nicht mehr sehen, soll Abstand halten. Und doch will er am Ende nur eins: seinen Enkel vor dem Einfluss dieser ominösen Sekte retten und das bevor alles zu spät ist.

Nickolas Butler hat mich mit diesem Roman sehr an Kent Harufs Geschichten aus Holt, Colorado erinnert. Es ist ein eher ruhigeres, unaufgeregtes Buch, in dem der äußere Einfluss eine Familie entzwei bringt. Aber es geht wie der Titel schon verrät um den Glauben. Einmal durch diese neue Glaubensgemeinschaft, die alles durcheinander bringt, und Isaac heilende Kräfte nachsagt und auch trotz der staatlichen Verbote Heilungsgebete/-prozessionen abhält, aber es handelt eben auch vom Glauben an bessere Zeiten und an die stärkere emotionale Bindung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern und Freunden. Der Glaube wirkt hier wie ein rettender Anker, der letzte Strohhalm, der alle möglichen Kräfte noch einmal mobilisiert. Und so ist es dann auch eine ganz besondere Freundschaftsgeschichte. Ich kann da nun gar nicht so genau ins Detail gehen, denn ruhigere Romane haben ja immer den 'Nachteil', dass da nicht ganz so viel passiert, aber genau das ist die Stärke dieses Buchs. Butler fokussiert sich auf seine Protagonisten, mit jeder weiteren Seite entwickelt sich so eine traute Verbundenheit mit den Großeltern. Man spürt Lyles Verzweiflung, aber auch seine immer wiederkehrende Freude, den Glauben, seinen Optimismus und seine Einsatzbereitschaft. Dieser besondere, feinfühlige Roman basiert auf einer realen Begebenheit, bei der 2008 ein 11 jähriges Mädchen aufgrund so einer fanatischen Glaubensgeschichte ums Leben kam. Es bleibt zu hoffen, dass sich so etwas nicht noch einmal wiederholt. Glaube kann Berge versetzen/mobilisieren; Fanatismus zum frühzeitigen Ende führen. Eine sehr berührende Geschichte.

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Veröffentlicht am 01.03.2020

"Feuerland" - der fulminante Start einer Thriller-Reihe

Feuerland
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“Feuerland” von Pascal Engman ist der Auftaktroman einer neuen Thriller-Reihe handelt von organisiertem Verbrechen, illegalem Organhandel, korrupten Polizisten und irgendwie auch von Freundschaft und ...

“Feuerland” von Pascal Engman ist der Auftaktroman einer neuen Thriller-Reihe handelt von organisiertem Verbrechen, illegalem Organhandel, korrupten Polizisten und irgendwie auch von Freundschaft und Vertrauen. Gut, es jetzt kein sonderlich neuartiges Thema, denn Organhandel, Korruption und Co tauchen immer mal wieder auf, aber das Cover und die ersten Seiten haben mich dazu getrieben dieses Buch unbedingt lesen zu wollen. Alles beginnt recht harmlos mit einem Überfall eines Uhrenladens. Nichts wird gestohlen, niemand als Geisel genommen oder großartig bedroht und doch gerät dabei etwas sehr wichtiges in fremde Hände.



Vanessa Frank ist Gruppenführerin/Kriminalkommissarin einer Sondereinheit der Stockholmer Polizei oder besser gesagt sie war es, denn sie wurde betrunken am Steuer erwischt und musste nun eine Auszeit nehmen. Wir begegnen ihr das erste Mal bei ihrem Besuch einer Psychotherapie, die sie besucht, um ihren guten Willen zu zeigen. Der Job bedeutet ihr alles bzw. füllt ihren Tag und ohne diese Tätigkeit fällt sie nun in ein Loch. Sie lässt sich gerade von ihrem Mann scheiden und mit zweiundvierzig ist sie nun an einem Wendepunkt in ihrem Leben angelangt, an dem so eine Suspension einfach nicht hilfreich wäre. Sie braucht eine Beschäftigung und so stürzt sie sich dann trotz Auszeit in einen neuen Fall. Reiche Geschäftsmänner werden entführt und nach Zahlung der Lösegelder unversehrt wieder frei gelassen. Ungefähr zeitgleich verschwinden in Stockholm verwaiste Kinder von der Straße und aus Flüchtlingsunterkünften. Vanessas Schützling Nastasja, ein aus Syrien geflüchtetes Mädchen, ist eines Tages nicht wieder in ihrer Unterkunft aufgetaucht und die Ermittlerin geht verdeckt auf Spurensuche. Was sie dabei nicht ahnt, die einzelnen Fälle hängen miteinander zusammen und mit ihrer Suche nach Nastasja gerät sie dann sehr, sehr schnell ins Visier eines großen, gewalttätigen Netzwerks, das wirklich vor nichts und niemandem Halt zu machen scheint und sie um die halbe Welt jagen wird.



Mehr möchte ich dann auch noch nicht verraten, denn hier dröselt sich ein wirklich sehr brisanter Fall auf, bei dem nicht nicht nur ein Kopf rollt und der mich vor lauter Aufregung gegen Ende hin auch nicht mehr ruhig sitzen lies. Aber eins nach dem anderen, denn zunächst ist dieses Buch wirklich ein unendlicher Krampf. Nachdem mich die ersten Seiten noch so begeistern konnten, zieht sich die Geschichte ungefähr bis zur Hälfte des Buches hin. Auch der allgemeine Plot ist jetzt keine allzu große Überraschung und doch nimmt die ganze Handlung erst mit der Bedrohung Vanessas so wirklich Fahrt auf. Alles beginnt recht ruhig und die Geschichte wird auf drei Handlungsstränge verteilt. Der eine spielt in Feuerland, also Chile. In der Colonia Rhein werden in einer Klinik Organtransplantationen vorgenommen. Diese Organe stammen aus einer Bank, die seit den Neunzigern mit eingefangenen, verwaisten Straßenkindern der umliegenden Gegenden bestückt wird. Doch deren Anzahl ist endlich und so müssen Carlos und seine Männer nun neue Wege finden, an junge Organe zu gelangen. Ein Zeitungsartikel macht sie auf verschwundene Flüchtlingskinder in Schweden aufmerksam und so wollen sie nun hier ihr Glück versuchen. Das bestehende Drogennetzwerk nach Schweden macht es ihnen einfach, sie suchen nach Kontakten und breiten dann ihre Fänge aus. Im zweiten Handlungsstrang dreht sich dann alles um Nicholas und seinen Freund Ivan. Sie führen scheinbar ein ganz normales Leben, haben hier und da einzelne Probleme und versuchen nun an Geld zu kommen. Gemeinsam gehen sie in Stockholm auf Beutezug und erpressen reiche Geschäftsleute. Und dann gibt es noch Vanessa mit ihren Problemen, die Geschichte wie sie Nastasja kennenlernt und später die Spurensuche nach dem verschollenen Kind, den Kriminellen und dem Kampf um ihr eigenes Leben.

Alle Protagonisten ‘spielen zunächst’ mehr in ihrer eigenen Welt, doch im Verlauf der Geschichte überkreuzen sich die Ereignisse und die Handlung gewinnt dadurch zusehend an Spannung. Es ist so, als hätte sich nach der ersten Hälfte plötzlich ein Schalter umgelegt und die Handlung legt plötzlich den Turbogang ein. Und ab diesem Punkt kann man dieses Buch dann auch nicht mehr so einfach aus der Hand legen. Man fiebert mit den ‘guten Protagonisten’ mit, rätselt und stößt gemeinsam mit ihnen auf korrupte Gegenspieler und große Machthaber. So gerät man mit Vanessa hin und wieder in einen Hinterhalt, verläuft sich und hofft stur auf ein HappyEnd. Doch dieses wird es nicht für alle Beteiligten geben, denn es finden einfach viele große Blutbäder statt und die kriminelle Legion macht auch vor Unschuldigen keinen Halt. Und so war für mich der Verlust einzelner Charaktere und das Ende teilweise dann doch recht unerwartet. Unerwartet krass würde ich beinahe schon sagen und so gibt es einfach kein Entkommen mehr. Gegen Ende hin habe ich mir dann sogar eine halbe Nacht um die Ohren geschlagen, einfach um der Aufklärung schneller näher zu kommen, denn eine Pause einzulegen war für mich nahezu unmöglich. Und so ist es tatsächlich auch das perfekte Wochenbuch, denn während der erste Teil sich wunderbar abschnittsweise am Abend lesen lässt, umso mehr Aufmerksamkeit und freie Zeiträume am Wochenende bedarf dann die zweite Hälfte. So schlug dann auch meine Begeisterung von “Naja” auf “Woah, krasses Buch” um. Engman versteht es nach der Heranführung innerhalb dieser kurzen, abwechselnden Kapitel sehr viel Druck und Spannung aufzubauen. Natürlich kann man sich das Ende denken, denn es wäre komisch wenn bereits im ersten Teil die Ermittlerin stirbt und doch schwappt die Anspannung förmlich über und man rast durch die Seiten. Neben diesem Organhandel kommen diese Machtspiele zwischen Arm und Reich, aber auch die Abhängigkeiten der ärmeren Regionen bzw. der Menschen innerhalb der Kolonie sehr stark zum Ausdruck. Korruption dringt bis ins Polizeipräsidium und das Opfern von Menschen, dieser Machtmissbrauch, diese Habgier, diese Angst nimmt einen dann schon sehr mit. Ich bin von “Feuerland” begeistert (einziger kleiner Kritikpunkt dieser recht lange Einstieg) und hoffe nun auf eine rasche Fortsetzung, aber erst einmal brauche ich jetzt unbedingt etwas leichteres zum Abschalten.

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Veröffentlicht am 03.02.2020

"Das Vermächtnis unsrer Väter" - Angst und Schuld auf Lebenszeit.

Das Vermächtnis unsrer Väter
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Vor zwanzig Jahren geschah auf auf einer Hebrideninsel ein erschütterndes Verbrechen. Niemand hat es damals kommen sehen und dann war es plötzlich zu spät. Katrina Baird, ihr Ehemann John, ihre einjährige ...

Vor zwanzig Jahren geschah auf auf einer Hebrideninsel ein erschütterndes Verbrechen. Niemand hat es damals kommen sehen und dann war es plötzlich zu spät. Katrina Baird, ihr Ehemann John, ihre einjährige Tochter Elisabeth und der zehnjährige Nicholas wurden tot in ihrem Haus aufgefunden. Ein Blutbad mitten auf dieser sonst so beschaulichen, kleinen Insel, auf der einfach jeder jeden kennt. Der einzige Zeuge und Überlebende dieses Verbrechens ist der achtjährige Thomas, der sich verängstigt im Kleiderschrank versteckt hielt. Doch, was genau ist passiert? Wer hat die Familie angegriffen? Oder war es doch ihre eigene Schuld? Ein Nachbar? Ein Unbekannter?

"Hätte Katrina überlebt, hätte sie hinterher gesagt, was Menschen in solchen Fällen immer sagen: das es ein Tag gewesen sei wie jeder andere. Alles ganz normal. Vielleicht hätte sie auch gesagt, wie seltsam es doch war, dass man Normalität immer erst wahrnahm, wenn sie nicht mehr da war…"

Der Junge kam zu seinem Onkel, doch alles sollte nie wieder so werden wie es war… Ist ja klar, nach dem, was ihm widerfahren ist. Er hat seine Familie verloren, sein Zuhause und grausame, quälende Gedanken und Erinnerungen zurückbehalten. Die Zeit verging, Thomas verließ die Insel und alle schienen es nach und nach langsam zu vergessen. Doch nach zwanzig Jahren Absenz kehrt Thomas wieder zurück, so als hätte er noch eine Rechnung zu begleichen. Alte Erinnerungen werden wach. Schuldgefühle, Angst und Verunsicherung machen sich bei den Inselbewohnern breit und einige wären froh, wenn er schnellstmöglich wieder verschwinden würde. Wissen sie etwa mehr als ihnen lieb ist?

"Ich dachte die ganze Zeit, ich will unbedingt mit dir über meinen Vater reden. Aber ich glaube, es geht mir eher um meine Mutter. [..] Ich meine, ich weiß, wie sie zu mir war, aber ich hab keine Ahnung, wie andere sie gesehen haben."

Rebecca Wait hat mich mit ihrem Roman "Das Vermächtnis unsrer Väter" recht euphorisch gestimmt. Was zunächst als ganz ruhiger, 'normaler' Roman beginnt, wird nach und nach düsterer, nimmt plötzlich eine Wendung, nimmt Fahrt auf und man hat das Gefühl einen Krimi zu lesen. Und dann kommt die Zeit, die Verdrängung, die Menschlichkeit. Thomas kehrt wieder zurück und mit ihm kommt alles noch einmal ins Rollen. Er wohnt bei seinem Onkel, trifft einige andere Inselbewohner und diese sind verwundert, haben Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte und alte Wunden werden wieder aufgerissen. Sie versuchen den Tod und das was damals geschehen ist als Gesprächsthema zu vermeiden und doch bleibt es schwierig.

Wait gibt vielen Bewohnern eine Stimme, ein jeder ihrer Protagonisten hat seine Eigenarten und diese zwischenmenschliche Kommunikation, die Skepsis und die Beobachtungen machen diesen Roman für mich total faszinierend. Mit jeder weiteren Seite merkt man, dass es bereits im Vorfeld einige Anzeichen für die Tat gab, dass Schuld und Vorwürfe auch Jahre überdauern können und dass 'dieses Vermächtnis' zahlreiche Risse und Abgründe in dieses doch so fragile Inselleben ziehen kann und sich damit beinahe alles ändert. Ich möchte jetzt auch gar nicht so viel verraten, denn was wirklich geschehen ist und welche Gründe und Anzeichen es gab und was die Inselbewohner sonst noch so tuscheln, fürchten und verschweigen, sollt ihr dann schon noch selber herausfinden. Die Mischung aus Familiengeschichte, Liebe, Schuld, Verdrängung und Flucht/Veränderung finde ich aus dieser Perspektive sehr spannend geschildert. Ich habe mich lange mit den einzelnen Charakteren auseinandergesetzt, mit meinen bisherigen Begegnungen verglichen und von ihnen sowie vom Setting eine genaue Vorstellung gehabt. Das macht diese Geschichte so greifbar, so abgrundtief bewegend und irgendwie schwingt dann doch auch so ein Hauch menschliche Naivität mit bzw. die Frage ob Schein eben auch Sein ist oder ob man vieles einfach übersehen möchte, weil es so einfach einfacher ist. Mich jedenfalls haben diese Gedanken noch lange begleitet und die Aufmerksamkeit für das, was um mich herum geschieht, verstärkt, mich skeptischer gemacht, sensibilisiert und das, obwohl es eben nur ein fiktiver Roman ist.

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Veröffentlicht am 02.02.2020

ein intensiv, komplexer Roman über Nähe, Menschlichkeit und den Wunsch nach Frieden

Schutzzone
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Mira Weidner ist eine junge Frau, die im Auftrag der UN Berichte über Krisenregionen schreibt, ihre Vision vom Frieden hegt und zwischen verfeindeten Staatsministern vermittelt. Nach verschiedenen Aufenthalten ...

Mira Weidner ist eine junge Frau, die im Auftrag der UN Berichte über Krisenregionen schreibt, ihre Vision vom Frieden hegt und zwischen verfeindeten Staatsministern vermittelt. Nach verschiedenen Aufenthalten in New York und Burundi arbeitet sie nun für die Vereinten Nationen in Genf, der sogenannten neutralen “Hauptstadt des Friedens”, doch selbst hier ist das keine leichte Aufgabe. Schutzzone enthält nun ihre Ansichten, Gedanken und Ausschnitte vom Leben und der Liebe, einen Blick auf ihre Arbeit und die damit verbundene Welt(politik). Doch während Mira beruflich eher erfolgreich ist, so stellt ihr Liebesleben einen großen Konflikt dar. Sie fühlt sich oft einsam und sehnt sich menschlicher Nähe. Als sie dann bei einem Empfang ihren alten Jugendfreund Milan wiedersieht, entwickelt sich zwischen den beiden so ein loses, affärenähnliches Techtelmechtel. Alles gerät mehr und mehr ins Wanken, verliert sich… hm ja. Ich glaube, so kann man diese Geschichte zumindest so grob zusammenfassen. Es ist eher ein Ausschnitt/eine Fragment-Zusammenstellung verschiedener Jahre und Orte, teilweise oberflächlich, distanziert, manchmal rein ‘beruflich’, manchmal aber auch sehr persönlich und wahnsinnig tiefgründig.

“Wir spielen uns klare Grenzen vor. Aber jeder Versuch, ein Land mit exakten Grenzlinien zu zeichnen, hat zu nichts als Absurditäten geführt. Daran sind mehr Menschen gestorben als an Malaria. Und dann versuchen wir es auch noch in unserem Alltag, in unseren Beziehungen und sind überrascht, wenn wir genau daran scheitern …”

Schutzzone gewährt so einen faszinierenden Blick auf das politische Treiben innerhalb der Vereinten Nationen. Aber nicht nur das, Nora Bossong beschäftigt sich sehr intensiv und klug mit den hochkomplexen Fragen nach Frieden, Schutz, Macht, Wahrheit und Gerechtigkeit. Dafür splittert sie Miras Geschichte und Erlebnisse in mehrere Fragmente, getrennt nach Orten, Jahren und eben auch nach jenen Begrifflichkeiten und Wünschen, wenn nicht sogar Utopien. Mira setzt sich mit der Politik, dem persönlichen Willen und der Hoffnung mit ihrem Einfluss für eine bessere Welt zu sorgen, auseinander und treibt selbst doch eher ziellos durch ihr privates Leben und ihre (Liebes)Beziehungen zu anderen Menschen. Und damit verbunden ist es dann nicht nur ein politischer Konflikt im großen Trubel des menschlichen Willens, der hier thematisiert wird, sondern auch die Frage nach Nähe, Verständnis und Versöhnung.
Auch wenn man dabei Mira, ihrer Geschichte und ihren Gefühlen zu Sarah und Milan seitenweise näher kommt, so bleibt der gewonnene Gesamteindruck doch eher distanziert und kühl. Man sympathisiert mit ihr und kann sie doch nur schwer greifen. Teilweise wird man als Leser von vielen verschiedenen Gedanken und Eindrücken ihrerseits überrollt, manchmal ist dies durch die fragmentarische Aneinanderreihung und den damit verbundenen Zeit- und Ortsprüngen auch so verwirrend, dass man dem Ganzen nur noch sehr schwer folgen kann. Was läuft nun genau mit Milan? Ich denke es war vorbei? Und Sarah? Gab’s da jetzt eine Affäre? Wer sagt nun was? Sind es noch ihre Gedanken oder ist es schon die Antwort? Hmm. Miras Gedanken verschwimmen recht häufig durch lange Aneinanderreihungen mit dem gesprochenen Wort und sind oftmals sehr schwierig nachzuvollziehen oder zu trennen. Manchmal driftet sie vom eigentlichen Thema ab, lässt sich auf umliegende Eindrücke ein, und springt dann bereits im folgenden Abschnitt wieder zurück. Das macht es nicht ganz leicht und bedarf sehr viel Aufmerksamkeit. Es gibt so einen Satz, der für mich irgendwie dieses Buch toll zusammenfasst: “Es gibt Protagonisten, Nebenrollen und die Staffagefiguren, die man nur braucht, um die Leinwand zu füllen, es gibt die Gesichter, Körper, skizzierte Rückenansichten, die nach einer Weile verschwinden, sich einfach auflösen, überstellt werden von ein paar Gebäuden, Lichtflecken, einer Kanone, einem Brunnen, einem Schatten, den irgendetwas außerhalb des Bildrandes wirft, […] und man blickt jemandem ins Gesicht, man fährt ihm über den Rücken, […] fühlt seine Haut, hört seine Stimme […], so dass man meint, sie hätte größere Wirklichkeit als andere Geräusche, aber es liegt allein an der Nähe, durch die alles mehr Raum einzunehmen scheint.”
So! Und gerade das, was sich im Privaten bei der Hauptperson abspielt ist dann übergeordnet für mich auch so ein kleines Gleichnis zur heutigen Erscheinung der Politik und Medienwelt. Vieles wird angerissen, herausgetrennt, viel erwartet, nichts getan, hinterfragt und doch ist es am Ende nicht das, was man sich davon erhofft. Vielleicht denke ich da nun auch schon wieder zu weit, aber das, was sie im Beruf versucht so gezielt und geordnet wie möglich in Erfahrung zu bringen, zu bewegen und abzuarbeiten, scheitert bzw. verliert sich im Privaten.
Bossong widmet diesem dann doch recht vielschichtigen Thema nicht nur auf dieser persönlichen, einen Ebene, sondern durch diese verschiedenen Ortswechsel stellt sie so ein bisschen die Weltpolitik und deren Krisen dar. New York, Genf – als größere Orte der ‘Macht’ und dann gibt’s da eben auch noch das Treiben in Burundi oder in der vermeintlichen Schutzzone auf Zypern. Und damit wirft sie dann so Beispiele in den Raum, die für viele aktuelle und vergangene Krisenherde stehen könnten. So habe ich dann auch ständig an die momentanen Unruhen im Iran gedacht, an Israel oder die eher schwierige Beziehung zu Polen, USA, China oder der Türkei. Und so hat dieser Roman dann auch sehr viel gedankliches Potential in Hinblick auf die Welt, aber auch auf das innerste Verlangen der Menschheit – der Drang nach mehr und dem entgegengesetzten Frieden und der Liebe.

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Veröffentlicht am 13.10.2019

Ein, Aus, Ein, Aus. “Laufen” und der Weg zurück ins Leben.

Laufen
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Wie schafft man es am Besten einen Schicksalsschlag zu verkraften? Der Tod einer nahestehenden Person ist oft sehr überrumpelnd und niederschmetternd. Schlimmer wird’s dann noch, wenn der eigene Partner ...

Wie schafft man es am Besten einen Schicksalsschlag zu verkraften? Der Tod einer nahestehenden Person ist oft sehr überrumpelnd und niederschmetternd. Schlimmer wird’s dann noch, wenn der eigene Partner Selbstmord begeht. Ein großes Loch tut sich auf, Vorwürfe machen sich breit und das ganze Leben ändert sich auf einen Schlag. So ergeht es auch Isabel Bogdans Protagonistin in ihrem Roman Laufen.



“Rike sagt, es wird jetzt besser, ein Jahr ist rum, ein Jahr lang habe ich alles zum ersten Mal ohne dich gemacht, mein erster Geburtstag ohne dich, kein Sommerurlaub, […] dein erster Geburtstag ohne dich, ich habe wieder alles falsch gemacht an deinem Geburtstag, aber wie soll man so etwas richtig machen,…”



Und wie soll man damit umgehen, dass man nun wieder allein ist? Laufen soll den Kopf frei machen, laufen soll helfen und gerade deshalb hat ihre beste Freundin sie auch hierzu animiert. Und nun läuft die Protagonistin regelmäßig um die Alster und lässt uns hier an ihren Gedankenkonstrukten teilhaben. Laufen ist ein sehr persönlicher Monolog, voller Gedanken, Probleme, Sorgen, aber eben auch Zuversicht. Zunächst ist sie noch ein sehr unruhiger Mensch, schafft kleine Strecken zu laufen und auch nach diesem einen Jahr hat sie den Verlust nach wie vor nicht verarbeitet. Alles fühlt sich so an, als wäre es erst gestern passiert, als das Leben eine brutale Wendung nahm . Ein, aus, ein, aus. Sie atmet, sie lebt, es geht weiter. Eher schleppend, doch mit jedem Mal besser. Alles wird selbstverständlicher. Und sie selbst Schritt für Schritt ruhiger, optimistischer. Laufen ist nicht ihr Hobby, Laufen schildert ihren Weg zurück ins Leben.



“… wenn ich jetzt öfter laufe, falls ich öfter laufe, falls ich das beibehalte, dann werde ich straff und schön und fit, wenigstens das, als wäre es nicht vollkommen egal, ob ich straff und schön und fit bin, als könnte ich nicht ebenso gut im Bett liegen bleiben […] und der Welt abhandenkommen, aber damit wäre niemandem geholfen, vor allem mir nicht.”



Es ist nun wirklich kein actionreicher Roman, es ist ein eher menschliches Buch. Isabel Bogdan schafft es dabei sehr einfühlsam das Leben und die Gedankenwelt ihrer Protagonistin, ohne Namen zu schildern. Der Leser erfährt alles über ihre aktuelle Gefühlslage, die Wirrungen mit den Eltern des verstorbenen Freundes, ihre Erinnerungen und doch auch sehr trüben Gedanken. Auch die Musik, das verbindende Element zwischen ihr und ihrem Freund, spielt aufgrund der Hinterlassenschaft eine recht wichtige Rolle bzw. es sind Andenken, jene Gegenstände, die ihren Freund auch noch nach dem Tod in ihrem Leben halten. Wut, Trauer, Liebe, Freude, Neugier und Angst wechseln sich ab und es entsteht eine recht bunte, manchmal eher fragmentartige Mischung an Impressionen, Erzählungen und Erinnerungen während des Laufens. Man könnte sagen, das Buch hat insgesamt eine lebensbejahende Einstellung, zumindest die trübseligeren Gedanken werden im Laufe der Geschichte weniger, der Verlust scheint überwunden und die anfänglich direkten Worte werden distanzierter. Und gerade diese Entwicklung in einem reinen Gedankenkonstrukt macht diesen Roman so besonders. Der Schreibstil ist vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig, aber gerade dieser macht es dann auch aus. Es sind einzelne, intime und ungeschönte Gedanken, die dann doch etwas wild aneinandergereiht sind und vom Ein- und Ausatmen durchbrochen werden. Und gerade das macht jedes Fragment, jeden Gedanken, jedes Wort so nachfühlbar. Die Gedanken werden quasi vom gedruckten Wort zu den eigenen Gedanken und lassen ohne große Umschweife das Leben der Protagonistin nachfühlen. Empathie und Einfühlungsvermögen sind hier vielleicht die großen Stichworte.
Und so hat es mir dieses Buch trotz seiner Schwere und Trübseligkeit sehr viel Freude bereitet. Es ist ein Buch über den Prozess der Trauerbewältigung, aber es beinhaltet einfach so viel Menschlichkeit, Wärme und Hoffnung, dass man das Gefühl hat, man hätte in ihm eine beste Freundin, die man auf ihrem Weg begleitet.