Profilbild von jenvo82

jenvo82

Lesejury Star
offline

jenvo82 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit jenvo82 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.12.2019

Schlag auf Schlag auf Schlag

Blauschmuck
0

„Ich bin in meinem Zuhause, das kein Zuhause mehr ist, das immer meine Rettung in letzter Not war und mich in letzter Not nun nicht rettet.“

Inhalt

Filiz, aufgewachsen in einem kurdischen Dorf verliebt ...

„Ich bin in meinem Zuhause, das kein Zuhause mehr ist, das immer meine Rettung in letzter Not war und mich in letzter Not nun nicht rettet.“

Inhalt

Filiz, aufgewachsen in einem kurdischen Dorf verliebt sich mit 12 Jahren in einen nur wenig älteren Jungen aus der Nachbarschaft. Die Eltern wollen der Verbindung nicht zustimmen, da brennt das junge Mädchen mit dem Geliebten einfach durch und bricht mit ihrem Elternhaus. Ihre Schwiegermutter kommt für die Vermählung der beiden auf und lässt sie bei sich wohnen. Doch schnell muss Filiz erkennen, dass ihr Mann ganz unter der Schirmherrschaft seiner Mutter steht und für die ist Filiz nur eine Dienstbotin, die sie nach Lust und Laune herumschubsen kann. Daran ändert auch die erste Schwangerschaft nichts – sie ist nichts wert, ihr Leben abhängig von der Gunst der anderen. Yunus ihr Geliebter bringt ihr längst kein Gefühl mehr entgegen, maximal beim erzwungenen Geschlechtsverkehr, oder wenn er sie mal wieder grün und blau schlägt. Als es ihm gelingt in Österreich eine Wohnung zu bekommen holt er Filiz nach und diese hofft immer noch auf ein anderes, selbstbestimmteres Leben. Doch Yunus ändert sich nicht, seine Gewalteskapaden werden immer schlimmer und die junge Frau fürchtet um ihr Leben und wenig später auch um das ihrer mittlerweile 3 Kinder. Auch in der Fremde wird sie nie Zuhause sein, solange Yunus an ihrer Seite ist – doch ihre Kraft, sich den Misshandlungen des Mannes zu widersetzen schwindet immer mehr …

Meinung

Die österreichische Autorin Katharina Winkler widmet sich in ihrem Debütroman der Thematik Misshandlung und Gewalt innerhalb der Ehe. Dabei nimmt sie eine wahre Begebenheit als Ausgangssituation, um zu zeigen wie bitter und nachhaltig die Spirale aus Machtmissbrauch, Abhängigkeit und Ausweglosigkeit sein kann, wenn man als Frau nicht nur in eine von Männern dominierte Welt hineingeboren wurde, sondern von klein auf daran gewöhnt ist, dass Frauen von Männern geschlagen werden und dies als normalen Zustand empfindet.

Der sogenannte „Blauschmuck“ bezeichnet die Färbung der Haut an den verschiedensten Körperstellen der Frau in allen nur erdenklichen Nuancen, wenn sie wieder einmal Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Und fast jede Frau in dem kurdischen Heimatdorf der Protagonistin trägt mehr oder weniger „Blauschmuck“ und spricht doch nicht darüber, denn was allen passiert wird zwar geduldet, bleibt aber dennoch Privatsache.

Der Handlungsverlauf dieser Geschichte ist äußerst deprimierend, weil sich die Spirale aus Missachtung und Gewalt immer mehr steigert und nicht nur die Illusionen einer jungen Braut zerstört, sondern letztlich die ganze Familie im Griff hat: Kinder die sich fürchten, weil sie geprügelt werden, eine Mutter die weder Schutzschild sein kann noch die Kraft aufbringt, der Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Besonders eindringlich wird die Abstumpfung der Betroffenen geschildert, die einst voller Überzeugung genau diesen Mann geheiratet hat, um mit ihm ihr Glück zu finden und dann feststellen muss, dass Selbstschutz das einzige ist, was ihr geblieben ist. Und obwohl mir persönlich das Gedankengut der Frau, gewachsen auf ihren Erfahrungen sehr fremd ist, schafft es die Autorin den fremden nationalen Hintergrund so zu integrieren, dass ich glaube, Filiz zu verstehen, ohne es tatsächlich nachempfinden zu können.

Ein weiterer Pluspunkt ist die Art von generalistischer Erzählung, die nicht nur den Einzelfall dramatisch wirken lässt, sondern gezielt eine Vielzahl ähnlicher Fälle im Hinterkopf entstehen lässt, von denen man weiß, dass sie fast genauso ablaufen und nur die Namen und die Beteiligten andere sind.

Fazit

Ganz klar ein Roman, der 5 Sterne verdient, weil er in ansprechender literarischer Umsetzung eine bittere, grenzwertige Erzählung schildert, die stellvertretend für viele Familien steht und die trotz ihrer Unglaublichkeit immer noch auf der Tagesordnung steht, sofern ein gewisser kultureller Rahmen gegeben ist.

Im besten Sinne ist dieses Buch emotional, obwohl es niemals so tief geht, dass man es nicht ertragen kann es ist brisant und zeitlos, abstoßend und fordernd zugleich und es bleibt lange in Erinnerung, weil man als Leser sehr viele Aspekte aufgreifen kann, über die es sich nachzudenken lohnt.

Auch die Definition von Liebe muss überdacht werden, nicht nur die zwischen Mann und Frau, sondern auch die zwischen Eltern und Kindern. Und nicht zu verachten der Aspekt der Abhängigkeit, die manchmal unumstößlich, aber nur dann gefährlich ist, wenn der vermeintlich „Stärkere“ seine Position ausnutzt, um sein Gegenüber zu unterdrücken. Ein absolut lesenswerter, zeitloser Roman über wahrgewordene Albträume, ständige Ängste und den Verlust eines sicheren Zuhauses.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.12.2019

Mein Bild ohne dich

Tage des Verlassenwerdens
0

„Was für ein kompliziertes, schaumiges Gemisch ein Paar doch ist. Eine Beziehung mag sich abnutzen und enden, um dennoch auf unsichtbare Weise weiterzuwirken, sie stirbt nicht, sie will einfach nicht sterben.“

Inhalt

Die ...

„Was für ein kompliziertes, schaumiges Gemisch ein Paar doch ist. Eine Beziehung mag sich abnutzen und enden, um dennoch auf unsichtbare Weise weiterzuwirken, sie stirbt nicht, sie will einfach nicht sterben.“

Inhalt

Die achtunddreißigjährige Turinerin Olga gerät in eine ganz klassische Trennungssituation, die für sie dennoch unheimlich plötzlich kommt. Ihr Mann hat eine andere, viel jüngere Frau und lässt sie mit den gemeinsamen Kindern und dem Hund sitzen. Eigentlich glaubte sie, eine glückliche Ehe zu führen und kann es nicht fassen, das Mario, ihr Geliebter nichts mehr von ihr wissen will. Ehrlich und schonungslos setzt sie sich mit der bitteren Wahrheit auseinander und versucht nebenbei ihren Alltag zu meistern. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie restlos überfordert ist, dass ihr ganzes Dasein auf die Existenz ihres Mannes gerichtet war und sein Part nun nicht mehr besetzt ist. Immer mehr verstrickt sie sich in Gedankenspielen und verliert die Realität zunehmend aus dem Auge. Der Umstand, dass ihr Mann, einen derartigen Vertrauensbruch begehen konnte, treibt sie an den Rand des Wahnsinns und sie versucht wie eine Ertrinkende den Fluten zu entkommen …

Meinung

Da ich bereits etliche Bücher der unter Pseudonym schreibenden Autorin Elena Ferrante gelesen habe, war ich mir durchaus bewusst, dass ich hier einen Roman mit einer eigenwilligen, interessanten, wenn auch nicht liebenswürdigen Protagonistin zu lesen bekommen würde. Allerdings war mir die hier vorliegende Charakterisierung dermaßen überspitzt und hochdramatisch umgesetzt, dass ich mich zunehmend über die Entwicklung der Erzählung geärgert habe.

Prinzipiell finde ich die intensive Auseinandersetzung mit der Trennungsthematik aus Sicht einer nichtsahnenden Frau sehr reizvoll, kann man doch ihr aufgezwungenes Leiden nachempfinden, ihr Unverständnis und größtenteils auch noch die Wut. Selbst Rachegedanken lassen sich implizieren und auch die Tatsache, dass diese Schmach von außen, zugefügt vom untreuen Gatten, das Selbstbild ins Wanken bringt.

Aber leider schmiedet die Autorin einen anderen, viel differenzierten Plot, der von obszöner Sprache und derben Gesten unterstrichen wird. Denn Olga leidet nicht nur, sie versinkt regelrecht in einem Sumpf am Rande des Wahnsinns, den sie mit Hysterie durchlebt und vollkommen hilflos sich selbst gegenüber erscheinen lässt. Diese Überspitzung der Ausgangssituation hat mich maßlos geärgert, denn einmal abgesehen davon, dass mir die emotionale Trauer gefehlt hat, weil Olga diese nicht zulässt oder im Kern erstickt, begibt sie sich auf einen Weg, auf dem ihr das Selbstbild wichtiger ist, als ihre Verantwortungsposition gegenüber den Kindern.

Gerade ihre Rolle als Mutter, ist für mich absolut abschreckend und überhaupt nicht mehr nachvollziehbar geschildert. Hinzu kommt ihr liebloser Versuch, alles beim Alten zu belassen und sich auf den Alltag zu konzentrieren, obwohl sie spürt, dass sie das allein nicht schaffen kann.

Fazit

Obwohl der Schreibstil intensiv und ansprechend wirkt, einmal abgesehen von derben sprachlichen Worten, konnte mich dieser Roman inhaltlich nicht überzeugen, deshalb vergebe ich hier wirklich nur 2 Lesesterne.

Viel zu lange verharrt er bei einer Frau, die das Bild von sich neu erschaffen muss und ihre bisherige Lebensweise elementar umstülpt, um wieder zu sich selbst zu finden. Dadurch, dass sie ihr direktes Umfeld so sträflich mit hineinzieht und es dennoch außen vorlässt, entsteht ein erschreckendes Porträt, bei dem ich mich tatsächlich emotional auf der Seite des Ehebrechers gesehen habe, denn wer so mit seinen Liebsten umgeht, verdient sie nicht wirklich.

Als Mutter finde ich ihre Handlungen einfach nur verantwortungslos – wenn sie sich den Strapazen nicht gewachsen sieht, müsste sie doch Hilfe holen. Gerade die Beziehung zwischen ihr und den Kindern wirkt mehr wie ein ungesundes Abhängigkeitsverhältnis, als eine Bindung aus Wärme und Zuneigung. Mir war das Gesamtkonzept zu hysterisch, zu skurril und viel zu unrealistisch, da hilft dann leider auch nicht die interessante Hintergrundgeschichte über die Verarbeitung eines persönlichen Verlusts.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.12.2019

Die Wahrheit ist die Lüge, an die du glaubst

Das Erbe
0

„Es fiel mir leichter, davon zu träumen, dass ein Leben als Familie wieder vorstellbar wäre, als das Risiko einzugehen, diesen Traum aufgeben zu müssen.“

Inhalt

Für Wolf ist der Begriff Familie etwas ...

„Es fiel mir leichter, davon zu träumen, dass ein Leben als Familie wieder vorstellbar wäre, als das Risiko einzugehen, diesen Traum aufgeben zu müssen.“

Inhalt

Für Wolf ist der Begriff Familie etwas sehr Unbestimmtes, denn seine Mutter hat ihm nicht nur eine Krankheit angedichtet, sie hat sich, nachdem sein Stiefvater die Lüge aufgedeckt hat, sogar das Leben genommen. Nun wächst Wolf bei seinem Großvater auf, während sein Halbbruder gemeinsam mit dem Stiefvater das Land verlässt. Diese frühzeitige Prägung begleitet den Heranwachsenden wie ein dunkler Schatten und er merkt, dass er zu normalen sozialen Bindungen nur begrenzt fähig ist, denn Menschen machen ihm Angst. Nur bei seiner Freundin Lina findet er Unterstützung und etwas später auch die große Liebe. Vollkommen unerwartet tritt wenig später der verschollene jüngere Bruder Freddy in sein Leben und erzählt von seiner ebenso schwierigen und gewaltbehafteten Kindheit in der Fremde. Für Wolf ist klar, diesmal will er es besser machen und für seinen Blutsverwanden da sein. Aber Freddy bleibt undurchschaubar, er verschwindet und taucht wieder auf, gerade so wie es ihm beliebt. Er lebt an der Grenze zur Kriminalität und lässt sich nicht in die Karten schauen. Letztlich freut sich Wolf, dass Freddy wieder seiner Wege geht. Doch als er nach Jahren erneut auftaucht und ominöse Todesanzeigen verschickt, fühlt sich Wolf mit seiner Familie bedroht und auch die Ehe scheint dem bedrohlichen Außenstehenden nicht gewachsen zu sein …

Meinung

Allein die Kurzbeschreibung des Verlages, und die Andeutung der Handlung erschienen mir äußerst reizvoll, gerade wenn es einmal nicht um das finanzielle Erbe einer Familie geht, sondern das mentale, so bin ich direkt dabei. Da es sich bei dem Autor oder der Autorin R.R. Sul um ein Pseudonym handelt, kann man nur spekulieren, warum er oder sie unentdeckt bleiben möchte - mir ist es eigentlich einerlei, Hauptsache der Inhalt stimmt. Und ganz so sah es aus, nachdem ich die ersten Seiten gelesen hatte.

Wolf, der Hauptprotagonist verfügt über eine ausgesprochen eingängige Erzählstimme, die ihn sofort irgendwie sympathisch macht, obwohl sich bald herausstellt, dass seine Psyche mehrfach angeknackst ist. Alles was er rückwirkend beleuchtet, und wie im Vorwort angedeutet, seinem Enkelsohn hinterlassen möchte, ist ein authentischer Abriss über sein Leben, mit vielen dunklen Flecken auf der Familiengeschichte und zahlreichen persönlichen Verfehlungen. Absolut treffsicher ist das Verhältnis zwischen familiärer Verantwortung und Distanz beschrieben. Die ständige Stimme im Hinterkopf, die ihn müßigt, nochmals Kontakt zu suchen, sich nicht einfach abwimmeln zu lassen und letztlich doch eine Entscheidung gegen einen Menschen und für eine Sache zu treffen – all das lässt sich wunderbar nachvollziehen und intensiv erörtern.

Dennoch entwickelt sich der Text für mich zu einer Art Gedankenexperiment, dem es im Verlauf immer mehr an Glaubwürdigkeit und Realitätsnähe fehlt. Spätestens als die Schuldfrage in Verbindung mit unterschwelliger Manipulation immer mehr in den Vordergrund rückt, habe ich mich innerlich von dem Text abgewandt, obwohl er immer noch eine äußerst mitreißende Erzählung darstellt. Das größte Manko dieses Buches ist das Fehlen einer konkreten Aussage, und sein es auch nur ein greifbarer Höhepunkt. Weder die Personenkonstellation noch der Lauf der Zeit bringen ein Ergebnis hervor, alle Schilderungen sind lediglich Episoden auf einem langen Weg, dessen Ende weder der Tod noch das Leben sind. Mit viel Phantasie kann man sich auch den langsamen Verfall eines Mannes vorstellen, den das Leben gebeutelt hat und der immer nur nach Schuldigen sucht, selbst aber nicht in der Lage ist, klare Grenzen zu ziehen. Ein Mann, der zum Spielball anderer wird, sich dessen durchaus bewusst ist und trotzdem nicht aus seiner Haut kann. Leider bleiben auch diese Gedanken stecken, weil es mir nicht möglich war, folgerichtige Schlüsse zu ziehen.

Fazit

Für diesen unterhaltsamen, sehr spannenden Roman über Abhängigkeiten und Randexistenzen, Familienbande und das schwere Erbe einer belasteten Kindheit vergebe ich gute 4 Lesesterne. Wenn es dem Leser gelingt, über die Glaubwürdigkeit und den Wahrheitsgehalt hinwegzusehen, dann kann er auch mit dem offenen Ende umgehen, wenn nicht, dann folgt spätestens dort die Enttäuschung. Schreibtechnisch und inhaltlich ist die Thematik unverbraucht und bringt nicht nur Unterhaltung, sondern setzt auch das Gedankenkarussell in Bewegung. Gerade die existenziellen Fragen, die immer wieder auftauchen, animieren zum Grübeln. Sehr oft habe ich mich gefragt, wie ich in der entsprechenden Situation reagiert hätte und was genau den Protagonisten eigentlich so zusetzt – wirklich schlau geworden bin ich aber bis zum Ende nicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.12.2019

So endet eine große Liebe

Das Versprechen
0

„Mein Großvater war der Mann, der sich an sein Wort hielt. Weil er glaubte, dass ein Mann sich an das halten muss, was er sagt. Weil es sich so gehörte. Nur einmal hat er es nicht getan. Ein einziges Mal ...

„Mein Großvater war der Mann, der sich an sein Wort hielt. Weil er glaubte, dass ein Mann sich an das halten muss, was er sagt. Weil es sich so gehörte. Nur einmal hat er es nicht getan. Ein einziges Mal nur hat er sein Wort gebrochen. Verziehen hat er sich das nie.“

Inhalt

Edwin und Ria haben ein bewegtes Leben hinter sich, denn obwohl sie sich schon als Jugendliche liebten, haben sie jeweils aus ihren Verpflichtungen heraus andere Partner geheiratet. Erst im Alter von 50 Jahren sind sie wirklich frei füreinander und beschließen fortan immer zusammenzubleiben. Edwin verspricht seiner Ria, sie nun nicht mehr gehen zu lassen und hält sich 39 weitere Lebensjahre daran. Doch hochbetagt, wie die beiden sind, müssen sie sich neuen Herausforderungen stellen. Denn während Rias Welt auf Grund ihrer zunehmenden Demenz immer unbeständiger wird, muss sich Edwin eingestehen, dass er ein enges Zusammenleben mit Ria nicht mehr erträgt, dass er nicht mehr Teil ihrer Erinnerungen ist, sondern ein Fremder, mit dem sie nichts mehr verbindet. Und so sieht er sich gezwungen, sein Versprechen zu brechen, um zu bewahren was einmal war …

Meinung

Erzählt wird dieser biografische Roman von der Enkeltochter des Paares, die beide Großeltern sehr mochte und gerade mit ihrem Opa, der nicht einmal ihr leiblicher war, engen Kontakt pflegte. Die Lebens- und Liebesgeschichte des Paares beeindruckt die junge Autorin und sie beschließt ihren Großeltern ein Denkmal zu setzen, indem sie deren Weg beschreibt, durch Höhen und Tiefen, ein gemeinsames Leben in Ruhe und Einverständnis aber auch die Last, die ihnen am Ende abverlangt wird, als einer der beiden einsehen muss, dass er den anderen verloren hat, an eine Krankheit, aus der es kein Entrinnen gibt und an eine Gegenwart, in der es keine Vergangenheit mehr gibt.

Der Untertitel „Eine Geschichte von Liebe und Vergessen“ trifft es ziemlich gut, denn es gelingt Nadine Ahr aus einer persönlichen Sicht und dennoch mit dem entsprechenden Abstand das Leben von Edwin und Ria lebendig werden zu lassen. Dazu schreibt sie einmal in Rückblenden, die das vergangene Glück beschreiben, gefolgt von Gegenwartssituationen, die alle Kräfte einfordern bis hin zu zukünftigen Überlegungen, die sie selbst aus ihren Erfahrungen zieht. Geprägt ist die Erzählung vor allem durch Warmherzigkeit und ein tiefes Verständnis. Immer wieder entsteht der Eindruck, wie besonders die Menschen, über die sie schreibt, waren und was ihren Charakter ausgemacht hat. Und gleichzeitig zieht sich der Aspekt der Trauer wie ein rotes Band durch die 192 Seiten des Buches. Der Respekt vor dem Leben, der Glaube an die Verantwortlichkeit für Mitmenschen und die eigenen Schuldgefühle kommen immer wieder zur Sprache und obwohl es in keiner Weise eine Entschuldigung für Unterlassungen oder kleine Notlügen ist, zeigt sich dennoch die Fehlbarkeit der Menschen, selbst wenn sie lieben und leiden bis zu ihrem Tod.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen tieftraurigen und doch hoffnungsschenkenden Roman, der mich betroffen macht und ähnlich wie die Autorin selbst zum Nachdenken anregt über die Frage, wann es an der Zeit ist, die große Liebe ziehen zu lassen, ob die Zeit überhaupt kommen wird und wie elementar die Konsequenzen aus den entsprechenden Handlungen auch für die nächste und übernächste Generation sein können. Und obwohl Nadine Ahr selbst zu dem Schluss kommt, dass die Erinnerungen längst nicht das einzige Paradies sind, aus dem man verdrängt werden kann, so ist es ihr doch gelungen eine wunderbare Geschichte über die Liebe zu schreiben und ihren verstorbenen Großeltern auf sehr schöne Art und Weise nahezubleiben, in dem sie erzählt, wie es sein kann, wenn Liebe nicht vergeht sondern vergessen wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.11.2019

Gelernt, im Verborgenen zu leben

Winterbienen
0

„Ich kann nichts anderes tun, als die jetzige Welt mir so tief einzuprägen, dass ihr wirkliches Wesen und das mögliche Glück darin für mich sichtbar werden.“

Inhalt

Egidius Arimond war einst Lateinlehrer, ...

„Ich kann nichts anderes tun, als die jetzige Welt mir so tief einzuprägen, dass ihr wirkliches Wesen und das mögliche Glück darin für mich sichtbar werden.“

Inhalt

Egidius Arimond war einst Lateinlehrer, doch zu Beginn des Jahres 1944 kommt auch der Krieg in seinen kleinen Heimatort in der Eifel und schon lange ist das öffentliche Leben lahmgelegt und jeder bemüht sich, ein klein wenig Alltag aus der Vorkriegszeit zu bewahren. Egidius ist immer noch passionierter Bienenzüchter, wie einst seine Vorfahren. Doch anders als diese verdingt er sich auch als Schleuser, indem er Flüchtlinge in präparierten Bienenstöcken über die Grenze transportiert, um damit seine teuren Medikamente zu finanzieren. Als Epileptiker ist er auf regelmäßige Medikamentenzufuhr angewiesen und der ortsansässige Apotheker beäugt ihn ohnehin misstrauisch, denn jeder, der nicht an der Front fürs Vaterland kämpft, sondern daheimgeblieben ist, gilt fast als Vaterlandsverräter und wer immer wieder Anfälle hat und trotzdem mit den hübschen Frauen verkehrt, macht sich umso verdächtiger. Und während Egidius verzweifelt hofft, dass seine Notration bis Kriegsende reicht, fliegen die feindlichen Bomber immer tiefer über den Köpfen der Menschen …

Meinung

Dieser Roman aus der Feder des deutschen Autors Norbert Scheuer, hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 geschafft und beschäftigt sich mit den letzten Kriegsjahren aus Sicht eines Außenseiters, der nichts weiter möchte, als in Frieden zu leben und sein bescheidenes Dasein zu führen.

Doch die Zeit, in der er lebt, lässt keinen unbehelligt, sie fordert Opfer an allen Fronten, nicht nur in den ersten Reihen, sondern auch weit im Hinterland, wo man hoffen konnte, nicht ins Visier zu geraten, sich den Kriegswirren zu entziehen und vielleicht ein klein wenig Freude an der Unbeirrbarkeit der Natur zu finden. Und so spitzt sich die Überlebenschance für den Bienenzüchter immer weiter zu, denn seine Krankheit lähmt ihn, sie geißelt sein Bewusstsein und macht ihn abhängig von der Reaktion anderer.

Diese Ausweglosigkeit nicht nur aus dem Kriegsgeschehen heraus, sondern vielmehr wegen der persönlichen Gesundheit wird hier erschreckend deutlich. Allein die differenzierten Tagebucheinträge des Protagonisten, der anfangs noch Zeit findet, sich um die Familienchronik zu kümmern, später verzweifelt nach den Notizen seiner Auftraggeber Ausschau hält, um zuletzt den Apotheker um Gnade anzuflehen, bringen den Zustand und Verfall der bürgerlichen Welt in vollem Umfang zum Ausdruck.

Dieser Roman lebt von den Worten zwischen den Zeilen, er schlägt stille Töne an, baut auch eine gewisse Distanz auf und hält sämtliche Emotionen flach – all das passt durchaus zusammen, auch wenn ich mir persönlich gerne mehr Nähe zu Egidius und seinem Leben erhofft hätte. Doch seine Maxime lautet: nur weil ich gelernt habe, im Verborgenen zu leben, ist es mir überhaupt möglich so lange überlebt zu haben.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen facettenreichen, interessanten Roman, der sich sowohl der Bienenzucht als auch den Schrecken des 2. Weltkrieges widmet und nicht zuletzt die Bedrohungen einer chronischen Erkrankung in Notzeiten heraufbeschwört. Ein buntes Potpourri an Beschränkungen umgibt hier die Erzählung, führt sachlich und strikt durch die Begrenzungen einer verheerenden Epoche und widmet sich intensiv dem Überlebenswillen aller, angesichts der Kriegszerstörungen in unmittelbarer Nähe.

Wäre die Handlung etwas spannender und komprimierter in Erscheinung getreten, dann hätte mir dieser Roman sicherlich noch besser gefallen. Manchmal waren mir die Episoden aus der Vergangenheit zu langatmig und die Wirkung aller Bienen im Bienenstock mit ihren zahlreichen Aufgaben zu mühsam, während die Flüchtlinge im Bienenkorb eher unscheinbar blieben. Insgesamt jedoch ein Lesevergnügen für alle, die eine ungewöhnliche Perspektive auf das Kriegsgeschehen kennenlernen möchten.