Der Mann, der Briefe dachte
Der Gedankenspieler„Ich habe die Liebe verlernt. Das war ein einfacher, aber ihm nicht angenehmer Satz. Oder sollte er denken: Ich fürchte mich vor Gemeinsamkeit und ziehe Einsamkeit vor. Ich bin am Ende und habe schon den ...
„Ich habe die Liebe verlernt. Das war ein einfacher, aber ihm nicht angenehmer Satz. Oder sollte er denken: Ich fürchte mich vor Gemeinsamkeit und ziehe Einsamkeit vor. Ich bin am Ende und habe schon den Anfang nicht gekonnt.“
Inhalt
Johannes Wenger ist nach einem Sturz auf den Rollstuhl und auf die Hilfe zahlreicher Pflegekräfte angewiesen. Leicht verdrossen ergibt er sich in sein Schicksal, da ihm ohnehin die Alternativen fehlen. Sein Hausarzt Dr. Mailänder kümmert sich kompetent um ihn und ist nicht nur für sein körperliches Wohlbefinden zuständig, sondern mittlerweile zum einzigen Vertrauten und Freund des alten Mannes geworden. Frau und Kinder hat Wenger keine und so nimmt ihn Dr. Mailänder als „Opa“ in seine eigene kleine Familie mit. Gemeinsam verbringen sie viele schöne Stunden, ja sogar einen Urlaub an der See und Johannes blüht durch die Ersatzfamilie mit der quirligen „Enkeltochter“ regelrecht auf. Doch allzu bewusst ist sich der ehemalige Architekt, seiner Endlichkeit, seiner immer schlechter werdenden Gesundheit und mit Argwohn betrachtet er seinen Verfall. Zur Last fallen möchte er niemanden, erst recht nicht seinem Arzt und Vertrauten. Nach einem akuten Nierenversagen landet Wenger im Krankenhaus, diesmal vollkommen ausgeliefert an seine Krankheit mit wirren Träumen, die ihn bereits an der Schwelle des Todes begrüßen und nur noch mit einem Bein im Diesseits. Wenger erholt sich auch von diesem Schicksalsschlag und kehrt nach Hause zurück, doch die Müdigkeit, die Last der vielen Lebensjahre, die er mit sich herumträgt, legt sich immer schwerer und düsterer auf sein Gemüt und er sieht ein, dass er sich lieber dieser Schwere zuwenden möchte, als einem langwierigen Heilungsprozess, der ihn Kräfte kosten wird, die er nicht mehr hat.
Meinung
Dieser Roman ist der letzte, des 2017 verstorbenen Chemnitzer Autors Peter Härtling. Wie man im Nachwort erfährt, hat sein langjähriger Lektor Olaf Petersenn den Text nur noch geringfügig bearbeitet und sich dabei voll und ganz auf das Manuskript des Autors gestützt. Dieser Umstand verleiht dem vorliegenden Roman noch ein bisschen mehr Authentizität, mehr Bedeutsamkeit und zeigt, dass Herr Härtling nicht nur einen bewegenden Roman über das Alter, die Freundschaft und die Einsamkeit geschrieben hat, sondern auch selbst in ebenjener Lebensphase steckte, die es nahelegt, dass sein Leben hin und wieder zum Vorbild der Gedanken des Protagonisten wurde.
Der Schreibstil ist minimalistisch, durch kurze Sätze geprägt, sehr sachlich manchmal fast nüchtern und dennoch immer nah dran an der Figur des Johannes Wenger. Jener verarbeitet in gedachten Briefen sein Leben, schreibt gedanklich an alte Bekannte, an bereits verstorbene Architekten oder berühmte Bauherren. Gleichermaßen dankt er seinem Vertrauten im Alter für dessen Präsenz, seiner neugewonnenen Enkeltochter für ihren Ideenreichtum und der passionierten Pflegekraft für den würdigen Umgang mit seinen körperlichen Hinfälligkeiten. Besonders gelungen empfinde ich die Reflexion der eigenen Gedanken, die Einfachheit der kleinen Alltagsfreuden, den sich ständig verkleinernden Radius des Individuums und nicht zuletzt die Aussöhnung mit all den Verfehlungen, der Vergangenheit, dem Leben an sich.
Manchmal hätte ich mir etwas mehr Emotionen gewünscht, tiefgreifendere Gespräche und mehr Kontakt zu dem alten Mann, den man als Leser zwar sehr genau kennenlernt, der als Person aber nicht ganz greifbar erscheint. Das stört nicht weiter, weil er sicherlich so auftreten soll, weil diese Stille, diese gewünschte Einsamkeit sein Wesen ausmachte, doch im Zusammenhang mit der Thematik, hätte es gern etwas mehr Herzblut und Traurigkeit sein dürfen. So ist es eher Melancholie, ein langsames Abschiednehmen, ein stiller Gang auf dem letzten Weg. Aber dennoch ein sehr ergreifender Roman.
Fazit
Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen ehrlichen, schonungslosen Roman, der einen ganz zielgerichteten Blick auf die Lebensphase des Alters wirft. Als Leser bekommt man Verständnis für all jene unausgesprochenen Wünsche, alle nicht mehr möglichen Unternehmungen, alle Unzulänglichkeiten aber auch für die Möglichkeiten, die selbst ein alter kranker Mann aus dem Rollstuhl heraus noch wahrnehmen kann, sofern er sich mit der Gegenwart und ihren Anforderungen anfreundet und die Endlichkeit eines Menschenlebens akzeptiert. Ich empfehle diesen Roman gerne weiter, er ist sicher kein Mainstream und auch sehr ruhig in seiner Erzählweise, doch man trägt den Text nach dem Lesen noch ein Weilchen im Herzen.