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Veröffentlicht am 03.04.2018

Der Widerhall einer zerstörten Kindheit

Das Echo der Bäume
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„Ich hatte mir gewünscht, dass er ebenso empört sein würde wie ich, doch ich wusste auch, dass die Schuld der einen Seite am Ende nicht die Unschuld der anderen beweisen konnte.“


Inhalt


Mit 20 Jahren ...

„Ich hatte mir gewünscht, dass er ebenso empört sein würde wie ich, doch ich wusste auch, dass die Schuld der einen Seite am Ende nicht die Unschuld der anderen beweisen konnte.“


Inhalt


Mit 20 Jahren studiert die Kroatin Ana Jurić an einer Universität in Amerika, sie lebt mittlerweile seit 10 Jahren in den USA und versucht nun im jungen Erwachsenenalter ihre traumatische Kindheit zu verarbeiten. Durch ein Hilfsprogramm der UNO konnte sie damals mehr durch glückliche Zufälle und Bekanntschaften dem serbischen Bürgerkrieg entfliehen und gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Rahela dem Gemetzel in ihrer Heimat entkommen. Doch anders als Rahela, die damals noch ein Baby war, weiß Ana sehr genau, welche Hölle sie hinter sich gelassen hat. Verschanzt hinter Baracken, den Tod stets vor Augen, bewaffnet bis unter die Zähne und nur mit Cleverness, Schnelligkeit und Glück lies sich der Tag überleben. Nun möchte sie zurück, um die Menschen, die einst ihre Freunde und Ersatzfamilie waren, aufzusuchen und sie muss sich der bitteren Wahrheit stellen, dass ihre Eltern irgendwo verscharrt in einem Massengrab liegen, dem sie selbst nur durch einen gefährlichen Schachzug entkam …


Meinung


Die junge kroatischstämmige Autorin Sara Nović, setzt sich in ihrem Debütroman mit einem grausamen Kapitel des Nah-Ost-Konfliktes auseinander – mit dem jugoslawischen Bürgerkrieg zwischen Serben und Kroaten, der zu Beginn der 90-iger Jahre tobte und wie jede kriegerische Auseinandersetzung eine Vielzahl unschuldiger, ziviler Opfer forderte. Dabei geht sie ganz gezielt auf das Empfinden eines Kindes ein, welches einerseits abhängig von den Entscheidungen der Eltern ist, andererseits aber gezwungen wird, sich allein durchzuschlagen in der Gewissheit, dass es die eigene Familie nicht mehr gibt.


Die gewählte Ich-Perspektive der Erzählerin lässt das Geschehen umso dramatischer und vernichtender wirken. Sehr geschickt werden dabei die Vorfälle in verschiedenen Kapiteln verpackt. Der Leser lernt Ana deshalb auch in drei Lebensphasen kennen: als kleines Mädchen in Kroatien direkt im Krieg, als erwachsene Frau in der modernen amerikanischen Welt und letztlich als Suchende zurück in der zerstörten doch kriegsberuhigten Heimat. Die Vielfalt des Romans beruht auf einem emotionalen Erzählton, der mehr reflektiert und beschreibt, welche Belange das Individuum durchlebt und welche Schäden die Seele trägt, die der Willkür eines totalitären Staates ausgeliefert ist.


Immer durchlebt man die Gefühlswelt der Protagonistin aus einem Blickwinkel, der sehr tief reicht, selbst wenn das große Ganze ausgeblendet wird. Dadurch wirkt das Buch zunehmend bedrückend und schwermütig. Denn schnell wird klar, das eine ehrliche, unkomplizierte Gestaltung der Gegenwart unmöglich ist, solange die Schatten der Vergangenheit immer noch die Gedanken umklammern.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen intensiven, schonungslosen Roman, der gleichermaßen das Porträt einer verletzten Menschenseele ist, wie die historische Auseinandersetzung mit einem Staatenkonflikt und seinen weitreichenden Folgen. Die Thematik Hilflosigkeit, sinnloses Töten und Traumatisierung wird perfekt inszeniert, doch man muss sie als Leser auch aushalten können, muss innerlichen Abstand gewinnen, um nicht ebenso wie die Protagonistin die Schrecken an sich heranzulassen. Ein lesenswerter Debütroman, voller Emotionen, aus persönlichem Blickwinkel betrachtet, der eine Lücke in der belletristischen Landschaft schließt, weil er sich so aktuell und präsent zeigt.

Veröffentlicht am 26.03.2018

Eine steinige Reise in die Untiefen der Menschlichkeit

Heimkehren
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„Sein Vater hasste die Weißen abgrundtief. Es war ein Hass wie eine mit Steinen gefüllte Tasche, ein Stein für jedes Jahr, in dem die Ungleichheit weiterhin die Norm in Amerika war. Diese Tasche trug er ...

„Sein Vater hasste die Weißen abgrundtief. Es war ein Hass wie eine mit Steinen gefüllte Tasche, ein Stein für jedes Jahr, in dem die Ungleichheit weiterhin die Norm in Amerika war. Diese Tasche trug er immer mit sich.“


Inhalt


Die beiden dunkelhäutigen Halbschwestern Effia und Esi wachsen getrennt voneinander auf und durchleben ganz verschiedene Schicksale. Während Effia einen Sklavenhändler heiratet und das Leid der Menschen nur aus der Ferne miterlebt. Muss Esi eingepfercht mit zahllosen anderen rechtlosen Frauen, die Reise nach Amerika antreten, nur um dort mit ihren Nachkommen in den anscheinend nie enden wollenden Strudel des Menschenhandels zu versinken. Doch eigentlich umfasst dieser Roman viel mehr als diese zwei Protagonisten, denn der Leser begleitet kapitelweise die Nachfahren der beiden und bekommt einen Einblick in deren Leben und auch in die Entwicklung der Sklaverei, die zwar mit dem Verlauf der Zeit andere Formen annimmt aber Menschen mit dunkler Hautfarbe auch Jahrhunderte später noch als zweitklassig behandelt.


Meinung


Dieser Debütroman der in Ghana geborenen jungen Autorin Yaa Gyasi, stand wochenlang auf den Bestsellerlisten in den USA und setzt sich sehr vielschichtig und ehrlich mit der Thematik der Sklaverei auseinander, in dem er Einzelschicksale aufgreift und ein wahres Netzt an Verbindungen zwischen den Menschen knüpft, die alle kein einfaches Leben führen dürfen, einfach nur weil sie nicht die „richtige“ Hautfarbe haben. Dabei legt die Autorin großen Wert auf eine bunte, abwechslungsreiche Geschichte, der man aus ganz verschiedenen Blickwinkeln näherkommt, ohne sie abschließend tatsächlich bewerten zu können. Denn alle handelnden Personen versuchen angestrengt ihrer Herkunft zu entkommen, da sie lernen mussten, dass genau diese der dunkle Fleck in ihrem Leben ist. Gleichsam suchen sie verzweifelt nach Halt und anderen Menschen, die sie lieben und achten, unabhängig von der gelebten Vergangenheit. Sie ertragen Schmerzen und Demütigungen, stehen aufrecht und nehmen ihr Schicksal an, ohne jemals zu vergessen oder zu verzeihen. Ihrer aller Leben ist die Suche nach einem Ort, einem Zuhause, das sie nicht mehr verlieren können, weil es in ihren Herzen weiterlebt.


Der Schreibstil des Roman ist eingängig und interessant, denn immer wieder trifft man als Leser auf die Namen bereits bekannter Vorfahren und erlebt nicht nur die Veränderung der Ansichten, die Lockerung der Gesetzt oder ihre Verschärfung, man kommt direkt in der Familiengeschichte vorwärts, hat beinahe das Gefühl, die Menschen hinter der Geschichte zu kennen und nähert sich ihnen dennoch nicht endgültig an, da ein Abschnitt meist dort endet, wo man glaubt, dass derjenige seinen Weg gefunden haben könnte, doch man erfährt es nicht bis ins letzte Detail. Diese Erzähltechnik stört mich dennoch nicht, weil sich im Folgenden wieder neue Impulse aufbauen, die entdeckt und verarbeitet werden wollen.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen einfühlsamen wie unterhaltsamen Roman, der epochale Entwicklungen in der Geschichte der Sklaverei aufgreift und dennoch sehr persönlich auf mich wirkt, weil er nichts anders als eine langjährige Familientragödie ist, der man als Angehöriger nicht einfach so entkommen kann. Er scheint wie eine Reise, deren Ziel nicht ganz klar ist, bei der es aber um die Maßstäbe und Entdeckungen auf den einzelnen Etappen geht. Die Geschichte hat keine herkömmlichen Helden, die schillernd über dem Geschehen thronen, sie konzentriert sich auf einfache Menschen, die immer wieder aufstehen, die jegliche Strafe ertragen, die mit den Untiefen der Menschlichkeit in Berührung kommen und doch niemals verzweifeln, sei es auf Grund ihres Glaubens oder der Reinheit ihrer Gedanken. Sie alle sind nur ein winziges Körnchen im Getriebe und verändern doch ihre Umwelt ganz wesentlich, vielleicht weil sie es nicht nur in den Kopf des Lesers schaffen, sondern auch in sein Herz.

Veröffentlicht am 22.03.2018

Was wirklich bleibt

Eine Liebe, in Gedanken
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„Natürlich können wir Zukunftspläne schmieden, aber wir dürfen uns nicht in Tagträumen verlieren. Wir müssen fest in der Gegenwart stehen, denn die Gegenwart ist das Rohmaterial für die Zukunft.“


Inhalt


Edgar ...

„Natürlich können wir Zukunftspläne schmieden, aber wir dürfen uns nicht in Tagträumen verlieren. Wir müssen fest in der Gegenwart stehen, denn die Gegenwart ist das Rohmaterial für die Zukunft.“


Inhalt


Edgar und Antonia waren Mitte der 60-iger Jahre ein schönes Paar, sie wollten heiraten und sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Er bekommt die Chance als Kaufmann nach Hongkong zu gehen und sich dort zu profilieren, sie möchte ihm gerne folgen, sobald klar sein wird, wie genau das Leben in Fernost aussehen wird. Sehnsüchtig wartet sie nicht nur auf die hunderten Briefe, die sich im Laufe der Zeit ansammeln, sondern auch auf ein Flugticket zum Geliebten. Doch für Edgar wird klar, dass er sich ein Leben mit Antonia in Hongkong nicht mehr vorstellen kann und so lässt er die Beziehung auslaufen. Ohne böse Worte, ohne große Abschiedsszene. Die junge Frau muss sich neu finden und einen anderen Lebensweg einschlagen, fernab vom Mann ihrer Träume, fernab von einer schillernden Zukunft mit zahlreichen Perspektiven. Doch sie lässt sich nicht entmutigen und beginnt, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, dass beste aus der Situation zu machen – sie findet eine neue Liebe, bekommt eine Tochter und denkt nur noch manchmal an das, was sie verloren hat. Jahre später, nachdem Antonia gerade verstorben ist, beginnt ihre Tochter, sich auf die Suche nach der großen Liebe ihrer Mutter zu machen und versucht zu verstehen, warum Edgar Janssen bis zum Schluss ein wichtiger Pfeiler im Leben von Antonia war …


Meinung


Die Hamburger Autorin Kristine Bilkau, die bereits mit ihrem Debütroman „Die Glücklichen“ sehr erfolgreich geworden ist, greift hier auf eine äußerst nachvollziehbare, zu Herzen gehende Geschichte zurück. Sie erzählt von Dingen, die greifbar, akzeptabel und sehr nachvollziehbar sind. Sie wendet sich mit einem sanften, vorurteilsfreien Blick der Vergangenheit zu und beschreibt nichts anderes als den unberechenbaren Lauf des Lebens, mit Höhen, Tiefen und verpassten Chancen. Aber auch mit Hoffnungen, Wünschen und dem Glauben an das Gute. Dieser ehrliche, ungeschönte Blick auf die Ereignisse eines vergangenen Menschenlebens macht den Charme dieses Romans aus, zeigt Menschlichkeit und Empathie, ohne ins Pessimistische zu verfallen. Fast so, als würde man selbst erkennen, dass nicht immer alles so enden muss, wie man es erträumt hat, aber doch nicht schlecht ist und es sich lohnt, nach Fehlschlägen wieder aufzustehen und weiterzumachen, selbst wenn der Verlust größer ist, als man sich zunächst eingestehen möchte.


Die Ich-Erzählerin des Romans schildert aus der Gegenwart heraus die Erlebnisse ihrer Mutter, sie betreibt in gewisser Weise auch Vergangenheitsbewältigung, denn ihr eigenes Leben war von der Gestalt Edgar Janssen nicht unwesentlich geprägt, da ihre Mutter, eine offene, freiheitsliebende, ehrliche Person war und ihr Kind in ihre Lebensentscheidungen mit einbezogen hat. Durch diese übergeordnete, aus zweiter Hand bekommene Einsicht, blieben mir leider die beiden Hauptprotagonisten des Buches etwas fremd. Weniger ihre sichtbaren Eigenschaften, als vielmehr ihre Innerlichkeit. Über weite Teile des Buches, blieb mir die Handlung zu oberflächlich, die Gefühle von Antonia und Edgar leicht getrübt, was sicherlich daran lag, dass sie nicht selbst erzählen, sondern das die Tochter versucht, die Gedankengänge zusammenzuführen. In diesem Schachzug der Autorin liegt damit mein Hauptkritikpunkt: Ich hätte mir mehr Tiefgang, mehr Emotionen gewünscht, oder anders ausgedrückt, es hätte mir besser gefallen, wenn Antonia selbst die Erzählerin gewesen wäre.


Andererseits empfinde ich den Roman als eine äußerst gelungene Auseinandersetzung der Tochter mit dem Leben der Mutter – auch das ein interessanter Ansatzpunkt des Textes, der vor allem im letzten Drittel des Buches die Oberhand gewinnt und mich mit der Geschichte wieder aussöhnt. Erst hier kommen für mich all jene Gefühle zum Ausdruck, die ich mir bereits eher gewünscht hätte. Auch wenn es dann nicht mehr um die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern zwischen Mutter und Tochter geht. Insgesamt ein wunderbarer Handlungsbogen, genau richtig, um zu reflektieren und Parallelen zu ziehen. Dazu ein sehr sanfter, leiser Erzählton, verfasst in eingängiger Sprache, einladend und zum Verweilen gedacht.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen Roman, der mit leichter Hand unterhält, eine schöne, wenn auch melancholische Geschichte offenbart, zahlreiche Überlegungen aufgreift, über die es sich nachzudenken lohnt und Menschen zeigt, die nicht perfekt sind, es auch nicht sein wollten und die trotzdem Spuren hinterlassen haben. Dieses Buch schildert das, was wirklich bleibt, von Handlungen, Erinnerungen, Wünschen und Träumen. Zeigt warum Liebe den Menschen nachhaltig prägt und warum man ein Leben im Schatten einer Möglichkeit lebt, ohne mit dem Alltag zu hadern. Dieser Punkt und seine vielschichtigen Ausführungen haben mich mit einer doch sehr distanzierten Liebesbeziehung versöhnt, deshalb kann ich diesen Roman durchaus weiterempfehlen.

Veröffentlicht am 20.03.2018

Wir wollen nur noch sein und überleben

Wiesenstein
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„Das unentschiedene Schwanken scheint eine Spezialität von ihm zu sein. Nun gut, wer wankt, gewahrt vielleicht mehr als derjenige, der stur geradeaus schreitet.“


Inhalt


Gerhart Hauptmann, ein angesehener ...

„Das unentschiedene Schwanken scheint eine Spezialität von ihm zu sein. Nun gut, wer wankt, gewahrt vielleicht mehr als derjenige, der stur geradeaus schreitet.“


Inhalt


Gerhart Hauptmann, ein angesehener und schon zu Lebzeiten berühmter Mann, flieht schwerkrank mit einem der letzten Züge aus der zerbombten Großstadt Dresden, deren Schönheit nun in Schutt und Asche liegt. Sein Ziel, welches er sehnlichst zu erreichen hofft, ist seine Trutzburg Wiesenstein, ein stattliches Gebäude, fast ein Schloss, weitab vom Kriegsgeschehen in Schlesien gelegen. Dort, so wünscht er sich, soll sein Leben enden, in Sicherheit, abgeschirmt von der Welt, die durch den Zweiten Weltkrieg derart aus den Fugen geraten ist. Mit ihm reisen seine besorgte Ehefrau Margarete, der neugewonnene und unentbehrliche Masseur Metzkow und die langjährige, treue Sekretärin Pollak. Als sie fast wie von Zauberhand die Heimat erreicht haben, beginnt Hauptmann zu genesen, bald schon sitzt er wieder als Oberhaupt des Hauses am Tisch. Doch vor der Haustür tobt die Barbarei, die Kriegsmaschinerie fährt ihre letzten Ressourcen auf und muss sich bald schon vom Endsieg verabschieden. Wiesenstein bleibt der letzte Zufluchtsort für den Nobelpreisträger und seine Bediensteten und wird doch mehr und mehr zum Gefängnis, denn nicht nur die Vorräte gehen zur Neige, sondern die Angst, wer der erste Fremde vor den Toren sein wird, treibt alle um – erstmals eine Situation, der auch Gerhart Hauptmann mit seiner Dichtung nichts mehr entgegenzusetzten weiß.


Meinung


Der in Niedersachsen aufgewachsene Autor Hans Pleschinski, selbst ein Kenner der Kulturlandschaft, weil er nicht nur Germanistik studierte, sondern auch Theaterwissenschaft, setzt sich in seinem aktuellen Roman „Wiesenstein“ absolut glaubwürdig und nah an der historischen Wahrheit mit den Ereignissen kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges auseinander. Es gelingt ihm dabei auf famose Art und Weise nicht nur ein Buch über den Dichter Gerhart Hauptmann zu verfassen, sondern auch ein schockierendes Intermezzo der letzten Kriegstage aufzuzeichnen. So dass ich zu allererst die Arbeit und die damit verbundene Recherche loben möchte. „Wiesenstein“ ist ein opulentes, ein monumentales Gesamtwerk, welches man nicht unbedingt mögen muss, um ihm dennoch Respekt zu zollen.


Der Plot kommt mit nur wenigen Protagonisten aus, die sich klar in zwei Lager spalten. Auf der einen Seite die Hausherren, also das Ehepaar Margarete und Gerhart Hauptmann, auf der anderen Seite eine Hand voll Angestellter, die unterschiedlich lange im Dienste weilen und dementsprechend mehr oder weniger Auskunft geben können über ihr Leben an der Seite der Vorgesetzten. Dabei legt der Autor großen Wert darauf, alle Protagonisten gleichermaßen mit einem persönlichen Hintergrund auszustatten, so dass es dem Leser gar nicht schwer fällt, sich die Menschen vorzustellen, die hier auf gut 500 Seiten agieren. Auffallend dabei ist die klare Zuteilung der Sympathiewerte. Denn während die Hauptmanns nach und nach immer weniger Zuspruch bekommen, empfindet der Leser für die Randfiguren schon bald viel mehr Verständnis und Entgegenkommen. Dennoch bleibt Pleschinski sehr objektiv, urteil nicht und zeigt auch, dass Hauptmann im Dritten Reich zwar beständig an seinem Prestige gearbeitet hat und seine dichterische Meinung sehr wohl und äußerst überlegt zur Verfügung stellte, innerhalb seines Refugiums aber durchaus unparteiisch blieb und vor allem der Kunst und dem geistigen Austausch einen hohen Stellenwert einräumte.


Besonders gelungen ist auch das Porträt der zerstörten Städte, das klägliche Scheitern der verbliebenen deutschen Kämpfer und die nachfolgende Barbarei, die auch den letzten Lebenswillen vieler Menschen zerstörte. In teilweise grausigen Bildern beschreibt er den Zug der Vertriebenen, der Entflohenen der Konzentrationslager oder auch die Hilflosigkeit der einfachen Bürger, die nicht mehr wissen, was sie in nächster Zukunft essen sollen. Damit rüttelt das Buch wieder einmal wach und schärft das Bewusstsein, wie vernichtend und sinnlos ein Krieg sein kann und wird, wenn man ihn erst mit einer derartigen Vehemenz initiiert.


Letztlich war es wohl der Schreibstil und die teilweise überladene Erzählweise, die mir die Freude an diesem Buch etwas genommen haben. Zunächst einmal die vielen historischen Fakten, vermischt mit den Eckdaten des dichterischen Gesamtwerkes von Hauptmann und dann noch in Kombination mit längeren lyrischen Auszügen aus dessen vielfältigen Publikationen – beim besten Willen, hier muss man nicht nur hochkonzentriert lesen, sondern wird immer wieder unschön aus den Gedankengängen herausgerissen. Hinzu kam ein mir unglücklich erscheinende Kombination zwischen einem fiktiven Roman und einem informativen Sachbuch. Dadurch das viele Fakten belegt sind und sowohl Orte als auch Personen auf Tatsachen beruhen, fehlte mir stellenweise die Leichtigkeit, die dichterische Freiheit des Autors, die interessanten Aspekte, die einen klassischen, belletristischen Roman für mich ausmachen.


Fazit


Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen facettenreichen, sachlich orientierten Roman, der sich intensiv mit dem Krieg und auch mit dem Leben Gerhart Hauptmanns in seinen letzten Tagen auseinandersetzt. Und wenn er nicht so mühsam zu lesen gewesen wäre, hätte ich noch einen kleinen Bonuspunkt für die Schilderung eines im Umbruch befindlichen Landes gegeben. So aber bleibt es mir in erster Linie als ein herausforderndes Leseerlebnis in Erinnerung, dem ich viel Zeit gewidmet habe, ohne dass es Nachklang in mir auslöst und das ist sehr schade. Ich empfehle die Lektüre all jenen, die sich historisch oder aus Interesse mit Gerhart Hauptmann befassen möchten, die aber bestenfalls einen Bezug zu der Thematik haben sollten. Es empfiehlt sich darüber hinaus in die Leseprobe zu schauen, der Schreibstil bleibt entsprechend.

Veröffentlicht am 20.03.2018

Der Vergleich zwischen lebendig und tot

Still Chronik eines Mörders
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„Der Tod nicht nur als Weg aus diesem Leben heraus, sondern als Lebensweg. Sich dort einbringen, wo dieses Dasein nicht allein durch die Beschwerlichkeit des Existierens zur Marter wird, sondern Bitterkeit ...

„Der Tod nicht nur als Weg aus diesem Leben heraus, sondern als Lebensweg. Sich dort einbringen, wo dieses Dasein nicht allein durch die Beschwerlichkeit des Existierens zur Marter wird, sondern Bitterkeit erfährt durch das Vorhandensein der Mitmenschen.“


Inhalt


Karl Heidemann, der als Baby nur schreit, weil er die Geräuschkulisse der Welt nicht erträgt, der seine Kindheit nach der erschreckenden Einsicht seiner Eltern in einem umgebauten Kellerraum verbringt und erst beim Selbstmord seiner Mutter an die Oberfläche kommt, entdeckt voller Faszination die Metamorphose zwischen lebendig und tot. Und ihm ist ausschließlich und endgültig klar, dass die Menschen einen großen Fehler begehen, wenn sie ihr Leben über die Schönheit, den Frieden, die Stille des Todes stellen. Wozu all das Aufbegehren, wenn doch die Erlösung erst mit dem Tod eintritt? Er beschließt nun selbst dafür zu sorgen, seinen Mitmenschen das Wunder des Sterbens näherzubringen, in dem er sich zum Mörder entwickelt. Und erst als er in seiner Jugend das taubstumme Mädchen Marie kennenlernt, die von ihrem gewalttätigen Vater misshandelt wird, tritt ein Motiv in sein Bewusstsein. Karl kann nicht nur töten, er wird sich auch rächen und er hat dafür alle Zeit der Welt.


Meinung


Thomas Raab, der erfolgreiche österreichische Autor, der sich mit seinen Kriminalromanen um den Restaurator Willibald Metzger einen Namen gemacht hat, entwirft mit seiner Chronik über einen Mörder, ein faszinierendes, tiefgründiges und beeindruckendes Porträt über einen verzweifelten Menschen, der einfach auf Grund eines körperlichen Defizits und daraus resultierender Fehler seiner Erzieher, eine dunkle Seite entwickelt hat, die er bald vielversprechender erachtet als ein Leben in der menschlichen Gemeinschaft. Und auch wenn sich dieser Thriller scheinbar an der Idee von Patrick Süßkinds Roman „Das Parfum“ orientiert, steht er diesem in nichts nach. Während hier der Hörsinn der Auslöser für die Geburt eines Mörders ist, war es dort der Geruchssinn und beide Bücher sind doch ganz einmalig und in ihrer Gesamtheit ein erschreckendes Bildnis über die Verfehlungen der menschlichen Seele.


Der Autor widmet sich intensiv und von Kindesbeinen an der Entwicklung des Karl Heidemann, so dass der Leser sehr gut die eigentlichen und die endgültigen Verfehlungen der Umgebung unterscheiden kann. Dabei wählt er eine distanzierte Erzählperspektive, die alles sehr objektiv und ohne Melodramatik auskommen lässt. Generell ein formschöner Satzbau, der Nachklang erzeugt und nicht auf Effekthascherei abzielt. Er legt Wert darauf zu zeigen, dass auch im landläufigen Begriff von „böse“ manchmal nur die Unkenntnis von „gut“ verankert ist und sich durchaus ein alternativer Lebensweg beschreiten lässt, sofern die äußeren Möglichkeiten gegeben sind. Und dieser Fakt ist das Besondere des Buches. Denn trotz der grausamen Handlungen des Täters, kommt man nicht umhin, in Karl einen Menschen zu sehen, der Gefühle hat, der sucht und Nähe finden möchte, dem aber die Still des Todes doch so angenehm erscheint, dass er sie dem Wirbel des Lebens vorzieht.


Thomas Raab vermag es, Mitgefühl und Verständnis heraufzubeschwören, dort wo eigentlich keines sein sollte. Er bedient sich gekonnt diverser Nebenfiguren, die Karl immer ein Stück des Weges begleiten, die ihn formen und prägen und dennoch nicht aufhalten können. Auch sein Schachzug mit der Liebe, die ganz plötzlich und unverhofft in Karls Leben tritt, ebnet den Weg hin zu einem Menschen, der sich Gedanken macht über den Sinn des Lebens und explizit über seine Stellung im Gefüge. Dieser Thriller, der mehr einer Studie der menschlichen Psychologie zu sein scheint, fängt so viele verschiedene Facetten ein, dass ich voller Begeisterung den Handlungsverlauf folgen konnte. Nie war es zu grausam, nie zu unverständlich, nie zu abstrakt, sondern eher wie eine fortwährende Spirale, die immer tiefer hinein in das Gedankengut eines Serienmörders führt.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen, tiefgründigen Thriller, der viele Elemente eines guten Spannungsromans beinhaltet und sich mehr mit dem Seelenleben des Einzelnen, mit einer persönlichen Geschichte voller Unwegbarkeiten auseinandersetzt, als mit dem Ergebnis selbst. Dabei greift die Erzählung auf vielfältige Grundsätze zurück und beschäftigt sich mit Motivation ebenso wie mit Abwehr, mit Liebe gleichermaßen wie mit dem Tod, mit fehlendem Gewissen und greifbarer Gewissheit. Karl Heidemann - dass Synonym für einen Mörder, der sein Leben der Stille gewidmet hat und doch nicht bewirken konnte, dass andere ihn restlos verstehen, selbst ich nicht als Leser, doch das tut dieser grandiosen Geschichte keinen Abbruch.