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Veröffentlicht am 18.01.2018

Variationen eines fragilen modernen Lebens

Nussschale
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„Meine getreue Schnur, die Lebensader, die mich nicht erwürgte, stirbt plötzlich den ihr bestimmten Tod. Ich atme. Köstlich. Mein Rat an Neugeborene: Schreit nicht, schaut euch um, schmeckt die Luft.“


Inhalt


Trudy ...

„Meine getreue Schnur, die Lebensader, die mich nicht erwürgte, stirbt plötzlich den ihr bestimmten Tod. Ich atme. Köstlich. Mein Rat an Neugeborene: Schreit nicht, schaut euch um, schmeckt die Luft.“


Inhalt


Trudy und Claude führen eine halboffizielle Liebesbeziehung, mit familiärem Hintergrund. Denn während Trudy hochschwanger mit ihrem Schwager verkehrt und ihr neues Liebesglück feiert. Wächst der ungeborene Sohn in ihrem Bauch als ein Überbleibsel der vergangenen Beziehung. Aber der gehörnte Ex namens John gibt nicht so schnell auf, schließlich ist er Dichter und konnte Trudy bereits vor einiger Zeit mit Poesie begeistern. Doch diesmal hat er die Rechnung ohne seine Frau und seinen Bruder gemacht, ganz zu schweigen von dem kleinen Menschlein mit seinem Erbgut, eines ist mehr als klar – John Cairncross muss endgültig von der Bildfläche verschwinden, diesmal jedoch für immer …


Meinung


Ich mag den besonderen Schreibstil des britischen Autors Ian McEwan sehr gern, in seinen Romanen gelingt es ihm menschliche Gefühle regelrecht zu sezieren und die Bedeutsamkeit der Emotionen an die Oberfläche zu holen. Auch hier in der abgeschirmten Welt eines noch ungeborenen Kindes tobt ein wahrer Sturm an diversen Befindlichkeiten, doch leider konnte mich seine „Nussschale“ nicht so gefangen nehmen, wie ich es mir erhofft habe. Schon seit seinem Erscheinen 2016 schlummerte der Roman in meinem Bücherregal und ich freue mich, ihn nun gleich zu Beginn des Lesejahres ans Licht geholt zu haben, selbst wenn es meinerseits so einige Kritikpunkte gibt.


Erzählt wird die Geschichte aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive, nämlich aus Sicht eines ungeborenen Kindes, welches auf Gedeih und Verderb den Befindlichkeiten und der hormonellen Achterbahnfahrt seiner hochschwangeren Mutter ausgesetzt ist. Gerade dieser Blick auf einen Hauptprotagonisten ohne Namen, macht den eigentlichen Reiz dieser Erzählung aus. Denn irgendwie finde ich diese Idee sehr alternativ und überaus spannend. Rückblickend war sie tatsächlich das ausschlaggebende Erzählelement, welches mich dazu bewogen hat, das Buch zu beenden.


Die Handlung selbst ist wahrlich nichts Neues und birgt keine Überraschungen. Der Leser trifft eine Frau, die sich einen Liebhaber genommen hat, der sie sexuell beglückt. Das dieser nun gerade der Bruder ihres Noch-Ehemannes ist, scheint eher ein Zufall zu sein als Beabsichtigung. Auch der betrogene Ehemann wirkt nicht gerade ambitioniert, mal abgesehen von seiner dichterischen Ader, die er in selbstgeschriebenen Reimen zum Besten gibt. Und der ungehobelte Klotz von Mann, der nun der Auserwählte ist, verfügt nach Meinung des Erzählers nicht einmal über Benehmen, geschweige denn über Stil oder Grips.


Leider konnte mich die aufgegriffene Geschichte ganz und gar nicht begeistern. Denn obwohl es um einen Mord geht, noch dazu einen absolut sinnlosen, bleibt die Story so schwammig wie nur denkbar, möglicherweise ist das durch die Verbindung aus dem Mutterleib nicht anders denkbar, vielleicht sogar gewollt, doch dann hätte der Umfang einer Kurzgeschichte ausgereicht. Sehr bitter aufgestoßen haben mich die vielen Nebensächlichkeiten, die tatsächlich keine sind: die werdende Mutter hängt an der Flasche, aber der Embryo schätzt die Vorzüge eines guten Weines und ist Kenner auf diesem Gebiet. Die Mutter selbst empfindet zwar Wollust beim Liebesspiel, doch kümmert sie sich nicht einmal emotional um das kleine Wesen in ihrem Bauch. Und so wird das Baby zum ungeliebten Mittelpunkt dieser Erzählung, ungewollt, immer im Weg und dann auch noch in der Lage dazu, seine Mutter und ihren neuen Gefährten aufzuhalten, indem es die Fruchtblase zerstört. Einmal abgesehen von einigen humoristischen Passagen, die mich zum Lachen gebracht haben, finde ich wenig lobenswerte Punkte. Es hätte keinen Unterschied gemacht, ob ich das Buch nun gelesen hätte oder nicht, in Erinnerung bleibt es nicht und wenn dann eher mit negativen Attributen versetzt.


Fazit


Ich vergebe müde 2 Lesesterne für diesen ungewöhnlichen Roman, bei dem die Idee zur Umsetzung noch das Beste war. Wenig Aussagekraft, eine Handlung, die man bereits zu Beginn voraussehen kann und sehr idiotische Charaktere – alles wird bewusst überspitzt dargestellt. Ein bitterböser Humor kommt noch dazu, der mir doch das ein oder andere Lächeln entlocken konnte. Insgesamt leider eine schwache Leistung, die ich nur widerwillig beendet habe. Sehr schade, denn aus dem Ansatz hätte eine wunderbare Geschichte werden können, zumindest in meiner Vorstellung. Möglicherweise kann man dieses Buch in der Interaktion mit anderen Lesern besser verstehen. Ich könnte es mir sehr gut als Oberstufenlektüre vorstellen, vielleicht habe ich den Knackpunkt der Story nur ganz falsch verstanden …

Veröffentlicht am 16.01.2018

Die unberechenbaren Winkelzüge des Schicksals

Traumsammler
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„Man soll einen Sinn im Dasein finden, heißt es, und dann leben, aber manchmal stellt man erst im Alter fest, dass das eigene Leben tatsächlich einen Sinn gehabt hat – wenn auch nicht den, den man sich ...

„Man soll einen Sinn im Dasein finden, heißt es, und dann leben, aber manchmal stellt man erst im Alter fest, dass das eigene Leben tatsächlich einen Sinn gehabt hat – wenn auch nicht den, den man sich vorgestellt hat.


Inhalt


Pari und Abdullah leben mit ihrer Familie in großer Armut in einer bescheidenen Hütte in der Wüste Afghanistans, die Mutter gestorben, der Vater hat sich eine neue Frau genommen und die Geschwister suchen aneinander Halt in ihrer kleinen Welt, die durch Unruhe geprägt ist. Doch Pari weckt das Interesse eines wohlhabenden Ehepaares aus Kabul, die selbst kinderlos sind und sich in das kleine Mädchen verliebt haben. Und so trennen sich die Wege der beiden fast für ein ganzes Menschenleben. Und während Pari in Frankreich ein gut situiertes Leben führt, bleibt Abdullah in der Heimat. Nur ihrer beider Onkel Nabi weiß noch um die genauen Zusammenhänge, weil er es auch war, der den Kontakt zwischen Paris Pflegefamilie und seinem Bruder hergestellt hat. Und erst in seinem Nachlass taucht ein Brief auf, der es den Nachkommen ermöglicht, an einer Familienzusammenführung im Alter mitzuwirken – damit sich findet, was einst zusammen gehörte …


Meinung


Der aus Afghanistan stammende Autor Khaled Hosseini entführt den Leser in seinen Büchern in seine Heimat und schildert das Leben und Leiden der Menschen vor Ort. Seine zahlreichen Romane wurden zu Weltbestsellern und erschienen in 70 Ländern. Für mich war „Traumsammler“ allerdings das erste Buch des Autors, welches ich gelesen habe und obwohl es mich nicht ganz überzeugen konnte, würde ich sehr gern ein weiteres lesen. Denn eines kann man der Erzählsprache nicht abstreiten – sie ist intensiv, empathisch und ergreifend, sie berührt den Leser auf eine sehr leise, Art und Weise und weckt das Interesse an Menschen, Emotionen und Wendungen des Schicksals.


Zugegeben habe ich mir unter der vorliegenden Geschichte zunächst ein Geschwister-Schicksal und die Auswirkungen auf das jeweilige Leben der Beteiligten vorgestellt, doch dieser Aspekt bildet lediglich den Handlungsrahmen des Romans. So war ich während des Lesens immer etwas enttäuscht, das weder Abdullah noch Pari den Stellenwert bekamen, den ich ihnen zugedacht hätte. Der Autor legt nicht unbedingt Wert auf einen Hauptprotagonisten, vielmehr schafft er ein ganzes Heer an Nebencharakteren, die dann jedoch aus ihrer Sicht, Bruchstücke der erlebten Geschichte wiedergeben. Es sind demnach mehr die Schnittstellen einzelner Schicksale und die zufälligen Ereignisse im Leben diverser Menschen, die den eigentlichen Kern der Erzählung vermitteln.


Dadurch entstehen viele kleine Episoden, die fast wie Fragmente das Gerüst der Gesamterzählung ausmachen. Und dieser irgendwie zerfaserte Erzählstil, ist auch mein Hauptkritikpunkt an einer ansonsten tiefgründigen, stillen Erzählung über das Leben der Menschen in der Fremde. Hosseini greift auf sehr elementare Gefühlsregungen zurück, er beschreibt nicht nur Orte, sondern zeigt auch, warum sie wichtig waren. Er bezieht Stellung zu Nächstenliebe, Leben in der Fremde, einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl aber auch zu Wandlungen, zu Verfehlungen seiner Protagonisten, zu Schuld und Reue und damit auch zum Schicksal selbst.


Immer wieder ist es dieser unbenannte Handlungsschwerpunkt, der mich nachhaltig faszinieren konnte. Im inneren der Geschichte liegt für mich der tief verwurzelte Glaube an eine Sinnhaftigkeit des Lebens, an die Gewissheit des Einzelnen, dass sein Dasein, egal wie bitter es auch erscheinen mag, einen ganz bestimmten Zweck erfüllt. Und das die unberechenbaren Winkelzüge des Schicksals eines Tages für die Erfüllung ebenjener Aufgabe stehen, dass nichts umsonst war und das die Hoffnung nicht nur bei einem Menschenleben liegt, sondern auch in der Gesamtheit einer Familie, eines Interessenverbandes oder auch im Herzen der Verstorbenen.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen Roman, der die Thematik Familie, Leben, Schicksal und Bestimmung berührt und eine weitreichende Geschichte über viele Generationen hinweg beschreibt. Wer einen gefühlvollen, sinnreichen Roman über Herkunft, Heimat und Zugehörigkeit sucht wird ihn hier definitiv finden. Allerdings muss man sich auf die Erzählweise einlassen, denn die Menschen hinter der Geschichte bleiben ungewöhnlich blass und austauschbar. Namen, Beweggründe und Handlungen sind so zahlreich und unübersichtlich, dass ich mir schlicht und einfach eine klare Erzählstruktur mit eindeutigen Aussagen gewünscht hätte. Zu vieles bleibt der Sicht des Lesers überlassen, zu vieles bleibt ungesagt und manche Figuren schleichen sich still und heimlich davon, fast wie der Wüstensand, der kilometerweit verweht wird und doch nur ein Körnchen im Getriebe war.

Veröffentlicht am 11.01.2018

Menschliche Tragödie in Tanum

Die Eishexe
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„Er war das Opfer unserer Angst, unserer Schuld und Egozentrik. Wir haben zugelassen, dass unser eigener Schmerz alles zerstörte, was wir hatten und was er hatte. Wie mache ich den Leuten begreiflich, ...

„Er war das Opfer unserer Angst, unserer Schuld und Egozentrik. Wir haben zugelassen, dass unser eigener Schmerz alles zerstörte, was wir hatten und was er hatte. Wie mache ich den Leuten begreiflich, dass nichts davon seine Schuld ist?“


Inhalt


Patrick Hedström ermittelt in einem neuen Fall in Fjällbacka. Ein 4-jähriges Mädchen ist verschwunden und wurde wahrscheinlich ermordet. Besonders dramatisch ist die scheinbare Wiederholung des Verbrechens, denn schon vor 30 Jahren verschwand die kleine Stella Strand und wurde leblos im Wasser gefunden. Die Parallelen zwischen den Verbrechen sind auffallend, allein weil die beiden Kinder auf ein und demselben Hof lebten und die damals Beschuldigten immer noch vor Ort sind. Gibt es eine Verbindung zwischen den Fällen oder handelt es sich um einen Nachahmungstäter? Und warum fehlen den beiden Hauptverdächtigen stichhaltige Alibis aber andererseits auch schlüssige Motive. Die Polizei ermittelt fieberhaft, um den Täter aufzuspüren, doch derweil braut sich an anderer Stelle ein noch größeres Drama zusammen, bei dem es nicht nur um Fremdenfeindlichkeit geht, sondern auch um Rache, Rache an Taten, die Seelenqualen ausgelöst haben …


Meinung


Ich bin mit einer hohen Erwartungshaltung an den 10. Band der Falck/ Hedström-Reihe aus der Feder der schwedischen Erfolgsautorin Camilla Läckberg herangetreten, die Leseprobe konnte mich überzeugen und lies mich auf spannende Unterhaltung hoffen. Andere Romane der Autorin konnten mich bereits begeistern und obwohl ich längst nicht alle Bücher dieser Reihe kenne, habe ich mich doch mit Überzeugung ins Leseabenteuer gewagt. Leider musste ich feststellen, dass der gute Start nicht von Dauer war und bereits nach 100 Seiten ließ sich absehen, dass es sich um einen zähen, nicht übermäßig fesselnden Kriminalroman handelt.


Zunächst einmal fand ich die Vielzahl der Protagonisten und ihre ausufernd beschriebene Verbindung zueinander sehr störend. Gerade am Anfang bereitete mir eine Zuordnung von Namen und Taten einige Probleme. Doch dieser Umstand verliert sich im Laufe der Erzählung. Dafür tritt die Handlung dann ungemein auf der Stelle. Mir kam es so vor, als würde den zahlreichen Nebenhandlungen wesentlich mehr Spielraum eingeräumt, als dem eigentlichen Plot. Angefangen von privaten Ausflügen, hin zu Streitigkeiten auf der Dienststelle, dann wieder sprunghaft zu den bedenklichen Ereignissen einer neuen Flüchtlingsunterkunft im beschaulichen Fjällbacka – von Stella und Linnea, den beiden ermordeten Mädchen hört man nur noch wenig. Außerdem wiederholt die Autorin ganze Sätze fast wortgleich auf den nächsten 10 Seiten nochmals. Nachdem man bereits wusste, dass die Arbeit anstrengend, das Wetter brütend heiß und die Kollegen übernächtigt sind, wird man kurz darauf nochmals darüber aufgeklärt. Dieses Muster stößt mich fast schon ab, entsteht dadurch doch der Eindruck, dass man problemlos 20 Seiten später weiterlesen kann, ohne Grundlegendes verpasst zu haben.


Ganz eindeutig hat mir dieser Kriminalroman zu viele Baustellen, denen zwar mit viel schriftstellerischer Hingabe Tribut gezollt wird, die mich als Leser aber nicht alle gleichermaßen ansprechen konnten. Als dann auch noch eine weitere Geschichte eingebaut wird, die sich im 17. Jahrhundert abspielte und eine traurige Handlung von Liebe/ Verrat und Hexerei aufgreift, musste ich mich zum Weiterlesen zwingen. Viel zu überladen und zerfasert war mir mittlerweile die Handlung.


Positiv beurteile ich in erster Linie die schriftstellerische Ausarbeitung, man spürt als Leser das Vorhandensein einer komplexen Handlung, kann zu fast jeder handelnden Person eine Beziehung entwickeln, sieht die Menschen vor dem inneren Auge und spürt auch das intensive Recherchieren im Vorfeld. Das Buch verfolgt einen Plan und könnte mich als Verfilmung möglicherweise sogar ansprechen, nicht jedoch auf scheinbar endlosen 741 Seiten Text.


Fazit


Ich vergebe wohlwollend 2,5 Lesesterne für diesen Kriminalroman der Erfolgsautorin, die versucht ein weiteres spannendes Verbrechen zu konstruieren und sich leider irgendwo im Erzählen verliert. Vielleicht können die Liebhaber der Falck/ Hedström- Reihe dem vorliegenden Buch mehr abgewinnen, mich hat es abschließend nur noch gelangweilt und ich habe begonnen einige Seiten zu überfliegen, was ich normalerweise sehr ungern mache. Nicht mein Buch, nicht mein Fall und trotz guter Ansätze keine Top-Lektüre.

Veröffentlicht am 06.01.2018

Sehnsucht nach Größe, Sehnsucht nach Nähe

Olga
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Sie sah, dass die Rolle, die sie in Herberts Leben spielte, an die Rolle der Geliebten im Leben eines verheirateten Mannes erinnerte. Der verheiratete Mann lebt in seiner Welt und geht seinen Dingen nach, ...

Sie sah, dass die Rolle, die sie in Herberts Leben spielte, an die Rolle der Geliebten im Leben eines verheirateten Mannes erinnerte. Der verheiratete Mann lebt in seiner Welt und geht seinen Dingen nach, und gelegentlich spart er aus seinem Leben ein Stück aus und verbringt es mit der Geliebten, die an seiner Welt und seinen Dingen keinen Anteil hat. Aber Herbert war kein verheirateter Mann, es gab keine Frau und keine Kinder, zu denen er zurückgekehrt wäre.“

Inhalt

Am Vorabend des ersten Weltkrieges beginnt die Liebesbeziehung zwischen dem ambitionierten Herbert und der unangepassten Olga. Nachdem sie bereits in Kinderjahren gute Freunde waren, entwickelt sich nun eine echte Liebesbeziehung, die allerdings in Familienkreisen nicht gutgeheißen wird. Für Herbert wäre eine deutsche, tugendhafte Frau, die sich anpasst und ins Familienleben einfügt genau die richtige Partie, doch Olga besucht das Lehrerinnenseminar und meistert ihr Leben sehr konsequent. Auf einen Beschützer ist sie nicht angewiesen. Unbeirrt meistern sie gemeinsam ein Stück des Weges, überzeugt von der Funktionalität ihrer Beziehung und der Echtheit ihrer Liebe. Doch Herbert strebt nach Größerem und kann Olgas Sehnsucht nach Nähe nur spärlich erfüllen. Schon bald ist ihr klar, dass es mit diesem Mann kein normales Familienglück geben wird. Und als Herbert schließlich eine Expedition ins arktische Eis antritt, wird es für Olga immer schwerer, an ein glückliches Ende zu glauben …

Meinung

Bernhard Schlink, der sich mit seinem beeindruckenden Debütroman „Der Vorleser“ in die Herzen der Leserschaft geschrieben hat, greift auch in dieser Erzählung eine sehr ungewöhnliche, definitiv nicht alltägliche Liebesbeziehung auf und seziert sie auf ihre tatsächlichen Bestandteile. Die, je genauer man hinschaut, immer weiter zerfasern und wenig Substanz besitzen, dafür umso mehr Nachhaltigkeit und Beständigkeit. Eine Beziehung, die zwar auf Liebe basiert, in der die Gefühle aber nicht wirklich zum Ausdruck kommen, eine Paarbeziehung, bei der die starken Einzelcharaktere die Weichheit und Freude abschleifen und der es mehr um Durchhalten, als um Zusammenhalten geht.

Während Olga die zentrale Figur der Geschichte ist und der Leser sehr genau in ihr Gefühlsleben aber auch in ihren Alltag Einblick gewinnt, bleibt Herbert, der männliche Part eine diffuse, eher blasse Figur, die zwar vom Ehrgeiz zerfressen aber gleichzeitig unfähig ist, eine zwischenmenschliche Beziehung zu führen. Sehr unterschiedlich wirken die beiden Menschen hier, bei denen der Leser nur hin und wieder spürt, warum sie in Liebe zueinander gefunden haben. Meist jedoch fragt man sich, welches Band die beiden tatsächlich miteinander verbinden konnte. Es bleibt ein kleines Mysterium, ein Fragezeichen im Raum und letztlich auch der Grund dafür, warum man als Leser sehr genau wissen möchte, welches Ende diese Liebe nimmt.

Der Autor teilt sein Buch in drei Abschnitte, im ersten erzählt Olga von ihrer Liebe zu Herbert und den Schwierigkeiten eines gemeinsamen Alltags, im zweiten erfährt der Leser aus dritter Hand von Olgas Leben nach der Expedition ihres Geliebten und im letzten Teil kann man direkt die Liebesbriefe von Olga an Herbert lesen, die über einen Zeitraum von vielen Jahren schildern, welche Beweggründe die junge Frau für ihre Handlungen hatte und welche Wünsche in ihrer Seele schlummerten. Prinzipiell eine sehr gut gewählte, vielschichtige Perspektive, die hier jedoch etwas unter der Kargheit einer unterkühlten Liebe leidet. Stellenweise kam es mir so vor, die Protagonistin füllt den Raum mit ihrer eigenen Person, weil das Gegenüber schlicht und einfach niemals da ist und die kurzen Momente dieser Liebe nicht reichen, um über Jahrzehnte die gleiche Intensität zu bewahren. Zumindest dieser Punkt wirkt sehr glaubhaft für den Leser.

Trotzdem fehlt der Erzählung einiges, um zum Lieblingsroman zu werden. Zunächst ist es die ständige Distanz, nicht nur zwischen den handelnden Personen, sondern auch zwischen dem Leser und der Geschichte an sich. Alles wirkt sehr sachlich, stellenweise zu glatt und trifft stets einen bedauernden Unterton, der kaum unterbrochen wird. Statt Liebe und Zuneigung findet man hier eher eine intellektuelle Auseinandersetzung mit zwei unterschiedlichen Menschen, die sich zwar alles bedeuten aber andererseits auch sehr gut allein leben können. Spürbar wird die Kluft allemal, auch der Wunsch nach Veränderung, im Wechsel mit dem Wunsch nach uneingeschränkter Akzeptanz - und das alles vor einem historischen Hintergrund, der mitnichten nach Verbindung und Lebensgestaltung schreit. Insgesamt wollte mir der Autor hier eindeutig zu viel. Er greift viele Fäden auf, verwebt Historisches mit Persönlichem und bleibt trotzdem irgendwo zwischen Können und Wollen hängen.

Letztlich fehlt es mir an Aussagekraft, an einer runden Geschichte, selbst wenn es sich hier um ein Drama handeln sollte, so würde ich nicht einmal das richtig spüren. Erzählerisch mag ich die schlichte, wortschöne Erzählweise des Autors sehr, die Lesestunden vergehen wie im Flug und die Geschichte hat Potential, man ist interessiert und möchte gerne mehr erfahren. Doch letztlich überwiegt diese Ungewissheit, es scheint nur die Abbildung eines Menschenlebens zu sein, wie es eben passiert sein könnte. Jede andere Wendung wäre aber auch denkbar gewesen und so fehlt mir trotz einer schönen Erzählung das gewisse Etwas, vielleicht auch nur die Antwort auf die Frage: „Warum leben wir in Paarbeziehungen, die niemals so werden, wie wir sie erträumen?“ Und wenn man schon in einer derartigen Situation ist, so muss es doch möglich sein, mehr Emotionen an die Leserschaft zu transferieren.

Fazit

Ich vergebe 3,5 (aufgerundet 4) Lesesterne für diesen Roman über unerfüllte Liebe, historische Ausnahmezustände, entschlossene Menschen und dem unabdinglichen Verlauf des Lebens. Vielversprechende Ansätze, deren Ausarbeitung mich nicht immer überzeugen konnte, dafür jedoch ein Buch mit viel Liebe zum schriftstellerischen Handwerk, mit einem unverwechselbaren Generalismus, der sich auf kleine Details ebenso wie auf weltbewegende Veränderungen konzentriert. Mit „Olga“ trifft man eine starke Frau, die sich sehr bewusst war, was es heißt zu lieben, ohne gleichermaßen zurückgeliebt zu werden. Und im Nachhinein betrachtet, ist diese Erkenntnis doch ein bitteres Los.

Veröffentlicht am 30.12.2017

Ganz unten gibt es noch den Keller

Kukolka
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„Ich wusste, dass ich zu niemandem gehöre und nichts wert bin. Das ich einfach da bin, so wie Kakerlaken. Niemand weiß, wo die herkommen. Niemand braucht sie. Sie leben, bis sie einer wegklatscht. Normalerweise ...

„Ich wusste, dass ich zu niemandem gehöre und nichts wert bin. Das ich einfach da bin, so wie Kakerlaken. Niemand weiß, wo die herkommen. Niemand braucht sie. Sie leben, bis sie einer wegklatscht. Normalerweise hätte ich geheult. Ich heulte in letzter Zeit ständig. Aber diesmal nicht.“


Inhalt


Samira lebt in einem Kinderheim in der Ukraine und kennt mit ihren 7 Jahren nichts weiter als Drill, Schläge, Strafen und Einsamkeit. Erst als sie ein anderes Mädchen kennenlernt und sich mit ihr anfreundet, bekommt ihr Alltag etwas Sonne. Doch Marina, ihre neugewonnene Freundin hat Glück: kaum im Heim angekommen, findet sie eine gutsituierte Adoptivfamilie aus Deutschland und verlässt Samira einfach so, um in der Fremde eine echte Familie zu finden. Fortan wird es das oberste Ziel der kleinen Zigeunerin, ebenfalls nach Deutschland zu kommen, egal wie und mit wem. Eine Flucht aus dem Heim scheint eine erste Option, doch auf der Straße lernt sie den schwergewichtigen, stinkenden Rocky kennen, der eine Art Auffangbecken für Jugendliche betreibt. Dort bekommt Samira, die sich jetzt Kukolka nennt ein Dach über dem Kopf, muss aber erleben, wie Drogen, sexuelle Gewalt und räuberische Delikte als ganz normale Einkommensquellen betrachtet werden. Je älter sie wird, desto schäbiger erscheint ihr Rocky und so geht sie nur zu gern im Alter von 12 Jahren mit ihrer ersten großen Liebe, die ihr wie ein Märchenprinz erscheint mit, doch auch dieser entpuppt sich bald als fataler Kontakt in Richtung Straßenstrich …


Meinung


Nach zahlreichen begeisterten Leserstimmen, wollte ich mir unbedingt ein eigenes Bild von diesem Roman machen und bin mit recht hohen Erwartungen an die Lektüre herangegangen. Und mich konnte die junge, selbst aus der Ukraine stammende Autorin mit ihrem Debütroman über Menschenhandel und Zwangsprostitution mehr als beeindrucken. Zunächst einmal, weil sie Samira, ebenjenes Mädchen, die seit ihrer Geburt am Rande der Gesellschaft lebt, erzählen lässt und so eine teilweise kaum aushaltbare Nähe zwischen der Protagonistin und dem Leser heraufbeschwört und zum anderen, weil sie mit so leichter Hand durch eine Odyssee des Schmerzes, der Enttäuschung und der Abstumpfung führt, wie man sie auf Grund der geschilderten Ereignisse fast nicht nachvollziehen kann.


Den Fokus setzt Lana Lux ganz klar auf dieses kleine, heranwachsende Mädchen, welches verzweifelt nach Liebe und besseren Lebensbedingungen sucht. Von Naivität ist hin und wieder etwas zu spüren, doch Samira hat es nicht gelernt Vertrauen zu fassen und möchte dennoch nichts anderes. Verzweifelt sucht sie nicht nur menschliche Wärme und Zuneigung, sondern auch Akzeptanz und Wohlwollen. Nur zu gern möchte sie es den Erwachsenen „recht machen“, wenn diese sie dafür annehmen. Der bittere Reifeprozess, den sie durchläuft, zeigt ihr aber immer wieder, wie eigennützig andere handeln und das sie bestenfalls geduldet wird, aber selbst dieses nur, solange sie bereit ist, anderen Gefälligkeiten zu erweisen. Darüber hinaus schafft die Autorin auch einen umfassenden Bekanntenkreis von Samira, lockere und enge Kontakte, die dem Leser sehr viel über die Welt verraten, in der sich Kukolka täglich beweisen muss.


Die Geschichte wird in drei Teile gegliedert, zunächst die frühe Kindheit, dann das wilde aber doch abhängige Leben in der Kommune bei Rocky und schließlich Kukolkas Weg nach Deutschland, der sie statt ans Ziel ihrer Träume immer weiter hinein in die Prostitution führt und in dem es bald um Leben oder Tod geht. Denn wie es scheint, gibt es auf der ganzen weiten Welt keine Menschenseele, die sie kennt, niemanden der sie vermisst, niemanden der sie liebt und tatsächlich in ein freies, selbstbestimmtes Leben begleiten will. Und obwohl eine derartige Ausgangssituation nicht unbedingt typisch erscheint, empfindet der Leser dennoch eine beängstigende Realitätsnähe, die den unbedingten Wunsch weckt, dem Mädchen möge doch bitte ein Wunder helfen, wenn es sonst schon keiner tut.


Das Potential dieser Erzählung beruht auf dem geschilderten Werdegang einer verlorenen Seele, die bereits ganz unten ist, nur um dann zu erfahren, dass es statt einer Fluchtmöglichkeit nur noch einen Keller weiter unten gibt, die so oft und nachhaltig enttäuscht wird, der jegliche Emotion ausgetrieben wird und die sich schließlich eher nach dem Tod als nach einem echten Leben sehnt.


Fazit


Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen dramatischen, erschütternden Roman über den Abstiegskampf eines jungen Mädchens, der gerade wegen seiner geradlinigen, objektiven Erzählweise so bedrückend und endgültig wirkt. Es hat mir ausgesprochen gut gefallen, dass die Autorin sehr viel Wert legt, keine Schuldzuweisungen aufzubauen, dass ihre Protagonistin kein Mitleid sucht, sondern echte Hilfe, dass sie darauf besteht, zu zeigen, wieviel Kampfgeist in einer geschundenen Seele ruht und wie wichtig es ist, sich selbst in der größten Not ein übergeordnetes Ziel zu suchen. Eines meiner Jahreshighlights 2017!