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Veröffentlicht am 07.12.2017

Das Püppchen mit den blauen Augen

Das Porzellanmädchen
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„Er würgte sie mit dem Gürtel, und sie spürte, wie sich alles von ihr entfernte. Plötzlich befand sie sich in einem Tunnel aus Licht. Dies also ist mein Tod, dachte sie, und hatte keine Angst mehr. Sie ...

„Er würgte sie mit dem Gürtel, und sie spürte, wie sich alles von ihr entfernte. Plötzlich befand sie sich in einem Tunnel aus Licht. Dies also ist mein Tod, dachte sie, und hatte keine Angst mehr. Sie ließ einfach los.“


Inhalt


Aus dem einst schüchternen Mädchen Luna mit der auffallend blassen Haut, dem zarten Körperbau und dem langen schwarzen Haar, ist eine gefeierte Thrillerautorin geworden, die mit ihren dämonischen Romanen die Leserherzen höherschlagen lässt. Doch für Luna ist ihre schriftstellerische Arbeit in erster Linie eine Möglichkeit sich mit ihrer eigenen, dunklen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Was keiner weiß, ist die Tatsache, dass sie selbst ein Opfer von Misshandlung wurde und seit Jahren versucht ihrem Trauma aus Gewalt und Todesangst zu entkommen, indem sie die Wahrheit aufdeckt und denjenigen findet, der bisher ungestraft davonkam und ihre Gedankenwelt dominiert. Ihre Rache wird der neue Handlungsstrang in einem Manuskript, an dem sie fieberhaft arbeitet. Und sie kehrt dazu direkt an den Ort des Verbrechens zurück, in ein einsames, verlassenes Haus mitten im Wald, idyllisch aber äußerst abgelegen. Doch was sie dort findet ist nicht nur ein echter Schauplatz, sondern auch ein gutes Versteck – fragt sich nur, für wen?


Meinung


Dieser Thriller aus der Feder des deutschen Erfolgsautors Max Bentow, ist mein erstes Buch von ihm, obwohl ich schon viele begeisterte Leserstimmen wahrgenommen habe. Schon so lange wollte ich deshalb einen seiner Spannungsromane kennenlernen und ich konnte mich durch dieses Buch von seinem schriftstellerischen Können überzeugen. Besonders positiv beurteile ich die gruselig-dunkle Atmosphäre, den gut gewählten Handlungsrahmen und die hohe Spannungskurve. Eigentlich hat „Das Porzellanmädchen“ alles, was ein guter Thriller braucht. Der Autor setzt zielgerichtet seine Instrumente ein und lässt den Leser regelrecht mitfiebern. Zur Abwechslung spielt hier weder die Polizei noch ein Ermittler irgendeine Rolle, vielmehr ist es die Abrechnung zwischen Täter und Opfer, zwischen Rache und Schuld, zwischen Leben und Tod.


Lediglich die Personenwahl und die Ausarbeitung der Charaktere fand ich ziemlich misslungen, wobei das für den Handlungsverlauf keine große Rolle spielt. Der typische Effekt, der eintritt ist lediglich ein Kopfschütteln auf Grund der äußerst fragwürdigen, unrealistischen Sicht auf die Dinge. Jugendliche, die plötzlich in ein Verbrechen verwickelt werden, Täter, die sich bis zur Unkenntlichkeit verstellen und Opfer, die nicht als solche auftreten. Insgesamt beurteile ich diesen Punkt eher mit ausreichend als tatsächlich überzeugend, hier fehlt es mir an Substanz, an Biss und stellenweise Identifikationspotential. Aber hier drücke ich ein Auge zu, denn der Nervenkitzel ist hier spürbar und liegt ganz nah unter der Oberfläche.


Auf jeden Fall werde ich ein weiteres Buch des Autors lesen, denn ich mag Geschichten, die nicht nur so dahin plätschern, sondern eine klare Linie verfolgen, die mich aufsaugen und an geheimnisvollen Erlebnissen teilhaben lassen und diesen Anspruch erfüllt das Buch voll und ganz.


Fazit


Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen spannenden, leicht gruseligen Psychothriller, der sehr bildlich und ansprechend erzählt wird, so dass ich mir genau überlegen würde, demnächst in ein stilles, einsames Waldhaus mit wenig Beleuchtung zu ziehen. Kleines Manko: Wer auf glaubwürdige Akteure und eine realistische Sichtweise spekuliert, muss hier leider Abstriche machen.

Veröffentlicht am 21.11.2017

Die Zwänge, in denen ich mich gefangen sah

Die Farben im Spiegel
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„Es gab ein Du und ein Ich, es gab manchmal ein Gefühl von Nähe, doch meist ein Gefühl von Ferne und Abschied. Wenn es denn ein Uns gab, war es zersplittert, aufgespalten in unzählige Atome, die umeinanderwirbelten ...

„Es gab ein Du und ein Ich, es gab manchmal ein Gefühl von Nähe, doch meist ein Gefühl von Ferne und Abschied. Wenn es denn ein Uns gab, war es zersplittert, aufgespalten in unzählige Atome, die umeinanderwirbelten und nur für kurze Augenblicke zu einer erkennbaren Form zusammenfanden.


Inhalt


Koray und Alev sind fast gleichaltrig und wachsen nebeneinander in Istanbul auf, ihre Eltern sind gute Freunde und beide haben eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater. Diese Gemeinsamkeiten verbinden sie dauerhaft und lassen zunächst eine Freundschaft entstehen, die sich im Laufe der Zeit zu einer Liebesbeziehung entwickelt. Auch wenn es immer nur kurze Momente sind, die sie gemeinsam verbringen, so zeigt sich doch schon früh, dass sie einander die Welt bedeuten und der eine immer schon auf den anderen gewartet hat. Und obwohl sie später nach Deutschland ziehen und dort ein eigenständiges Leben mit anderen Partnern, eigenen Kindern und fern voneinander beginnen, bleibt diese unstillbare Sehnsucht erhalten, die zwischendurch wieder aufflammt, nur um dann erneut zu verebben. Keiner der beiden erzwingt mehr Nähe, keiner nimmt es sich heraus, das Leben des anderen zu bestimmen, auch wenn die Zeit ungenutzt verstreicht. Und während Koray darauf vertraut, dass sie das Schicksal irgendwann zueinander führen wird, kämpft Alev gegen ihre inneren Dämonen und um ein Urvertrauen, an dem es ihr bislang fehlte …


Meinung


Dieser Roman aus der Feder von Deniz Selek ergreift umfassend und sehr elementar die Gefühlswelt des Lesers. Mit einer großen Portion Emotionalität und Gedankengängen, die jeder Liebende nachvollziehen kann, begegnen uns hier zwei Menschen, die ihr Leben fern voneinander gestalten, ohne jemals den anderen aus den Augen zu verlieren. Es ist nicht nur ein klassischer Liebesroman, der eine dramatische, unglückliche Beziehung beleuchtet, es ist ein Buch über die Kraft der Liebe, über den Lauf der Dinge, über Menschen und Orte, die Spuren hinterlassen und gleichermaßen eine Hommage an das Gefühl der Heimat, der Erinnerungen, der unauslöschlichen Bilder, die sich in jungen Jahren tief in das Gedächtnis der Menschen graben und selbst zwischen den alltäglichen Anforderungen nicht verloren gehen.


Die Autorin erzählt flüssig und einprägsam, gestaltet ansprechende Sätze und taucht sehr tief in die Gefühlswelt ihrer Protagonisten ein, so dass alle Handlungen nachvollziehbar und äußerst realistisch wirken. Beides Kennzeichen eines abgerundeten Romans, der nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern zeigt, wie vielschichtig und intensiv die Liebe sein kann, welche Ausprägungen aber auch Charaktereigenschaften die Menschen ausmachen und welche Grenzen bleiben, wenn man nicht bereit ist, sie eigenhändig zum Einsturz zu bringen.


Wie ein Hilferuf nach mehr Zuversicht, nach Urvertrauen und echten Gefühlen hinter der aufgesetzten Maske wirkt die Argumentation einer jungen Frau, die lange nicht auf ihre Emotionen hören wollte und nun Schicht um Schicht gezwungen ist, ihr vermeintlich sicheres, erfülltes Leben umzukrempeln, um selbst zu einer anderen zu werden.


Besonderes Augenmerk wird hier also nicht nur dem Paar gewidmet, sondern auch dem Entwicklungspotential des Einzelnen innerhalb und außerhalb einer Beziehung. Und so tritt automatisch auch eine gewisse Melancholie ein, die den Leser durch verpasste Chancen, beiseitegelegte Entscheidungen und aufgeschobene Gespräche erfasst. Eine Traurigkeit, die eine Liebesbeziehung nicht unbedingt braucht, der sie aber auch nicht immer entkommen kann.


Fazit


Ich vergebe volle Punktzahl für diesen ausführlichen, einzigartigen Roman über eine besondere aber auch generalistisch veranlagte Liebesbeziehung, die zahlreiche Gemütsregungen einfängt, die Menschen charakterisiert und vielschichtige äußere Umstände aufwirft. Ein Roman über die große Liebe, die sich durchaus zurückziehen kann, die verborgen schlummert aber nicht endet, die zunächst nur an die Oberfläche dringt, wenn sie Gelegenheit dazu bekommt, sich aber gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen vermag, wenn man bereit ist, ihr ein Türchen zu öffnen. Ich empfehle den Roman all jenen, die gerne gefühlvolle, wahrheitsgemäße Geschichten über das Leben, die Liebe und die Kraft zur Veränderung lesen.

Veröffentlicht am 20.11.2017

Wir führen keinen Krieg, wir führen einen Feldzug

Leere Herzen
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„Die Brücke ist Teil eines natürlichen Kreislaufs aus Krieg und Befriedung und erneutem Krieg. Für Britta reicht das, um zu wissen, dass ihre Arbeit Sinn ergibt. Es geht immer um ein Gleichgewicht der ...

„Die Brücke ist Teil eines natürlichen Kreislaufs aus Krieg und Befriedung und erneutem Krieg. Für Britta reicht das, um zu wissen, dass ihre Arbeit Sinn ergibt. Es geht immer um ein Gleichgewicht der Kräfte, um ein Ausbalancieren von Chaos und Ordnung, Sauberkeit und Schmutz.“


Inhalt


Britta Söldner lebt mit ihrem Mann und der Tochter in Braunschweig und führt mit ihrem Freund Babak eine florierende Firma, die offiziell unter der Rubrik Heilpraxis läuft. Doch eigentlich konzentriert sich ihre Arbeit auf das Geschäft mit dem Tod, natürlich ganz legal und unter strenger Beachtung aller Gesetze. Britta gelingt es, aus einer Idee ein funktionales System zu schaffen und Babak steuert das nötige Know-How auf Seiten der Computertechnik bei. Alles könnte so gut laufen, wenn nicht plötzlich die Konkurrenz in Brittas Leben stürmen würde. Eine heikle öffentliche Situation, wird zum Stolperstein für „Die Brücke“, ihre einmalige Firma, die es so noch nirgendwo zu finden gibt. Dadurch sieht sich die Jungunternehmerin gezwungen, ihren Feinden nachzuspüren. Doch so einfach wie erhofft, lässt sich das Problem nicht aus der Welt schaffen. Zu verworren sind die Machenschaften ihrer Gegner und zu speziell ihr eigenes Metier. Die einzige Möglichkeit, die Britta bleibt ist ein Untertauchen in der Hoffnung, ihr eigenes Leben und das ihrer geliebten Familie nicht aufs Spiel zu setzen …


Meinung


Gespannt habe ich auf den neuen Roman der deutschen Autorin Juli Zeh gewartet, die bereits mit zahlreichen Buchpreisen ausgezeichnet wurde und von der ich gesellschaftskritische Gegenwartsliteratur mit Unterhaltungsfaktor erwarte. Auch dieses Buch erfüllt wie erhofft alle Ansprüche und wartet mit einer besonders innovativen Idee auf, die sehr geschickt und erst Stück für Stück im Text erkennbar wird.


Dadurch, dass der Leser mit Hilfe ganz normaler Menschen, die vielleicht etwas politikverdrossen sind aber ansonsten durchaus dem gängigen Gesellschaftsmodell folgen, geschickt getäuscht wird, ergibt sich das Ausmaß des Unternehmensinhalts erst ab Mitte des Buches. Vollkommen angetan von dieser Idee, die mir tatsächlich nicht weltfremd und sogar realistisch erscheint, konnte ich die aktuellen Ereignisse, die eine moderne, taffe Hauptprotagonistin schneller einholen als gewünscht, voller Begeisterung verfolgen. In diesem Zusammenhang finde ich auch die Datierung der Handlung, die sich auf eine Zeit vielleicht 10 bis 15 Jahre in der Zukunft festlegt, geradezu vortrefflich. Dadurch wirkt die Handlung äußerst präsent, liegt aber auch noch im Rahmen des Vorstellbaren, denn aus heutiger Sicht sind die Ansätze ebenjener Machenschaften absolut realistisch, erscheinen aber einfach noch nicht ausgereift.


Sehr positiv zu bewerten ist auch die Entwicklung der Protagonistin, der man mit jeder Faser anmerkt, dass ihre anfängliche Euphorie und ihr mittlerweile etabliertes Unternehmen eigentlich nur eine Farce sind. Abgesehen von nächtlichen Meetings, spontanen Unternehmensausflügen und einem dicken Bankkonto, bleibt der Mensch Britta Söldner ziemlich auf der Strecke. Sie belächelt ihre Freunde, schüttelt den Kopf über die Angepasstheit ihrer Mitbürger und empfindet ihre Sicht, auch wenn sie diese nicht äußern möchte, als die einzig wahre. Erst nachdem sie wirkliche Probleme bekommt und auf elementare Bedürfnisse zurückgeworfen wird, gelingt es ihr, mit ihrem Organisationstalent aber auch einer gewissen Weitsicht wieder Land zu gewinnen. Fast erscheint es so, als würde die Autorin Juli Zeh ihre Protagonistin als Mittel zum Zweck einsetzten. Britta ist nicht nur die erfolgreiche Geschäftsfrau von Morgen, sie ist auch das Sinnbild für Menschen, die ihren Auftrag möglicherweise vollkommen falsch verstanden haben.


Fazit


Ich vergebe 4,5 Lesesterne für diesen aktuellen, einfallsreichen Unterhaltungsroman mit einer guten Portion Gesellschaftskritik und einer Tendenz zum politischen Thriller. Ein interessantes Konzept, gut gezeichnete Charaktere und eine spannende Handlung machen das Buch zum Pageturner. Es bleibt auch noch genügend Spielraum für eigene Spekulationen, weiterführende Gedanken und generell für die unabhängige Urteilsfindung des Lesers. Zum Lieblingsbuch fehlt nicht viel, vielleicht eine höhere menschliche Komponente, mehr Empathie mit den Menschen hinter der Geschichte, obwohl ich fürchte, diese Grenze zwischen, so könnte es sein und so sollte es besser nicht werden, ist sehr bewusst gewählt und sollte für die Bewertung des Buches nicht relevant sein. Ein empfehlenswerter zeitgenössischer Text, der mich einmal mehr für die Autorin und ihre gut beobachteten Sachverhalte einnehmen konnte.

Veröffentlicht am 10.11.2017

Der Mensch hinter dem Mythos

Der Fall Kallmann
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„Ich denke, so und nicht anders sieht das Leben aus: Wir befolgen die dunklen Anweisungen, wir wissen nicht, was sie bedeuten, aber sie sind alles, was wir haben.“


Inhalt


An der Bergtunaschule in einer ...

„Ich denke, so und nicht anders sieht das Leben aus: Wir befolgen die dunklen Anweisungen, wir wissen nicht, was sie bedeuten, aber sie sind alles, was wir haben.“


Inhalt


An der Bergtunaschule in einer kleinen Ortschaft in Schweden, herrscht der Ausnahmezustand. Nicht nur das der geachtete Schwedischlehrer Eugen Kallman wahrscheinlich das Opfer einer Straftat wurde, sondern auch die schlampigen Ermittlungen in diesem Fall und ein weiteres Verbrechen, diesmal an einem rassistischen Schüler verübt, sorgen für dauerhaften Gesprächsstoff. Es sind dunkle Zeiten für das Lehrerkollegium aber auch für die Schüler untereinander. Misstrauen, offene Fragen, üble Verdächtigungen und private Schnüffelaktionen sind die Folge. Ein Lehrerteam aus drei Kollegen versucht etwas Licht in die Sache zu bringen, indem sie sich den Tagebüchern Kallmanns annehmen und versuchen, zu recherchieren, warum er ums Leben kam und wer als potentieller Täter in Frage käme. Doch der Eigenbrötler Kallmann, der schon zu Lebzeiten keine intensiven Kontakte pflegte, bleibt ein Mysterium. Zwar entdecken die selbsternannten Privatdetektive mögliche Zusammenhänge, doch stoßen sie immer wieder auf eine Wand des Schweigens. Als ihnen klar wird, dass mindestens zwei ihrer Schüler auf unerklärliche Art und Weise in den Fall Kallmann verwickelt sind, übergeben sie ihre Arbeit einer motivierten jungen Polizistin. Und diesmal wird sich zeigen, ob der Mord aufzuklären ist und welcher Hintergrund sich tatsächlich verbirgt …


Meinung


Dieser Roman, der für mich kein klassischer Krimi ist, konnte mich dennoch voll und ganz überzeugen. Hakan Nesser entwirft eine groß angelegte Menschenstudie, die er vielschichtig und perspektivenreich präsentiert und in deren Zentrum ein verstorbener Lehrer steht, dessen Handlungen selbst zu Lebzeiten nicht wirklich verständlich waren. Er widmet sich mit Ausdauer und großem Erzähltalent einem Eigenbrötler, der nur wenige Freunde und keine näheren Angehörigen hatte und in seiner Freizeit alten, ungelösten Kriminalfällen auf die Schliche kommen wollte. Rückblickend bekommt der Leser eine Menge Material geboten, sei es durch Tagebuchaufzeichnungen oder aus kleineren Gesprächsepisoden, aus der Erinnerung von Kollegen oder durch rätselhafte Fotos – bald stellt man sich ebenso die Frage, wie die handelnden Personen: „Wer war Kallmann wirklich?“. Interessant ist auch der Aspekt des Mythos, der hier ganz nah greifbar erscheint. Während Eugen Kallmann früher ein geachteter Lehrer war, für den sich kaum einer interessierte, tritt sein unerklärlicher Tod eine ganze Lawine an Ereignissen los. Sehr schnell wird Kallmann zum Mythos, dem die Hinterbliebenen auf die Spur kommen möchten …


Der Großteil des Buches basiert auf der Suche nach den Hintergründen, offenbart aber auch grandiose Einblicke in den Schulalltag. Alle Erzähler gemeinsam schildern ihre persönlichen Eindrücke und bekommen dennoch ein Gesicht, einen eigenen Background und eine ausgearbeitete Geschichte. Dadurch entsteht ein sehr intensiver, stiller Roman, der viel Realitätsbezug hat und manches Ereignis einfach nur abbildet, ohne zu bewerten. Die Verbrechen, die Vergangenheit, die Rätsel sind stets greifbar, dominieren aber nie die Geschichte. Vielmehr macht sich der Leser gemeinsam mit den Erzählern auf die Suche und stochert ebenso ratlos wie diese in winzigen Bruchstücken eines fragwürdigen Lebens.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen komplexen Roman, der sich hinter einer vordergründigen Kriminalgeschichte nicht verstecken sollte. Die Spannungskurve liegt nicht sonderlich hoch, der Erlebnisfaktor ebenso wenig und trotzdem konnte mich diese Geschichte nicht nur fesseln, sondern auch bestens unterhalten. Ich empfehle dieses Buch vor allem Lesern, denen es mehr um die Menschen hinter der Geschichte geht, die bereits sind sich auf Abschweifungen einzulassen und gerne aus zweiter Reihe Beobachtungen anstellen. In gewisse Weise betreibt Nesser hier psychologische Studien, involviert Menschenkenntnis und persönliche Kontakte, beschreibt, erzählt und bringt nur hin und wieder neue Impulse in diese Geschichte hinein. Doch gerade dieser dunkle, unaufgeregte Erzählton, der viele Facetten aufwirft, konnte mich begeistern. Ein Roman, der bestens unterhält, wenn man Inhalte erwartet und weniger Nervenkitzel sucht.

Veröffentlicht am 09.11.2017

Im Alleingang gegen Mr. Unbekannt

Bruderlüge
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Aber das hier war so weit von der Normalität entfernt, dass man es dem Uneingeweihten nicht erklären konnte. Nichts war mehr, was es zu sein schien.“



Inhalt


Martin Benner, der eigentlich als Anwalt ...

Aber das hier war so weit von der Normalität entfernt, dass man es dem Uneingeweihten nicht erklären konnte. Nichts war mehr, was es zu sein schien.“



Inhalt


Martin Benner, der eigentlich als Anwalt arbeitet ist mittlerweile ein Gejagter. Obwohl er seine Nichte wohlbehalten von einer Entführung zurückbekommen hat, steht vor ihm die schier unlösbare Aufgabe, den ebenfalls entführten Sohn seines Gegners aufzuspüren. Sollte ihm das nicht gelingen, dann ist das Mädchen erneut in Gefahr. Doch Banner findet eine Spur und stellt Parallelen zu seinem Leben fest, die Ursache, warum er ins Visier des unberechenbaren Lucifers geraten ist, scheint in seiner Vergangenheit zu liegen. Als Martin den Jungen Mio endlich aufspürt, wird ihm aber schlagartig klar, dass er das Opfer einer Verschwörung wurde, die ihn weit ins Abseits befördert hat. Lebend wird er möglicherweise nur dann aus der Sache herauskommen, wenn er alle Sozialkontakte kappt und sich dem Duell mit seinem Widersacher stellt, doch dazu müsste er herauszufinden, wer es ist und was ihm eigentlich zu Lasten gelegt wird …


Meinung


Von der schwedischen Kriminalautorin Kristina Ohlsson habe ich bereits ihren Debütroman „Aschenputtel“ gelesen, der mich nicht ganz überzeugen konnte aber auch nicht schlecht war. „Bruderlüge“ habe ich nun als zweites ihrer Bücher kennengelernt, doch auch hier wirkte die Handlung sehr aufgesetzt und damit auch konstruiert. Hinzu kommt zwar ein hohes Erzähltempo und eine kurzweilige Unterhaltung, doch das Gesamtkonzept weist zahlreiche Lücken auf und präsentiert sich als wenig einprägsam.

Obwohl „Bruderlüge“ der zweite Band der Reihe um Martin Benner ist, kann man ihn auch problemlos isoliert lesen, die Berührungspunkte zum ersten Fall sind nicht so gravierend und das fehlende Insiderwissen habe ich ebenfalls nicht vermisst. Schwieriger wird es mit dem Hauptprotagonisten selbst, der einerseits wie ein vollkommen verstörter und verängstigter Mensch wirkt, und dann wieder voller Tatendrang allein gegen die Übermacht von Mr. Unbekannt auftritt. Irgendwo zwischen Choleriker und Draufgänger angesiedelt, führt er fragliche Beziehungen, die ihn dann wieder zum Typ einsamen Wolf machen. Dieses On-Off in der Hauptperson dieses Thrillers hat mich definitiv verstört. Und dann kommen da noch die vielen Opfer hinzu, die irgendwann die Lebenslinie von Martin Benner gekreuzt haben und nun konsequent ermordet werden, natürlich nicht von ihm, doch der Täter im Hintergrund ist auch nicht allein und seine Marionetten führen ein gar spektakuläres Affentheater auf. Inhaltlich fehlte es nicht nur an Stimmung und Hintergrundwissen, sondern vor allem an einer geradlinigen Erzählstruktur.

Positiv hingegen ist mir das hohe Erzähltempo und damit einhergehend das hohe Spannungsniveau aufgefallen. Die Szenen könnte ich mir in einer Verfilmung fast noch besser vorstellen und auch der Text könnte gängig in ein Drehbuch umgeschrieben werden. Um sich die einzelnen Schauplätze vorstellen zu können und auch die Rückblenden besser vor Augen zu haben, würde mir hier das Bildmaterial definitiv weiterhelfen, vor allem weil ich nach dem Lesen das Gefühl habe, keine der Personen wirklich kennengelernt zu haben. Das finde ich ausgesprochen schade und es hinterlässt bei mir eine unzureichende Befriedigung.


Fazit


Ich vergebe 2,5 (aufgerundet 3) Lesesterne für diesen schnellen, kurzweiligen Unterhaltungsthriller mit einer scheinbar temporeichen Handlungsebene, der mir jedoch kaum im Gedächtnis bleiben wird. Es gab einfach zu wenig Bezugspunkte, zu viele ungenaue Beschreibungen, zu viele blasse Figuren und eine derart konstruierte Auflösung, die fast schon wieder humorvoll war, denn wer bitteschön verpasst schon den entscheidenden Moment seiner Hinrichtung auf so profane Weise?