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Veröffentlicht am 28.04.2017

Der Wissenschaftler, der die Bäume liebt

Betrunkene Bäume
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„Es gibt Straßen in großen Städten, die sehen in hundert Jahren noch aus wie heute, weil sie bereits vor hundert Jahren so ausgesehen haben, dachte er. Und es gibt Straßen, die ihr Gesicht permanent verändern. ...

„Es gibt Straßen in großen Städten, die sehen in hundert Jahren noch aus wie heute, weil sie bereits vor hundert Jahren so ausgesehen haben, dachte er. Und es gibt Straßen, die ihr Gesicht permanent verändern. Seine Straße gehörte zu der letzteren.“

Inhalt

Der in die Jahre gekommene Wissenschaftler Erich Warendorf, bemüht sich, seinen Lebensabend in der Abgeschiedenheit seiner Wohnung zu verbringen und arbeitet nach wie vor für ein Projekt in den unwirtlichen Regionen der Taiga, einer Landschaft, die ihn bereits in jungen Jahren ungemein gefesselt hat. Dort fand er nicht nur seine große Liebe, sondern auch einen echten Freund, der ihn durch die Wälder führte und ihn die wunderbare Natur, die Unabhängigkeit jahrhundertealter Bäume zeigte. Erich verlor im Lauf seines Lebens Frau und Freund und kämpft nun einen ungerechten Kampf gegen das Alter und seine Tochter, die ihn in ein Pflegeheim geben möchte. Nur die junge Nachbarin Katharina, ist die einzige, die er in sein Schlafzimmer lässt, in dem sich ein ganzer Wald befindet, die einzige, die ihn nicht bevormundet und mit der er sich seinen letzten Wunsch erfüllen möchte: Zurück nach Sibirien, dorthin, wo sein Herz immer noch weilt und die Menschen, die er liebt.

Meinung

In ihrem Debütroman schafft die junge deutsche Autorin Ada Dorian einen liebevollen Mikrokosmos, der intensiv und mit wunderschöner Sprache einen Lebensausschnitt zweier Menschenleben zeigt, denen ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach der Ferne gleichermaßen vertraut ist, obwohl sie mehrere Generationen trennen. Besonders schön empfand ich die Interaktion der Protagonisten miteinander, ihr Einfühlungsvermögen und den damit verbundenen Tiefgang der Gefühle. Ein junges Mädchen, auf der Suche nach ihrem Vater und ein alter Mann auf der letzten Reise, die ihn zu den Wurzeln seiner Vergangenheit zurückführen wird.

Die Geschichte findet auf mehreren Ebenen statt, die den Leser sowohl die Ereignisse der jüngsten Entwicklung zeigen, als auch die Ursachen, die weit zurückliegen in einer Zeit, in der Erich noch ein junger Mann war und sein Leben einen Verlauf nahm, dem er nun noch einmal folgen möchte. Beide Erzählstränge harmonieren miteinander, so dass der Leser dem Geschehen leicht folgen kann und sich die wenigen Protagonisten zu einem runden Leseerlebnis zusammenfinden.

Im Zentrum dieser teilweise philosophischen Erzählung stehen sehr menschliche Verhaltensweisen, die sich damit auseinandersetzen, wie schwer es ist einen Neuanfang zu wagen, wie bedrückend die persönlichen Versäumnisse im Alter werden können und wie plötzlich und unerwartet sich diverse Fügungen des Schicksals einstellen können. Dennoch setzt die Autorin den Fokus auf ein selbstbestimmtes Entscheiden, auf eine willentliche Möglichkeit, das Beste aus dem Leben herauszuholen, auch wenn das im schlimmsten Fall bedeutet, Dinge im Nachhinein anders zu gestalten, sich selbst zu einer Rückkehr zu animieren.

Fazit

Ich vergebe 4,5 Lesesterne für einen stillen, doch ergreifenden Roman, der wichtige Inhalte vermittelt, über die es sich nachzudenken lohnt. Eine Geschichte über Menschen, die erkannt haben, dass sie nur dann perfekt funktionieren, wenn sie ein Gegenüber haben, einen anderen, dem sie vertrauen können und ein Lebensziel, welches sich nicht vorrangig auf die Selbstverwirklichung stützt, sondern auf die Liebe, die Aufrichtigkeit und die Integrität, zu der Menschen fähig sein können, wenn sie nur wollen. Ein tolles Leseerlebnis, dass mich weitgehend fesseln konnte, auch wenn ich mit dem etwas abrupten und vorhersehbarem Ende nicht ganz einverstanden war – gerne hätten es noch ein paar Seiten mehr sein dürfen.

Veröffentlicht am 27.04.2017

Wirst du werden, wie sie es sich wünschen?

Was ich euch nicht erzählte
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„Man liebte so sehr und erhoffte so viel, und am Ende hatte man nichts. Kinder, die einen nicht länger brauchten. Einen Mann, der einen nicht mehr wollte. Nichts, nur man selbst und leeren Raum.“

Inhalt

Für ...

„Man liebte so sehr und erhoffte so viel, und am Ende hatte man nichts. Kinder, die einen nicht länger brauchten. Einen Mann, der einen nicht mehr wollte. Nichts, nur man selbst und leeren Raum.“

Inhalt

Für Familie Lee bricht mit dem ominösen Tod ihrer Tochter Lydia alles auseinander. Ihre einst so heile Welt, gerät in bedrohliche Schieflage, umso mehr, als sie begreifen müssen, dass ihr geliebtes Kind nicht etwa Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit den Freitod gewählt hat. Lydia, war gerade einmal 16 Jahre alt und hatte noch ein verheißungsvolles Leben vor sich, stand kurz vor ihrem Schulabschluss und hätte auch bald die Fahrerlaubnis machen können. Marilyn und James, ihre Eltern versuchen zu rekonstruieren, was in ihrem Kind vor sich ging und müssen mit Erschrecken feststellen, dass sie sie überhaupt nicht kannten, dass Lydia weder Freunde hatte noch ein erfülltes Leben, obwohl sie seit Jahren all ihr elterliches Bemühen in dieses Mädchen gesteckt haben und darüber hinaus ihre beiden anderen Kinder immer mehr aus den Augen verloren haben …

Meinung

Dieser beklemmende Familienroman, der detailliert und perspektivenreich vom Verlust eines Kindes erzählt und dennoch so viel mehr ist als nur eine Erzählung über Liebe, Erziehung und Versäumnisse.

Gerade die abwechslungsreichen Handlungsschwerpunkte haben mich außerordentlich fasziniert, denn die junge Autorin Celeste Ng, setzt zahlreiche Akzente in ihrem Debütroman und verbindet eine menschliche Tragödie mit ebenso menschlichen Verhaltensweisen und absolut realistischen Einsichten. Es ist nicht nur ein Schrei nach Hilfe, der nicht gehört wird, es ist auch eine Auflehnung gegen die elterlichen Wünsche in jeder Generation und gleichermaßen eine Studie über die Entstehung von Liebe, den Verlust derselbigen und der bitteren Gewissheit, für jede Entscheidung, die man trifft eigenverantwortlich zu sein.

Die Erzählperspektive wechselt und alle Familienmitglieder sind mehr oder weniger Hauptprotagonisten, da immer ein anderer im Zentrum des jeweiligen Kapitels steht. Dadurch bekommt der Leser in gewisser Weise den Rund-um-Blick über die Familie Lee, über ihre Wünsche, Träume und Verfehlungen.

Während sich der Vater James, als Einwanderer mit chinesischen Wurzeln stets nur wünschte, ein Teil der Gemeinschaft zu sein und uneingeschränkt anerkannt zu werden, träumte die Mutter Marilyn den Traum einer Arztkarriere, die ihr als Frau mit drei Kindern verwehrt blieb. Lydia, die Tochter, die nie sie selbst sein durfte, weil alle Hoffnungen auf ihren Schultern lagen, sieht für ihr eigenes Selbst keine Zukunft, weil sie denkt, die elterliche Liebe beruht auf ihrem schulischen und außerschulischen Erfolg, den sie weder realisieren kann noch erreichen möchte. Nathan, der begabte Erstgeborene, der trotz seines Engagements und seiner klaren Zielvorstellungen weit hinter den Ansprüchen seiner Eltern zurückbleibt und auch Hannah, das Nesthäkchen, die stets nur die Lücke im System sucht und möglichst nie in Erscheinung tritt, weil sie ohnehin nicht wahrgenommen wird.

Und so zeigt uns die Autorin, wie schwer es ist, dem Glück und den Menschen, die man liebt gerecht zu werden, wenn man gerade als Elternpaar versucht, die eigenen Prämissen bei den Kindern zu setzen, ohne jemals hinterfragt zu haben, was diese im Laufe ihres Lebens für wichtig und entscheidend erachten.

Dieser unausgesprochene Gedanke, nimmt mich als Leser ungemein in die Verantwortung, weil er die ganz entscheidende Frage aufwirft, wie ausgeglichen und objektiv, dass eigene Empfinden über dem der Kinder steht. Sind es wirklich Talente, die man beim Nachwuchs entdeckt oder sind es verborgene Hoffnungen, für das eigene Missverhältnis? Wann beginnt Elternliebe gefährlich zu werden und wie gehe ich mit mehreren Kindern und ihrer vorgegebenen Geschwisterkonstellation um? Fragen, die mich während des Lesens bewegten, hallen immer noch nach und sprechen für den Tiefgang der Erzählung.

Fazit
Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen intensiven, umfassenden Familienroman, der viele psychologische Überlegungen aufwirft und zielgerichtet mit diversen Charakterschwächen und Stärken jongliert. Die Autorin klagt nicht an, sie verurteilt nicht und wahrt bei dem Thema Elternliebe eine beneidenswerte Objektivität. Dennoch konnte ich nicht umhin, mich ganz persönlich angesprochen zu fühlen und zumindest für einen kurzen Moment zu überlegen, wie wertvoll und unabdingbar ein offener Dialog zwischen den Menschen einer Familie ist und welche Folgen es haben kann, sollte er fehlen. Absolut lesenswert!

Veröffentlicht am 22.04.2017

Eiskalte Berechnung

Minus 18 Grad
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„Sein merkwürdiges Nichttotsein, oder was es nun war, ließ ihm keine Ruhe. Er hatte Schwierigkeiten, im Ablauf der Geschehnisse auch nur ein einziges, annähernd logisches Detail zu erkennen. Er ahnte, ...

„Sein merkwürdiges Nichttotsein, oder was es nun war, ließ ihm keine Ruhe. Er hatte Schwierigkeiten, im Ablauf der Geschehnisse auch nur ein einziges, annähernd logisches Detail zu erkennen. Er ahnte, dass dies der Anfang von etwas viel Größerem war.“

Inhalt

Das Team der schwedischen Polizei bekommt durch Zufall Zugriff auf ein recht ominöses Tötungsdelikt. Denn der millionenschwere Unternehmer Peter Brise rast mit voller Geschwindigkeit über die Kaimauer und geht im eiskalten Wasser unter. Doch laut erfolgtem Obduktionsbericht, war der Verstorbene schon wesentlich länger tot und wurde in der Zwischenzeit bei Minusgraden konserviert.

Fabian Risk stößt in seinem 3. Fall auf einen brutalen Mörder, der die Identitäten wohlhabender, schwedischer Bürger annimmt, um sich ihr Vermögen unerkannt einzuverleiben und diese nach und nach erledigt. Doch so simpel wie es zunächst scheint, ist es nicht, denn während die Ermittler diese Spur verfolgen und tatsächlich eine Zielperson ausfindig machen, tauchen weitere Opfer auf, deren Ermordung bereits vor Jahren erfolgte und ein anderes Ziel zu haben schien. Und als plötzlich eine weibliche Täterin in den Fokus rückt, wird klar, dass es zwischen den losen Enden des Falls eine mörderische Verbindung geben muss, die bisher von keinem aufgedeckt wurde …

Meinung

Der schwedische Autor Stefan Ahnhem schafft mit seinem 3. Kriminalroman um den Ermittler Fabian Risk wieder eine spannende, abwechslungsreiche Szenerie, die ein gekonnter Mix zwischen polizeilicher Ermittlungsarbeit, mörderischer Energie und privaten Ereignissen ist.

Mir gefällt dieser Teil noch besser als der zweite, während ich den ersten noch nicht gelesen habe. Leider empfand ich die vielen Protagonisten, die man zwar im Laufe der hiesigen Erzählung näher kennenlernt, nicht so einprägsam, als dass sie mir aus den Vorgängerromanen in Erinnerung geblieben wären. Dementsprechend empfehle ich ein zeitnahes konsumieren dieser Reihe, beginnend mit dem ersten Band – andernfalls muss man so wie ich, auf die zwischenmenschlichen Hintergründe verzichten, weil sie unter Berücksichtigung des aktuellen Falls nicht gänzlich zur Entfaltung kommen.

Der Autor arbeitet mit einer sehr ausgewogenen Erzähltechnik, die gleichermaßen spannungsaufbauend und erklärend wirkt. Sobald man ein weiteres Detail erfahren hat, ergibt sich eine neue Perspektive, die ihrerseits informative Aspekte ins Gespräch bringt.

Die kurzen Kapitel, die oft einen anderen Protagonisten in den Mittelpunkt rücken, liefern letztlich wie kleine Puzzleteile das Gesamtbild des Kriminalfalls, bei dem man bis zum Schluss zwar eine Vermutung hat, aber keine genauen Anhaltspunkte. Das offene Ende, trägt dazu bei, dass man als Leser einerseits sobald wie möglich vom Fortgang der Geschichte lesen möchte, lässt einen aber andererseits fragend zurück, warum die Aufklärung allein nicht genügt, sondern ganz bewusst einige Fragen offenlässt, die man gerne noch geklärt hätte.

Positiv bewerte ich den Spannungsbogen, die Blickwinkel, die sich ergeben und eine intensive, vielschichtige Erzählweise, die dauerhaft das Interesse weckt und die Neugier des Lesers nicht nur weckt, sondern auch aufrecht erhält.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für alle Liebhaber schwedischer Kriminalromane, die sich auf einen gut durchdachten Fall freuen, der ihnen möglicherweise neue Sichtweisen und ungewöhnliche Aspekte der menschlichen Psyche offenbart. Das Hauptaugenmerk liegt auf der klassischen Ermittlungsarbeit und beschäftigt sich nur zweitrangig mit der Perspektive des Mörders, dennoch bietet die Erzählung ausreichend Einblicke in die kranke Seele eines Menschen, dem es in erster Linie um die Verwirklichung seiner speziellen Ansichten geht. Ich werde die Reihe um den Ermittler Fabian Risk auf jeden Fall weiterverfolgen.

Veröffentlicht am 22.04.2017

Dem Vergessen entrissen

Das Gedächtnis der Insel
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„Wer weggeht und wieder zurückkommt, der findet nicht mehr denselben Ort vor. Alles war in Bewegung und das, was wir kennen, eine Illusion.“

Inhalt

Yann Schneider kehrt nach 20 Jahren Abstinenz an seinen ...

„Wer weggeht und wieder zurückkommt, der findet nicht mehr denselben Ort vor. Alles war in Bewegung und das, was wir kennen, eine Illusion.“

Inhalt

Yann Schneider kehrt nach 20 Jahren Abstinenz an seinen Heimatort auf einer abgelegenen Insel in der Bretagne zurück. Jenem Ort, der ihm als Kind seine Mutter nahm und nun seinen Vater holte. Direkt an der stürmischen Atlantikküste trotzen nur wenige den Kräften des Meeres, Menschen verschwinden und tauchen nicht mehr auf und andere tragen bittere Geheimnisse mit sich herum.

Yann nimmt die bevorstehende Beerdigung seines Vaters als Anlass dazu, ein allerletztes Mal an den Ort der Verdammnis zurückzukehren, um die wahre Geschichte hinter dem tragischen Tod seiner Mutter herauszufinden. Denn an Schicksal mag er nicht glauben, ebenso wenig wie an die Unschuld seiner Stiefmutter und gemeinsam mit seiner Jugendliebe Gwenn, die bei der Gendarmerie tätig ist, begibt er sich auf eine Reise in die Vergangenheit.

Doch während ein gigantisches Sturmtief über das Eiland hinwegfegt, eröffnen sich neue Perspektiven auf ein längst verjährtes Verbrechen. Die Frage ist nur, ob Yann schneller Licht ins Dunkel bringen kann als dass sein Leben verlischt, getilgt durch die monströsen, unmenschlichen Naturgewalten in Kombination mit mörderischer Energie …

Meinung

Auf dieses Buch bin ich sowohl wegen seines gelungenen Coverbildes als auch wegen der stimmigen Beschreibung, die einen beeindruckenden Roman über die dunklen Mächte der Liebe verspricht, aufmerksam geworden. Und beide Aspekte finden sich in zahlreichen Formulierungen des Textes wieder, so dass allein die erzeugte Stimmung beim Lesen eine Wucht ist. Der Autor vermag es auf grandiose Art und Weise das Leben auf einer ausgesprochen eigenen, minimalistischen Insel darzustellen, auf der jeder jeden kennt und die Gerüchteküche brodelt.

Seine Charaktere sind geradlinig, klar strukturiert und glaubwürdig. Und die entworfene Geschichte, die sich gerade zu Beginn des Buches mit der Vergangenheitsbewältigung eines Mannes beschäftigt, der schon sehr lange als Einzelgänger durch die Welt streift, führt den Leser in eine Welt voller Geheimnisse, Intrigen und Ungereimtheiten.

Begleitet von einem heraufziehenden Unwetter, welches unheimlich bedrohlich geschildert wird, erkennt der Leser, dass hinter dem Tod zweier Verstorbener nicht zwangsläufig die Naturgewalt steckt sondern über die Jahre ein Verbrechen verschleiert werden sollte, dessen Schuldige noch immer an gleicher Stelle ein bis dato unbehelligtes Leben führen. Christian Buder verbindet Mystik mit Aberglauben und Rache mit Mord und balanciert die kriminalistische Erzählung gekonnt durch eine Handlung voller Atmosphäre und undurchschaubarer Zusammenhänge.

Im zweiten Teil des Buches gefiel mir persönlich der gewählte Spannungsbogen nicht mehr so ganz, was in erster Linie an der Aufklärung der Vorgänge aus den letzten drei Jahrzehnten lag. Eine Wendung, die ich so nicht erwartet hatte, nahm der bis dahin wahnsinnig spannenden Erzählung den Wind aus den Segeln und ließ die Verbindungen etwas fragwürdig erscheinen. Ganz in Anlehnung an den Sturm der an der Küste tobt, flaut auch hier der Inhalt nach Bekanntgabe der Hintergründe merklich ab. Hier hätte mir eine etwas geheimnisvollere Auflösung wohl deutlich besser gefallen. Insbesondere weil der Schreibstil diese Undurchsichtigkeit und Abhängigkeit von den äußeren Umständen geradezu herausfordert.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen intensiven, naturverbundenen Roman, der den Leser in die Unwirtlichkeit entführt und ihm eine kriminalistische Erzählung in Verbindung mit tollen Landschaftsbildern bietet. Der Text wäre auch eine gelungene Vorlage für einen Film, vor allem weil die Sprache voller Bilder ist und regelrecht Lust auf die Bretagne mit ihren isolierten, zerklüfteten Küsten und einer rauen See macht.

Ein Roman, dem ich gerne 5 Sterne gegeben hätte, allein schon wegen der Lesestimmung, die sich entwickelt hat. Wer subtile Kriminalromane mit besonderen Schauplätzen mag, sollte hier unbedingt zugreifen. Ich persönlich werde mich mit weiteren Romanen des Autors beschäftigen, weil mir der Erzählstil unheimlich gut gefallen hat.

Veröffentlicht am 20.04.2017

Wie geht es Ihnen heute?

Fuchsteufelsstill
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„Genauso stellte ich mir Liebe vor. Manchmal war sie da, auch wenn niemand sonst sie sehen konnte, und manchmal war sie auch da, obwohl ich sie nicht sehen konnte. Wenn ich mich fragte, ob ich jemanden ...

„Genauso stellte ich mir Liebe vor. Manchmal war sie da, auch wenn niemand sonst sie sehen konnte, und manchmal war sie auch da, obwohl ich sie nicht sehen konnte. Wenn ich mich fragte, ob ich jemanden liebte, wusste ich allein durch die Frage schon, dass ich es nicht tat. Vielleicht fühlten wir doch schneller als wir dachten.“

Inhalt

Für Juli gestaltet sich jeder Tag anders, obgleich sie immer dieselben Handlungen vollzieht. Jede Abweichung vom gewohnten Rhythmus versetzt sie in Angst und Schrecken, ebenso wie grelle Farben, fremde Menschen und unkontrollierbare Gefühle. Juli wird von einem Fuchs begleitet, der ihr seine Krallen in den Rücken gräbt und weich um ihre Beine schleicht, doch niemand kann ihn sehen. Aber egal, denn Juli weiß, dass sie psychisch krank ist und dennoch fast jede Antwort auf naturwissenschaftliche Fragen beantworten kann, ihr ganzes Universum stützt sich auf logisch bewiesene Erklärungen, während ihr nicht einmal ein ironischer Gesichtsausdruck gelingt. Als sie auf zwei andere Patienten der Psychiatrie trifft, die ebenso in ihren Zwangshandlungen gefangen sind, beginnt sie, aus den gewohnten Verhaltensmustern auszubrechen und lebt ein Wochenende jenseits ihrer Wohlfühlzone, um zu erkennen, dass jeder verrückt sein kann, solange er andere Individuen akzeptiert, selbst wenn deren Beweggründe unvorstellbar weit weg von der eigenen Lebensvorstellung liegen.

Meinung

Die junge Autorin Niah Finnik, die selbst zu den Betroffenen des Asperger-Syndroms zählt, beschreibt in ihrem Debütroman sehr eindringlich und greifbar die innere Zerrissenheit von psychisch Kranken, die sich nicht nur auf ihr seltsames Empfinden und ganz unerklärliche Verhaltensweisen konzentriert, sondern in erster Linie mit öffentlichem Unverständnis und ständiger Erklärungsnot konfrontiert sieht.

Oft fragt man sich als Leser, was das Fremde vom Bekannten unterscheidet und wie gestört ein unangepasstes Verhalten tatsächlich empfunden wird. Auch die gewählte Erzählperspektive, die uns unmittelbar am Geschehen teilhaben lässt und die Grenzen zwischen genormten Gedankengängen und aufgedrängten Empfindungen verwischt, lässt den Leser sehr nah ran an die Hauptprotagonistin und ihre seltsamen Erkenntnisse.

Dadurch gelingt es der Autorin eine ungeahnte Nähe herzustellen, zu Dingen und Empfindungen, die man als psychisch „gesunder“ Mensch nicht kennt. Immer wieder erscheinen die Handlungen in einem vollkommen abstrusen Licht, während die Beweggründe seltsam klar wirken. Diesen schriftstellerischen Spagat meistert Frau Finnik hervorragend, denn trotz aller Unterschiede wirkt das Krankheitsbild ganz klar und absolut glaubwürdig, und wird durch die bildhafte Sprache sehr greifbar.

Darüber hinaus werden menschliche Verhaltensweisen hinterfragt und aus ganz verschiedenen Perspektiven beleuchtet, Normales erscheint nun bitter und Unnormales nur allzu menschlich. So dass man sich am Ende des Buches fragt, wie es wäre in einer anderen Haut zu stecken, von der man genau weiß, wie fehlerhaft und außergewöhnlich ihre Außenwirkung ist.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen frischen, außergewöhnlichen Roman, der den Leser tief in ein unbekanntes Krankheitsbild blicken lässt und die Besonderheit jedes Menschen hervorhebt. Letztlich ist es weder ein mitleiderregender noch ein sentimentaler Roman, sondern vielmehr eine kleine Studie über das Normale, das Andersartige und die Chance, die sich aus gemeinsamer Interaktion ergibt. Humorvoll, erschreckend, ehrlich aber in erster Linie lesenswert!