Tiefes Eintauchen
Lydia ist tot. Aber wie kam es dazu? Die Lees sind auf den ersten Blick eine ganz normale, amerikanische Familie, bestehend aus dem Vater, der von chinesischen Einwanderern abstammt, der Mutter und ihren ...
Lydia ist tot. Aber wie kam es dazu? Die Lees sind auf den ersten Blick eine ganz normale, amerikanische Familie, bestehend aus dem Vater, der von chinesischen Einwanderern abstammt, der Mutter und ihren drei - nun nur noch zwei - Kindern. Nach und nach blicken wir immer tiefer hinter diese Fassade. Es gibt so vieles, das niemals ausgesprochen wurde, so vieles, das falsch verstanden wurde, weil man nicht miteinander geredet hat. Und während man immer tiefer in die Familie eintaucht, wird das Bild immer klarer.
Das Cover versteht man erst richtig, wenn man das Buch gelesen hat. Nun finde es aber wahnsinnig toll, denn nach dem Lesen weiß man genau, welcher Ort das ist und durch wessen Augen man hier blickt.
Vorher hat es mich optisch auch schon sehr angesprochen, weil es so schlicht ist aber durch die ungewöhnliche Perspektive heraussticht. Außerdem ziehen mich Cover mit Pflanzen an, ich weiß auch nicht wieso.
Ich gebe zu, ich hatte eigentlich eine andere Geschichte erwartet. Es gibt keinen Klappentext, lediglich drei Zitate aus englischsprachigen Zeitungen und ich hatte die Lebensbeichte einer Mörderin erwartet. Stattdessen fand ich aber eine mit sehr viel Liebe zum Detail und sehr viel Gefühl ausgestaltete, äußerst verschachtelte Familiengeschichte, die mich sehr begeistert hat.
Ich liebe multiperspektivische Bücher, die aber keine klar getrennten Handlungsstränge, sondern fließende Übergänge haben. Wir begleiten mal den einen, mal den anderen und sehen dabei so viele Dinge, die die Familienmitglieder voneinander nicht wissen. Sehr eindrucksvoll zeigt uns die Autorin, wie all diese unausgesprochenen Dinge schließlich zu massiven Mauern werden, die die Familienmitglieder voneinander separieren, sodass wir letztlich eine Familie haben, in der jeder irgendwie alleine und auf sich gestellt ist.
Dieses Buch zeigt, was geschehen kann, wenn man nicht offen zueinander ist. Ein Thema, das mich auch privat oft beschäftigt, da ich sehr ehrlich und direkt bin und häufig Probleme damit habe, dass die Mehrheit der Leute es nicht ist.
Hier gibt es den Vater, dessen Eltern aus China eingewandert sind und der sein Leben lang darunter gelitten hat, überall immer nur "der Chinese" zu sein und der so gerne einfach wäre, wie alle anderen. Die Mutter, die früher Ärztin werden wollte und so gerne anders als alle anderen Frauen geworden wäre. Lydia, die stets versucht es beiden Eltern recht zu machen und durch diese gegensätzlichen Anforderungen förmlich zerrissen wird. Für ihren Vater versucht sie das beliebte Mädchen zu sein, für ihre Mutter die überdurchschnittliche Wissenschaftlerin. Nath, der ältere Bruder, interessiert sich dabei viel mehr für all das, was die Mutter so begeistert, doch das sieht sie überhaupt nicht, weil sie so sehr auf Lydia fixiert ist. Gleichzeitig braucht Lydia ihren Bruder, um all dem Druck überhaupt standhalten zu können. Und dann ist da noch Hannah, das jüngste Kind, das von keinem in der Familie wirklich zur Kenntnis genommen wird, obwohl sie sich so sehr nach Liebe sehnt.
Das war natürlich nur ein grober Umriss. Die ganze Familiengeschichte ist sehr verschachtelt, ebenso wie die Handlung. Man kann sich in jeden Einzelnen ehrlich gut hineinfühlen!
Celeste Ng hat zudem einen wunderbaren Schreibstil, der mit vielen ungewöhnlichen, aber sehr poetischen, malerischen Metaphern daherkommt.
Dies ist eins dieser Bücher, die sich beim Lesen zusammensetzen, wie ein Puzzle. Ich könnte jetzt noch seitenweise darüber schreiben, aber am besten lest ihr es einfach selbst! Es ist fantastisch!