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Veröffentlicht am 08.11.2020

Wir scheinen am meisten, was wir am wenigsten sind

Ada
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„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ Mit diesem Satz war ich aufgesprungen. Alles in mir brannte, es war dasselbe Feuer der Vernichtung wie in ihren Augen. Wir trugen die Fackel weiter und ...

„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ Mit diesem Satz war ich aufgesprungen. Alles in mir brannte, es war dasselbe Feuer der Vernichtung wie in ihren Augen. Wir trugen die Fackel weiter und merkten es nicht.“

Inhalt

Dies ist die Geschichte einer jungen Frau namens Ada, geboren 1945 in Deutschland, emigriert nach Brasilien und noch in Kindheitsjahren wieder zurückgekehrt in die Heimat. Es ist die Geschichte eines Heranwachsens, in einer Zeit, wo der Krieg vorüber ist, die Menschen aber seltsam still geworden sind und für Ada bleibt ihre Vergangenheit und vor allem die ihrer Mutter lange Zeit ein Rätsel.

Es ist eine lebenslange Suche nach Identität und Werten, ein Leben im Aufbruch, weg von den Grundsätzen der Elterngeneration, hin zu einem neuen Lebensgefühl. Und doch bremst gerade das Fehlen einer greifbaren, nachvollziehbaren Vergangenheit, das Aufbruchgefühl in eine bessere Zukunft ganz wesentlich aus. Denn wohin sollen wir gehen, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen? Das Rätsel um Adas Herkunft findet sie über die Jahre selbst heraus, doch verstanden fühlt sie sich nicht, obwohl ihre Eltern ein klares Familienmodell etabliert haben. Zunächst regiert das Schweigen und eine Elternliebe, die sich aufs nötigste beschränkt, in ihrer Jugend bricht sie aus, muss aber mit Erschrecken feststellen, das die „neue Zeit“ nicht die Verletzungen heilt, wie sie annahm und schließlich begibt sie sich in ihren mittleren Lebensjahren in eine Therapie, um aufzuarbeiten, was ihr bisher nicht recht gelungen ist. Zurück bleibt eine Frau, die die Last ihrer Generation schwer auf ihren Schultern trägt, obwohl sie eigentlich keine dramatischen Lebensbedingungen verkraften musste – was sie prägte war eine Distanz zwischen dem Leben selbst und der Hoffnung darauf.

Meinung

Dies war mein erstes Buch aus der Feder des deutschen Autors Christian Berkel, der nicht nur in der Filmbranche große Erfolge feiert sondern auch schon mit seinem Erstlingsroman „Der Apfelbaum“ für Aufsehen sorgte. Sein Debüt steht bei mir leider noch ungelesen im Regal, doch das werde ich demnächst ändern, denn obwohl ich diese Fortsetzungsgeschichte hier zuerst gelesen habe, hat mich der Erzählstil und die Art und Weise, wie es der Autor vermag seine Protagonisten lebendig werden zu lassen absolut überzeugt. Die Story ist ein gelungener Mix aus persönlicher, berührender Lebensgeschichte in Anlehnung an die historischen Rahmenbedingungen nach dem Krieg, an die Zeit des Wirtschaftswunders, des Mauerbaus und der 68er-Bewegung. Beides fließt gleichermaßen in den Text ein und erschafft ein umfassendes, wenn auch nicht ganz rundes Leseerlebnis mit zahlreichen Facetten und Einblicken in die Zeit meiner Elterngeneration.

Besonders einprägsam und animierend empfand ich die intensive und teilweise schockierende Ehrlichkeit, mit der die Ich-Erzählerin aufwartet. Sie scheint so gar nicht in das Weltbild ihrer Eltern zu passen, obwohl sie es doch in jungen Jahren noch wünscht, akzeptiert und geliebt zu werden. Ihre emotionale Abstumpfung gegenüber dem Elternhaus, ihr zwanghaftes Suchen nach anderen Wahrheiten hat mich definitiv bewegt, selbst wenn ich nicht immer nachvollziehen konnte, gegen was sie eigentlich rebelliert. Seltsamerweise hat sie im Erwachsenenalter anscheinend die richtige Mischung zwischen Nähe und Distanz gefunden, sie hat sich weitestgehend von ihren Eltern getrennt, doch hält selten aber manchmal noch Kontakt. Gerade der Mittelteil des Buches, in dem sie eine Jugendliche ist, hält viele Sachverhalte bereit, über die es sich nachzudenken lohnt, während mir zum Ende hin etwas gefehlt hat, irgendetwas, was Ada vielleicht an die nächste Generation hätte weitergeben können, doch sie tut es nicht, sie bleibt eine Gefangene ihres eigenen Weltbilds, hadert viel zu lange mit ihrer Vergangenheit und sucht überall auf der Welt nach Wahrheiten, die sie nicht findet oder die sich ganz anders entwickeln als sie dachte.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen flüssigen, intensiven Roman der oft wie eine Biografie wirkt, weil die Erzählstimme sehr dominant und nah an ihren eigenen Empfindungen bleibt. Der Text liest sich absolut top, man fliegt durch die Seiten, erlebt Szenen und Bilder hautnah, kann sich die Menschen und ihre Handlungen gezielt vorstellen und bekommt darüber hinaus noch das Gesellschaftsporträt einer ganzen Generation geliefert. Definitiv ein umfassender, detaillierter Roman mit Tiefgang. Gefehlt hat mir vor allem das Positive, die schönen Elemente, jenseits von wilden Drogenpartys, die auch nur dazu da waren, den Verstand abzutöten und den grauen Alltag zu vernebeln. Die nicht enden wollende Suche von Ada hat gerade im letzten Drittel des Buches einen eher schaalen Nachgeschmack, denn was meines Erachtens fehlt, ist Adas Aussöhnung mit ihrer Geschichte. Sie bleibt irgendwo zurück und schiebt viele Dinge von sich weg, was ihr versagt wurde, sucht sie nicht mehr, doch sie klagt nach wie vor an und kann nicht vergessen, was geschah, obwohl sie nun selbst zu den Erwachsenen gehört. Leider hat mich dieser letztlich negative Ausgang und die damit verbundene Aussage etwas enttäuscht, eben weil ich Menschen dieser Zeit kenne, die sich ganz anders und viel positiver entwickelt haben, die nicht so sehr im Selbstmitleid versunken sind, wie Ada. Demnach empfinde ich ihre Geschichte als eine äußerst individuelle und nicht als allgemeingültiges Dokument über die Entwicklung der Nachkriegsgeneration.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

All die verlogenen kleinen Moralien

Giovannis Zimmer
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„Giovanni bildete sich gern ein, der Praktische von uns beiden zu sein und mir den steinigen Grund des Lebens vor Augen zu führen. Er brauchte dieses Gefühl: Denn im Grunde seines Herzens wusste er, ob ...

„Giovanni bildete sich gern ein, der Praktische von uns beiden zu sein und mir den steinigen Grund des Lebens vor Augen zu führen. Er brauchte dieses Gefühl: Denn im Grunde seines Herzens wusste er, ob er wollte oder nicht, dass ich ihm im tiefen Grunde meines Herzens, ob ich wollte oder nicht, mit aller Kraft widerstand.“

Inhalt

Giovanni und David lernen sich in einer Pariser Bar kennen, der eine arbeitet dort als der gutaussehende Barkeeper, der andere ist ein Gast, der Männern gegenüber nicht abgeneigt ist. Für David, dessen Freundin in Spanien eine längere Urlaubsreise unternimmt, um sich über den Status ihrer gemeinsamen Beziehung klar zu werden, eröffnet sich mit Giovannis Avancen eine Möglichkeit sich in einem anderen Menschen zu verlieren. Und obwohl er nicht eine Minute ernsthaft erwägt, sich als homosexueller Mann zu offenbaren, stürzt er sich mit allen Sinnen in eine Art Affäre, die ihn an seine persönlichen Grenzen führt. Doch es dauert gar nicht lange, bevor sich die tiefe Kluft zwischen den beiden Männern offenbart. Giovanni gibt alles, sein Herz, seine Leidenschaft, seine ganze Liebe für die wunderbaren Stunden in Davids Armen, während dieser sich immer verlorener fühlt, zwischen seinen eigenen moralischen Grundsätzen gefangen, die ihn einerseits die gesellschaftliche Anerkennung in ganz herkömmlichen Verhältnissen mit einer Frau und irgendwann auch Kindern vorgaukeln und andererseits die Erfüllung seiner sexuellen Vorlieben, im Bett mit Giovanni. Diese Perspektivlosigkeit der Beziehung verursacht durch die Schuldgefühle des Einen und die Konsequenzen des Anderen führen alsbald zum Bruch. Und als Hella, Davids Verlobte schließlich aus dem Urlaub zurückkehrt, um nun mit ihm eine feste Beziehung zu führen, nimmt er ihre Begeisterung für ein gemeinsames Leben dankbar an, scheint es doch die einzige Möglichkeit zu sein, all seinen kleinen verlogenen Moralien entgegenzuwirken …

Meinung

Der verstorbene amerikanische Autor James Baldwin, war eine Ikone der Gleichberechtigung aller Menschen, seine Bücher thematisieren Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe ebenso wie hier auf Grund der sexuellen Orientierung. Und er greift in diesem Roman den tiefen inneren Zwiespalt einer Person auf, die einerseits die Wonnen der Liebe erfährt und einen Menschen gefunden hat, der so perfekt wie liebenswert erscheint und der dennoch diese Art von Beziehung nicht führen möchte, weil sie seinen eigenen gutbürgerlichen Status gefährden würde und sämtliche Inhalte, die er für gesellschaftskonform hält, untergräbt.

Die Homosexualität wirkt in dieser literarischen Abhandlung weniger dominant, als ich erwartet habe, dafür wiegt die Tragik und Melodramatik, die in einer unausgeglichenen Beziehung auftritt, umso mehr. Die Frage nach der Innerlichkeit und der Bejahung eines anderen Menschen ist hier schmerzhaft und äußerst differenziert behandelt wurden – ganz sicher ein großes Plus des Buches, denn eine Wertung, wer hier nun der bessere Mensch ist und warum, lässt sich nicht ohne Gegenargumente vertreten. Und gerade weil ich Giovannis absolute Liebe und Davids nachhaltige Zweifel verstehen konnte, fällt mir die persönliche Stellungnahme zu der Lektüre etwas schwer. Selbst in Anbetracht der Zeit, in der dieser Roman spielt, nämlich in den Fünfzigerjahren der Weltstadt Paris, ist diese tragische Liebesgeschichte universell und individuell gleichermaßen. Denn es gab sie ja auch damals, die Männer, die trotz ihres Rufs als „Tunte“ eben dieses Leben genossen haben und die anderen, die sich versteckt haben und am wenigsten gegenüber ihrem eigenen Spiegelbild zugeben wollten, wie sie wirklich fühlten.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für eine klassische, zeitlose Erzählung über die vielen Wege der Liebe und die fatalen Verstrickungen und die Fehlentscheidungen der Liebenden. Besonders positiv beurteile ich die tiefe Emotionalität, die dieser Roman hervorruft, das absolute Verständnis auf vielen Bewusstseinsebenen und das feinfühlige Ausloten der bestehenden Gefühle. Dadurch bekommt der Leser ein gutes, allumfassendes Gespür, für die Belange der Protagonisten. Selbst eine Wertschätzung der verschiedenen Charaktere bleibt in einem ausgewogenen Verhältnis, denn verstehen kann man beide Seiten und jeder hat seine Fehler und Schwächen. Die Frage der Schuld stellt sich hier nicht wirklich, es ist vielmehr eine Verkettung diverser Umstände, die letztlich in einem Höhepunkt der Dramatik ihr Ende finden. Für mich ein kleiner Minuspunkt in der Bewertung der Lektüre war einerseits das fehlende Frauenbild (Hella ist eine sehr blasse Figur) und anderseits eine klare Aussage. Die aussichtslose Entwicklung befindet sich hier im Detail und weniger als eine Botschaft für die Allgemeinheit. Schreibstil und Ausdruck lassen nichts zu wünschen übrig und es besteht die Möglichkeit dieses Buch zuzuklappen und noch länger über die Geschichte nachzudenken, ein ganz wesentlicher Pluspunkt auf meiner Bewertungsskala.

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Veröffentlicht am 08.11.2020

Lebenslinien eines Idealisten

Die Erfindung des Countdowns
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„Es war paradox. Wie konnte etwas, das die Wissenschaft, die pure Vernunft, erschaffen hatte, solch eine barbarische Wirkung entfalten? Mit einem Bein ging man einen Schritt vorwärts, mit dem anderen einen ...

„Es war paradox. Wie konnte etwas, das die Wissenschaft, die pure Vernunft, erschaffen hatte, solch eine barbarische Wirkung entfalten? Mit einem Bein ging man einen Schritt vorwärts, mit dem anderen einen Schritt zurück. Ein Spagat, der die Menschen zerrissen hatte.“

Inhalt

Seit Kindesbeinen an hat der in Siebenbürgen geborene Hermann Oberth nur einen Wunsch, er möchte eine Rakete bauen, die bis zum Mond fliegt. Sein Vater unterstützt den Jungen nicht, hält er dessen Interesse für Physik und Raumfahrt doch für eine irrwitzige Idee, viel lieber wäre es ihm, Hermann würde wie er selbst Arzt werden und dafür Sorge tragen, das der Ruf der Familie entsprechend bliebe. Ein Bruch ist unvermeidbar und Hermann heiratet nicht nur sehr jung die Bardame Tilla, er zieht auch nach Deutschland, um dort zu studieren und seinen Lebenstraum zu verwirklichen. Seine Passion treibt ihn mehrfach an den Rand der Verzweiflung, denn wem er auch seine Ideen verkaufen will, keiner zeigt wirklich Interesse an seinen Berechnungen und technischen Vorstellungen. Und während ihn Tilla in den vielen gemeinsamen Ehejahren nur selten zu Gesicht bekommt, obwohl sie die 4 gemeinsamen Kinder großzieht, vergeht Hermanns Lebenszeit und mit ihr die Aussicht auf Erfolg. Erst als er die Bekanntschaft mit Wernher von Braun macht, der für die Nationalsozialisten Forschungen über Vernichtungswaffen leitet, gibt es erstmals die Möglichkeit der wissenschaftlichen Anerkennung. Doch während sich nun die Mächtigen dieser Welt für ihn interessieren, muss Hermann einsehen, dass seine Entwürfe nur ausgeschlachtet und missbraucht werden, denn keiner der Geldgeber ist wirklich so ein Idealist wie er selbst und zum Mond werden andere fliegen …

Meinung

Der deutsche Autor Daniel Mellem, der für dieses Buch bereits den Hamburger Literaturförderpreis erhielt, hat selbst Physik studiert und widmet sich in diesem Roman der Ethik der Wissenschaft, symbolisiert durch die Figur des Hermann Oberth, der zwar keinerlei politische Überzeugungen hegte, aber letztlich doch zwischen den Mühlen seiner Zeit zerrieben wurde. Mit Leichtigkeit und Feingefühl führt der Autor den Leser nicht nur durch viele Jahrzehnte Deutscher Geschichte, sondern er fährt die Lebenslinien eines Idealisten und Träumers nach, der immer an den Erfolg der Sache glaubte und sich dennoch mit dem Scheitern seiner persönlichen Grundsätze konfrontiert sah.

Das Buch lebt einerseits von einer überaus ansprechenden Geschichte, die stellenweise autobiografisch und dann wieder rein fiktiv ist und andererseits von der großen Frage hinter dem vordergründigen Aktionismus. Im Zeitraffer gelingt es Daniel Mellem diesen Roman auf das Wichtigste zu beschränken und dennoch neben der Lebensgeschichte eines Wissenschaftlers, auch noch die berührende Erzählung über eine schwierige Ehe und die Verblendungen einer historischen Epoche einzuflechten. Vom Stil her erinnert mich dieser Text an die Werke von John Boyne, der ganz ähnlich verfährt und sich ein kleines Körnchen aus der Weltgeschichte herauspickt, um dieses in einen persönlichen Kontext zu setzen und dadurch viel mehr zu erreichen als nur die Benennung diverser Tatsachen. Besonders eindrucksvoll ist dem Autor dabei der Lebenslauf von Hermann Oberth gelungen, dessen Leben voller Sehnsüchte geblieben ist, der oftmals falsche Entscheidungen getroffen hat, der im Krieg zwei seiner Kinder verlor, der letztlich nie die Rakete gebaut hat, von der er träumte und der doch den Start der Saturn V. in Cape Canaveral erlebte. Die Tragik eines ganzen Lebens offenbart sich hier auf gut 200 Seiten und zeigt ein menschliches, bewegtes Porträt eines Mannes als Kind seiner Zeit.

Fazit

Ich vergebe glatte 5 Lesesterne für diesen eindrucksvollen Roman der während des Lesens für gute Unterhaltung sorgt und ganz nebenbei für die Belange eines Menschenlebens sensibilisiert. Der Raketenbau ist nur der Hintergrund, vor dem sich eine bewegende, vielschichtige Erzählung aufbaut, die sehr viel Raum für eigene Gedanken lässt und allerlei Verfehlungen thematisiert. So viel wird hier benannt und ebenso erklärt, die Nebenfiguren wirken authentisch und geben der Geschichte ein ganz besonderes Flair, gleichzeitig wird die Motivation und Begeisterung des Hauptprotagonisten deutlich und auch die aller anderen Berührungspunkte. Ein wirklich großes Buch angesiedelt zwischen Biografie, Historie und Roman – ein Lebenswerk in Anlehnung an eine kindliche Vorstellung, ein Ereignis was die Welt verändert hat und ein Mann, der ergriffen die Hand seiner Frau nimmt, die ihm bedingungslos den Rücken freigehalten hat, obwohl sie für ihn und die gemeinsame Familie stets nur Entbehrungen leisten musste. Ganz große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 08.10.2020

Rückblick auf viele schöne Jahre

Genau richtig
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„Ich sitze dem allen jetzt ganz allein gegenüber. Das ist jedoch irgendwie auch ein gutes Gefühl. Es bedeutet eine gewisse Freiheit. Ich muss ganz für mich selbst eine Entscheidung treffen. Aber wenn ich ...

„Ich sitze dem allen jetzt ganz allein gegenüber. Das ist jedoch irgendwie auch ein gutes Gefühl. Es bedeutet eine gewisse Freiheit. Ich muss ganz für mich selbst eine Entscheidung treffen. Aber wenn ich das tue, dann wird es für uns beide sein, ich meine, für uns alle fünf.“

Inhalt

Albert und Eirin haben fast ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht, sie sind durch viele Höhen und Tiefen gegangen, haben aber letztlich aneinander festgehalten und ihren Lebensweg gemeinsam bestritten. Und während Eirin auf einem Kongress weit weg von ihrem Mann ist, erhält dieser von seiner Ärztin, die ehemals auch seine Geliebte war, die vernichtende Diagnose über eine Krankheit, die ihn binnen kurzer Zeit zum Pflegefall machen wird und ihn letztlich das Leben kosten wird. Er fährt noch einmal hinaus an das gemeinsame Haus am See, füllt dort die Seiten des Hüttenbuchs mit seinen Erinnerungen an ein gelebtes Leben und muss sich allein darüber im Klaren werden, ob er die wenige Zeit, die ihm noch bleibt, mit seiner Familie verbringen möchte, oder ob er dem unaufhaltsamen Prozess des Sterben entgegeneilt, um ohne unvermeidliche Verluste einen Schlussstrich zu ziehen.

Meinung

Vor vielen Jahren habe ich vom norwegischen Bestsellerautor Jostein Gaarder sein Buch „Sophies Welt“ gelesen und vor nicht allzu langer Zeit seinen Roman „Ein treuer Freund“. Beide Bücher beschäftigen sich mit einem Themenkomplex, den ich wahnsinnig gern in literarischen Texten wahrnehme, weil es dabei um viel mehr geht, als um ein Leben und das individuelle Schicksal, vielmehr sind es die großen Zusammenhänge der Welt, die Menschlichkeit und die Ängste Einzelner, die durch Interaktion mit anderen gemildert werden. Und so geht es auch hier um einen sterbenskranken Mann, dem es in Anbetracht seiner ihm noch verbleibenden Lebenszeit zwar gut geht, dessen Stunden aber gezählt sind.

Mit dem Untertitel „Die kurze Geschichte einer langen Nacht“, trifft es den Inhalt des Buches schon sehr genau, denn Albert macht nichts weiter, als sich an sein Leben zu erinnern. Im Rückblick beschreibt er seine Liebesbeziehung zu Eirin und sein Verhältnis zu Marianne, er lässt Augenblicke des Glücks und der Freude Revue passieren und versetzt sich in Vergangenes hinein, um möglicherweise eine Frage zu finden, die ihm mit dem, was kommen wird, versöhnen könnte. Was passiert mit dem Mensch, wenn er nicht mehr da ist? Was geschieht der Menschheit, wenn alles so schrecklich vergänglich ist und nichts von Bestand? Wer wird sich an ihn erinnern, wenn er gestorben ist und welche Spuren konnte er überhaupt hinterlassen?

Diese philosophischen Ansätze haben mir, wie immer sehr gut gefallen. Sie äußern sich in schönen Sätzen, über die man gerne nachdenkt. Es geht um das Leben, die Verluste, die Wünsche, die Rückschläge und die tiefe innere Überzeugung, das jedes Individuum, wie klein es auch sein mag und wie kurz es auch auf Erden existierte, immer irgendwo eine Entwicklung voranbringt, die in ihrer Summe einzigartig und wunderschön ist. Dadurch das dieser kurze Roman aber nur 125 Seiten umfasst und stellenweise sehr profane Dinge schildert, fehlt ihm eine gewisse Präsenz. Manchmal versteigt sich Albert regelrecht in seine Erörterungen, er fabuliert und denkt, ohne sich der tatsächlichen Auswirkungen seiner Selbst bewusst zu werden. Dadurch bleibt die emotionale Ebene, die dieses Buch direkt ansprechen könnte, seltsam leer. Es missfällt mir wirklich, wenn die an sich schon traurige Botschaft, das alles endlich ist, so nachhaltig vergeistigt wird und es nicht mehr um den Menschen geht, sondern nur noch um das Universum. Ich denke, diese distanzierte Schreibweise hätte sich auch nicht geändert, wenn der Roman den doppelten Umfang gehabt hätte. Deshalb war er so, wie er ist genau richtig.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne, die ich zu 4 aufrunde. Leider erfüllt das Buch nicht den Anspruch, den ich ursprünglich an es hatte, obwohl fast alle Gedankengänge, die aufgegriffen werden, plausibel erscheinen, konnte es mein Leserherz nicht erreichen. Vieles bleibt im Verborgenen, die Protagonisten sind eher willkürlich und ersetzbar, die endgültige Entscheidung für oder gegen einen Sachverhalt wird zwar gefällt, nicht aber ausreichend begründet. Manches scheint Zufall, vieles scheint Schicksal, alles scheint einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Dennoch hat mir die Geschichte an sich gut gefallen, vielleicht muss man auch ein Auge zudrücken und nicht so viel Vergleiche mit anderen Texten ziehen, um diesen hier wirklich genießen zu können. Als Einstieg in die Materie der philosophischen Gedankenwelt ist es ein gutes Buch, wer bereits andere Bücher mit ähnlichen Strukturen kennt, wird möglicherweise enttäuscht sein.

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Veröffentlicht am 27.09.2020

Viel zu beschäftigt für die andere

Jägerin und Sammlerin
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„Ich weiß nicht mehr, was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nah dran, sie voll und ganz zu verstehen. Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Inhalt

Alisa ...

„Ich weiß nicht mehr, was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nah dran, sie voll und ganz zu verstehen. Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Inhalt

Alisa ist intelligent, obwohl sie die Schule schwänzt, Alisa ist jung, obwohl sie die Last eines ganzen Lebens auf ihren Schultern trägt, Alisa ist verzweifelt, weil ihre Krankheit ihr den letzten Nerv raubt und sie sich den Fressattacken mit anschließendem Erbrechen doch nicht widersetzen kann. Alisa hat Bulimie und versucht irgendwie durch ihr Leben zu kommen, eine begonnene Therapie soll ihr helfen, sich und die Welt besser und echter wahrzunehmen, doch dabei muss sie leider feststellen, dass sie immer auf sich gestellt sein wird, wenn sie der Abwärtsspirale entkommen möchte.

Tanya, Alisas Mutter ist eine Kämpferin, sie hat sich in ihrem Leben nicht von widrigen Umständen abhalten lassen, ist durchaus den Weg mit Widerstand gegangen, immer auf der Suche nach dem Lebensglück und einem Partner, der ihr Halt bietet, den sie in sich selbst nicht findet. Die große Lücke, die bleibt, als sie einsehen muss, dass sie ihre einzige Tochter verloren hat, füllt sie zunächst mit Alkohol und später mit einer Innenschau, die zeigt, wie labil auch ihr eigenes Nervenkostüm ist. Wer kann Urvertrauen bieten, wenn er selbst keins besitzt? Beide sind viel zu beschäftigt für die Sorgen und Nöte der anderen und so schleicht sich immer mehr Distanz in eine traurige Mutter-Tochter-Beziehung ein, die letztlich zwei Menschen alleine dastehen lässt, obwohl sie sich irgendwo im Inneren doch wichtig sind …

Meinung

Bereits im Jahr 2017 habe ich den Debütroman „Kukolka“ von der ukrainischen Autorin Lana Lux mit viel Lesefreude und nachhaltiger Begeisterung gelesen, so dass ich ihr neuestes Werk natürlich auch kennenlernen musste.

Gerade die Thematik einer Essstörung, mit der ich persönliche Erfahrungen im Bekanntenkreis habe, lag mir dabei am Herzen, aber auch die Ausführung, warum Menschen, denen es eigentlich gar nicht so schlecht geht, an einer so zerstörerischen, nachhaltigen und lebensverändernden Erkrankung leiden und wie sie dort überhaupt hineingeraten sind. Und beide Punkte werden ausführlich, intensiv und ganz konkret in diesem Roman beleuchtet, so dass mir gerade im ersten Teil des Buches die körperlichen Befindlichkeiten der Kranken so deutlich vor Augen standen, dass ich hin und wieder eine kleine Lesepause einlegen musste.

Ich bin von dieser Erzählung nachhaltig beeindruckt, weil sie ohne irgendwelche Anklagen auskommt und sehr emotional aber dennoch sachlich die Eckpunkte einer absolut verkorksten Mutter-Tochter-Beziehung aufzeigt. Während Alisa sich einzig nach Anerkennung und Liebe sehnt, versucht Tanya das beste aus der Tochter herauszuholen, weil sie selbst niemanden hatte, der sie gefördert hat und tatsächlich glaubte, dass irgendwann mal etwas aus ihr werden könnte. Doch Alisa ist nicht wie Tanya – egal wie stark sie sich um Anerkennung bemüht, ihre Mutter sieht nur die Unzulänglichkeiten und Defizite, die es zu verbessern gilt, im Zentrum steht nicht die Liebe zu ihrer Tochter, sondern die Erziehung eines patenten, starken Menschen, der sehr genau um seine Schwächen weiß.

Die Verstrickungen, die beide miteinander teilen, geben niemanden Genugtuung, immer bleibt zu wenig übrig, zu wenig Liebe, zu wenig Stolz, zu wenig Zuversicht, zu wenig Anerkennung. Erst eine Trennung der beiden Lebenspunkte Mutter und Tochter beruhigt die Lage, allerdings sind damit auch alle Möglichkeiten, die in einer intakten Beziehung stecken, versiegt.

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen intensiven, empathischen Roman über eine labile bis nachteilig wirkende enge Bindung, die trotz einiger Möglichkeiten nie den gewünschten Erfolg erreicht. Die Schilderung der Umstände ist gleichermaßen akribisch wie generalistisch angelegt, durch die vielen Textpassagen in wörtlicher Rede, ist der Leser immer ganz nah dran an der jeweiligen Protagonistin und kann sowohl Verständnis für die eine als auch für die andere entwickeln.

Es wird mit verschiedenen Zeitsprüngen gearbeitet, so dass einerseits die Verfehlungen der Vergangenheit sichtbar werden, andererseits auch die Sorgen der Gegenwart und die Ängste bezüglich der Zukunft. Gerade diese umfassende Betrachtung eines Sachverhalts, hat mir ausgesprochen gut gefallen. Wer persönliche Erfahrungen mit Essstörungen hat, muss hier manchmal innehalten und tief durchatmen, allerdings fördert der Text auch das Miterleben der Krankheit, die manchmal sogar als Freundin betrachtet wird (für psychisch gesunde Menschen eine absolut unglaubliche Vorstellung).

Wer Romane mit Tiefgang und Unterhaltungswert schätzt und sich für die vielen Facetten menschlicher Belange interessiert, sollte unbedingt dieses Buch lesen. Für mich steht fest: Wenn Lana Lux den nächsten Roman veröffentlicht, greife ich ganz bewusst danach, weil ich mich von ihrer schriftstellerischen Sorgfalt und Intensität nun schon zweimal überzeugen konnte.

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