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Veröffentlicht am 26.04.2024

Wunderbarer Vater-Sohn-Roman!

Drei Uhr morgens
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Antonio ist gerade 18, als er mit seinem Vater von Italien nach Marseille reist. Ein besonders fähiger Arzt soll den jungen Mann wegen seiner im Kindesalter aufgetretenen Epilepsie begutachten und diese ...

Antonio ist gerade 18, als er mit seinem Vater von Italien nach Marseille reist. Ein besonders fähiger Arzt soll den jungen Mann wegen seiner im Kindesalter aufgetretenen Epilepsie begutachten und diese bestenfalls neu bewerten. Dort angekommen erwartet die beiden ein ungewöhnlicher Auftrag. Sie sollen zwei Nächte wach bleiben, Antonios Körper so in einen Ausnahmezustand versetzt und auf seine Belastbarkeit hin überprüft werden. Überraschend sehen Vater und Sohn sich nun mit viel freier, gemeinsamer Zeit konfrontiert, einem Zustand, der ihnen auf Anhieb wenig geheuer ist. Denn wie plötzlich umgehen mit diesem fast fremden Menschen? Die Trennung der Eltern ist lange her, Vater und Kind sich lange schon nicht mehr vertraut. Sie lassen sich treiben, folgen anfangs noch zaghaft der Strömung der flirrenden Stadt, den Ratschlägen der Einheimischen und beginnen zunehmend Gefallen an der Sache zu finden, aneinander und am Zauber des Balikwas. „Das ist Tagalog, die Hauptsprache der Philippinen. Es ist schwer zu übersetzen. Es bedeutet so viel wie: unverhofft in eine neue Situation springen, den Blickwinkel ändern, die Dinge, die wir zu kennen glauben, in einem anderen Licht sehen.“ S. 171

Völlig ohne Kitsch und Pathos kommt diese Geschichte einer zarten Annäherung aus, die sich intensiv und atmosphärisch auf wenigen Seiten entfaltet, eine leichte Melancholie verströmend, die mich konstant umfangen hielt. Da steckt ganz viel Klugheit drin, Sanftheit, ein sicheres Gespür für Beziehungen und ihre Tücken, für Nähe und Distanz, und wie die eine die andere zu überwinden vermag in kleinen Momenten wahrer Intimität. Eine ganz zauberhafte, inspirierende Lektüre, die es auch schon als Taschenbuch gibt. Lesen bitte!

„Als mein Vater geendet hatte und dem Echo der beiden abschließenden, wehmütigen Tonfolgen nachsann, brandete warmherziger Beifall auf. Ich applaudierte ebenfalls und klatschte so lange, bis ich mir sicher war, dass er mich gesehen hatte, denn ich begann zu begreifen, dass es Missverständnisse gibt, und in diesem Moment sollte es keine geben. In den Jahren danach sollte ich noch jede Menge unterschiedlichsten Jazz hören. Ich sollte Begriffe kennenlernen, von denen ich in jener Nacht in Marseille nicht den leisesten Schimmer hatte: Variationen, Paraphrasen, Dissonanzen, Cluster, Chromatik, Wechselspiel, modale Improvisation, Free Jazz. Doch alles - sei es viel oder wenig -, was ich wirklich über Jazz weiß, habe ich in jener Nacht gelernt.“ S. 114

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Leider nicht das erwartete Highlight...

Vom Himmel die Sterne
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Vorweg, ich wollte dieses Buch wirklich von Herzen mögen und vielleicht liegt genau hier auch zum Teil das Problem. Es ist ja immer so eine Sache mit Lieblingsbüchern und den daraus resultierenden, besonders ...

Vorweg, ich wollte dieses Buch wirklich von Herzen mögen und vielleicht liegt genau hier auch zum Teil das Problem. Es ist ja immer so eine Sache mit Lieblingsbüchern und den daraus resultierenden, besonders hohen Erwartungen an Nachfolgeromane. „Schloss aus Glas“, das autobiografische Debüt von Jeannette Walls, ist so ein Herzensbuch von mir, fesselnd, berührend und authentisch von der ersten bis zur letzten Seite, die Lektüre lange her, doch unvergessen.

Virginia, 1920, die Zeit der Prohibition in Amerika. Wilder Westen fast noch, es herrscht das Gesetz des Stärksten, welcher die Gesetze des Staates willkürlich und sehr flexibel auslegt oder direkt außer Kraft hebelt. Hier wächst die junge Sallie Kincaid im weit verstreuten Kreis einer einflussreichen Familie auf und zu einer selbstbestimmten Frau heran, die sich mitnichten dem Gesellschaftsbild einer feinen Dame unterwerfen möchte. Nach dem Tod ihres Übervaters, des großen Dukes, beginnt ein Nerven aufreibender, eines rasanten Actionfilmes würdiger (Straßen-)Kampf um die Herrschaft über Claiborne County, den Schwarzhandel mit Alkohol, die Existenzgrundlage nicht weniger Einwohner dort, und ein inneres Ringen der Protagonistin um Richtig und Falsch. Sallies Aufstieg vom dürren, harmlosen Mädchen zur „Königin der Kincaid-Schmuggler“ ist nicht mehr aufzuhalten und wird durch zahlreiche Zufälle, einer abstruser und konstruierter als der andere, begünstigt. Keiner ist, wer oder was er zu sein scheint, wirklich niemandem ist zu trauen. Intrigen, Familiengeheimnisse, Mord und Totschlag reihen sich aneinander und am Ende wartet trotzdem das große Happy-End und sie leben vermutlich glücklich bis an ihr Lebensende.

Sehr schade, ich hab die letzten 100 Seiten nur noch überflogen und mich ehrlicherweise über die vertane Lesezeit geärgert, denn das Thema bot meines Erachtens nach viel Potenzial und die Autorin hat ihr Können bereits mehr als unter Beweis gestellt. Vielleicht bin ich aber auch einfach zu alt und nicht mehr die Zielgruppe für diese Art Geschichte. Wer es bis hier geschafft hat, bekommt zur Belohnung dennoch eine große Leseempfehlung - nämlich für „Schloß aus Glas“!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Welch eine literarische Neuentdeckung!

Hundswut
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Ein kleines Dorf in der bayerischen Provinz, 1932. Während die Nazis in München langsam ihre Macht ausbauen, reicht deren Arm noch nicht bis in die abgelegensten Winkel, lösen die Dorfbewohner, allen voran ...

Ein kleines Dorf in der bayerischen Provinz, 1932. Während die Nazis in München langsam ihre Macht ausbauen, reicht deren Arm noch nicht bis in die abgelegensten Winkel, lösen die Dorfbewohner, allen voran die mächtigsten Männer, ihre eigenen Probleme lieber selbst. Als mehrere Jugendliche entsetzlich verstümmelt und ermordet im Wald aufgefunden werden, vermuten sie dahinter zuerst das Werk eines Wolfes. Doch schnell ist auch dem größten Zweifler klar, dass diese Gräueltaten menschlichen Ursprungs sein müssen. Ein Übeltäter ist in dem Köhler Joseph auch schnell gefunden, einem großkopferten Außenseiter, der sich kaum am dörflichen Leben beteiligt und hat er nicht damals Sohn und Frau schon auf kaum erklärbare Weise verloren? Schnell sind alle Skrupel vergessen und eine Hetzjagd beginnt, die das Bild vom Menschen als hoch kultiviertes Wesen Lügen straft, alte Fehden an die Oberfläche schwemmt und auch vor mittelalterlichen Methoden nicht halt macht.

„Das, was da in der Mitte des Platzes an das Rad gebunden war, das, was da schrie und keifte und stank, das war kein Mensch […] Das war ein Dämon, eine Kreatur, ein Teufel, und sie taten das einzig Richtige. Gottes Werk oder nicht, das war ihm egal, glauben sollten die, die es nötig hatten. Toni musste nicht glauben, er wusste.“ S. 344

Daniel Alvarenga ist für mich eine echte Neuentdeckung, ein starker Erzähler, den ich im Blick behalten werde. Der gebürtige Berliner hat sich als Drehbuchautor bereits einen Namen gemacht und legt mit „Hundswut“ nun sein literarisches Debüt vor, das es wahrlich in sich hat. Wer Doris Knechts „Wald“ und Marie Brunntalers „Wolf“ mochte, gerne in das einfache, archaische Leben einer kleinen, auf den ersten Blick fest eingeschworenen Gemeinschaft eintaucht und Interesse an den Dynamiken in einer solchen hat, wird hier voll auf seine Kosten kommen, muss sich allerdings auch auf explizite Gewaltschilderungen einstellen. Und mit dem bayerischen Dialekt sollte man auch keine Probleme haben, der hier ziemlich stark ausgeprägt ist, was der Geschichte besondere Authentizität verleiht, für mich als Nordlicht aber auch eine kleine Herausforderung war.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Lesehighlight!

Kerbholz
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Eine englische Familie verunglückt 1978 an der wilden Küste Neuseelands mit dem Auto. Die Eltern sterben, ihre drei Kinder bleiben verletzt zurück und landen nach einigen Strapazen auf einer Farm mitten ...

Eine englische Familie verunglückt 1978 an der wilden Küste Neuseelands mit dem Auto. Die Eltern sterben, ihre drei Kinder bleiben verletzt zurück und landen nach einigen Strapazen auf einer Farm mitten im Nirgendwo. Hier führen die älteren Leute Martha und Peters ein zurückgezogenes, naturverbundenes Dasein, nehmen die traumatisierten Geschwister jedoch bereitwillig, wenn auch nicht ganz uneigennützig bei sich auf. Ihr altes Leben unwiderruflich zwischen dichten Büschen und reißenden Flüssen begraben, gehen die Kinder sehr unterschiedlich mit ihrer neuen Situation um. Während das Mädchen sich gut einlebt und der Jüngste in seiner eigenen Welt versinkt, schmiedet der Älteste wacker Fluchtpläne. Er wird auf keinen Fall an diesem Ort bleiben, um keinen Preis der Welt.

In einem zweiten Handlungsstrang wird die Tante der Kinder 30 Jahre später in England über einen Fund informiert, der traurige Gewissheit bringt, aber auch Fragen aufwirft: menschliche Knochen mit ihrer DNA und direkt daneben ein Kerbholz, eine Art altertümlicher Schuldschein.

Menschen verschwinden, das ist eine traurige Tatsache. Manche tauchen irgendwann wieder auf, andere werden nur noch tot gefunden oder – schlimmstenfalls – nie wieder gesehen. Ein solches Szenario ist Gegenstand dieses großartigen Romans und wird von Carl Nixon (eine weitere grandiose Neuentdeckung für mich) mit feinem psychologischen Gespür und eingebettet in die raue Natur Neuseelands beleuchtet. Wie übersteht ein Kind den Verlust seiner Eltern und damit aller Gewissheiten, welche seelischen Ressourcen kann es mobilisieren, um nicht daran zu zerbrechen? Was bedeutet Familie und Zugehörigkeit, ein sicheres Zuhause, und können wir selbst entscheiden, glücklich zu sein, unser Schicksal anzunehmen?

Ich sag´s, wie es ist. „Kerbholz“ hat mich direkt in den Bann gezogen, enorm begeistert und überrascht. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen und hab diese klug konstruierte, spannende Geschichte richtiggehend aufgesaugt, hab diese lebendige Sprache genossen, die eine intensive Atmosphäre verströmt und Tage später noch immer in mir nachklingt. Highlight!

Übersetzt von Jan Karsten.

„Der Mann lief weiter. Von nun an waren das Einzige, was für Katherine existierte, der nächste Schritt. (…) Viel später würde sie sich darüber ärgern, nicht besser auf den Weg, den sie zurücklegten, geachtet zu haben. (…) Jeder Ort, den sie erreichten, schien erst durch ihre Ankunft ins Leben gerufen zu werden. Und sobald sie weitergingen, war dieser Teil des Waldes auch schon wieder aus der Welt verschwunden. Nein, sie würde niemals allein zurückfinden, nicht in hundert Jahren.“ S. 92

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