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Veröffentlicht am 05.06.2024

Viel mehr Schmerz als erwartet

Der silberne Elefant
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Lynn, Vera und Emily - drei Frauen, drei sehr unterschiedliche Lebenswege doch sie alle verbindet ein ähnliches Gefühl; nicht glücklich zu sein, falsche Entscheidungen getroffen zu haben oder einfach ...

Lynn, Vera und Emily - drei Frauen, drei sehr unterschiedliche Lebenswege doch sie alle verbindet ein ähnliches Gefühl; nicht glücklich zu sein, falsche Entscheidungen getroffen zu haben oder einfach vom Leben gezeichnet zu sein. Eher zufällig kreuzen sich die Wege dieser drei sehr unterschiedlichen Frauen und während wir Stück für Stück die Geschichten der Protagonistinnen erfahren, nähern diese sich an, beginnen sich gegenseitig Kraft und neue Hoffnung zu geben.

„Der silberne Elefant“ von Jemma Wayne hat ein traumhaft schönes Cover, dass mich sofort angesprochen hat und auch der Titel sagt irgendwie „hey, ich bin ein richtig nettes Buch!“. Der Klappentext lässt dann schon erahnen, dass die Lebenswege der drei Frauen mit Schmerz und Traumata zu tun haben aber ich war definitiv nicht auf dieses Buch vorbereitet und es fällt mir immer noch schwer, meine Gedanken darüber in Worte zu fassen; vieles passte für mich nicht ganz zusammen, blieb offen oder mir einfach unverständlich. Sprachlich gefiel mir der Roman sehr gut - ich bin schnell in einen angenehmen Lesefluss gekommen und mochte das Bildhafte, Lebendige in der Sprache. Wie es mir bei Romanen mit unterschiedlichen Erzählsträngen oft geht, haben mich allerdings auch hier nicht alle drei Geschichten gleich abholen können. Emiliennes Schicksal ist schrecklich und vermutlich so nah an der Realität, dass es unmöglich ist, nicht arg betroffen zu sein. Die Schilderungen der ihr zugestoßenen Gräueltaten, oder deren Zeugin sie geworden war, bedürfen meiner Meinung nach jedoch einer dringenden Triggerwarnung für explizite und sexuelle Gewalt und hier stellt sich mir auch die Frage - muss ich diese Dinge so explizit grauenhaft geschildert bekommen, wenn es sich um eine fiktive Geschichte handelt? Und wie authentisch kann eine weiße, westliche Autorin den Inhalt des Genozids in Ruanda eigentlich vermitteln?

Leider blieben mir sowohl Lynn als auch Vera weitestgehend fremd; es fiel mir trotz der vielen inneren Monologe schwer, Zugang zu deren Gedanken zu bekommen, mich in sie hinein zu versetzen, geschweige denn mit deren Verhalten zu identifizieren. Überhaupt hatte ich große Mühe, mit irgendeiner Figur zu sympathisieren; im Fall von Luke hat sich im Gegenteil eher eine richtiggehende Abneigung bei mir entwickelt. Auch der starke religiöse Aspekt in Veras und Lukes Beziehung war mir insgesamt zu viel des Guten. Ich habe allerdings selten so viel mit anderen Menschen über ein Buch gesprochen und diskutiert, mir selber Gedanken darüber gemacht was Literatur darf oder soll und mich auch gefragt, was ich von einem guten Buch erwarte. Das empfinde ich als sehr positiv und nehme ich definitiv aus dieser Lektüre mit.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Gstrein versteht sich auf das virtuose Erzählen des Nichterzählbaren

Als ich jung war
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Der junge Franz fotografiert neben dem Studium Hochzeitspaare im Gasthof seiner Eltern in Tirol. Er fängt den vermeintlich glücklichsten Tag ihres Lebens ein, beobachtet die Liebenden und versucht zu ...

Der junge Franz fotografiert neben dem Studium Hochzeitspaare im Gasthof seiner Eltern in Tirol. Er fängt den vermeintlich glücklichsten Tag ihres Lebens ein, beobachtet die Liebenden und versucht zu erahnen, wie es ihnen miteinander ergehen wird. Innerhalb weniger Wochen passieren dann zwei, den jungen Mann stark aufwühlende, Ereignisse - er lernt ein junges Mädchen kennen, es gibt einen Kuss und kurze Zeit später wird eine Braut am Morgen ihrer Hochzeit zerschmettert am Berghang gefunden; ein Selbstmord, vermutlich. Aus der Bahn geworfen und verwirrt nimmt Franz nur zu gerne das Angebot eines Verwandten an, in Amerika als Skilehrer zu arbeiten und flugs sind 13 Jahre vergangen bis ihn die Vergangenheit einholt als ein weiterer Selbstmord in seinem Umfeld geschieht.

Wir folgen dem Protagonisten bei dem Versuch der Rekonstruktion dieser Ereignisse auf den Pfad der Erinnerung, der wacklig zu sein scheint und immer wieder die Frage aufwirft, wie zuverlässig unsere Erinnerungen eigentlich sind. Neue, kleine Details offenbaren sich Stück für Stück, treiben die Erzählung weiter und führen auf neue Fährten, fügen sich langsam zu einem Bild zusammen; eine angenehme stete Spannung liegt über der Geschichte, ohne dass diese wirklich ins Krimigenre abrutscht. Gstrein versteht sich auf das virtuose Erzählen des Nichterzählbaren in einem gemächlichem Tempo, das man mögen muss und wie ein Stilmittel wirkt - und nachwirkt, wenn man das Buch beiseite gelegt hat. Eine rasante Story darf man hier nicht erwarten, wohl aber einen intelligenten, tiefgründigen Roman über Schuld und die Sehnsucht nach Vergebung.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein richtig guter, stark erzählter Roman!

Portrait
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Wer sind wir ohne die Reflexion durch andere, was bliebe von uns übrig ohne sie?

Jürgen Bauers „Portrait“ zeichnet das Leben eines Mannes nach, der nirgendwo reinpasst. Als zarter „Großkopferter“ auf ...

Wer sind wir ohne die Reflexion durch andere, was bliebe von uns übrig ohne sie?

Jürgen Bauers „Portrait“ zeichnet das Leben eines Mannes nach, der nirgendwo reinpasst. Als zarter „Großkopferter“ auf den heimischen Bauernhof so wenig wie später, nach seiner Flucht in die Großstadt, als Homosexueller in die feine Gesellschaft Wiens, wo er bald ein kräftezehrendes Doppelleben zwischen Juristerei und Schwulenkneipe führt. Der Roman ist in drei zeitliche Abschnitte eingeteilt. Von Georgs Kindheit nach dem zweiten Weltkrieg in einem kleinen Dorf im Nirgendwo erzählt seine Mutter Mariedl; sehr authentisch und in tiefstem österreichischen Dialekt (ja, durchaus eine Herausforderung für mich Nordlicht aber ich habe sie gemeistert 💪🏻) lässt sie das Bild eines Knaben vor meinen Augen entstehen, der früh spürt, dass er anders tickt und der engstirnigen Dorfgemeinschaft entfliehen muss, um seinen Weg zu finden. Auf ebendiesem begegnet er dem jungen Gabriel, der sein Liebhaber und heimlicher Gefährte in den folgenden Jahren wird. Doch während dieser in die pulsierende Schwulenszene Wiens der 70er Jahre eintaucht und das Leben mit ganzem Körpereinsatz (und zum Soundtrack David Bowies) aufsaugt, bleibt Georg gefangen in der spießigen Hülle, die er seinem Leben, ja, sich selbst überstülpt. Im wilden, ungestümen Temperament Gabriels spiegelt sich umso stärker Georgs Zurückgezogenheit, die Unfähigkeit, sich seinem Selbst zu stellen. Im letzten Teil kommt Sara zu Wort, eine erfolglose, vom Partner misshandelte Opernsängerin, die ihm freundschaftlich zugetan ist und in dem schwächlichen, lenkbaren Georg den idealen Ehemann für sich erkennt; und ihm ihrerseits mit einer Zweckehe gesellschaftliche Sicherheit bieten kann.

Von diesen drei Seiten nähern wir uns Georg, ziehen immer engere Kreise und bekommen seinen Umriss deutlich zu fassen aber nie wirklich ihn selbst; während die Figuren um ihn herum schillern und vor Lebendigkeit strahlen, bleibt er seltsam verschwommen, entgleitet immer wieder ins Leere - wir sehen das Negativ, nicht aber das wirkliche Bild. Georg schwankt passiv im eigenen Leben umher, der Charakter nur hie und da durchblitzend, blass bleibend neben den Erzählstimmen und fast nicht greifbar für mich als Leserin. So bleibt in mir eine große Zuneigung für die drei Erzähler*innen und ihre zärtliche Liebe zurück und leises Bedauern über das vertane Glück Georgs, der seinen Platz nie finden konnte und dem am Ende nicht einmal die eigenen Erinnerungen bleiben. Ein richtig guter, stark erzählter Roman!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Über die Verbundenheit von Mensch und Natur

Nachtlichter
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Amy Liptrot ist mit „Nachtlichter“ eine beeindruckende Geschichte über die uralte Verbundenheit von Mensch und Natur geglückt, der wir heute im Taumel des Fortschritts nur noch ganz selten nachspüren ...

Amy Liptrot ist mit „Nachtlichter“ eine beeindruckende Geschichte über die uralte Verbundenheit von Mensch und Natur geglückt, der wir heute im Taumel des Fortschritts nur noch ganz selten nachspüren können. Umso kostbarer sind für mich solche Momente und Worte, die als ein tiefes Gefühl in mir nachhallen. Gespickt mit Informationen über Flora und Fauna der Orkneyinseln nimmt uns die Autorin mit auf ihre sehr persönliche Suche nach innerem Gleichgewicht und Zufriedenheit. Nature Writing vom Allerfeinsten; mich hat die Lektüre glücklich und auch ein bisschen demütig gemacht. Ganz wunderbar ins Deutsche übersetzt von Bettina Münch.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein packender Heimatkrimi im besten Sinne!

Wolf
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Ein kleines Dorf im Schwarzwald Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Menschen leben ein einfaches, karges Leben, ohne größere Überraschungen oder Träumereien. Als wie aus dem Nichts ein geheimnisvoller Junge ...

Ein kleines Dorf im Schwarzwald Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Menschen leben ein einfaches, karges Leben, ohne größere Überraschungen oder Träumereien. Als wie aus dem Nichts ein geheimnisvoller Junge auftaucht sind die Dorfbewohner verzückt. Eine engelsgleiche Ruhe und Geduld geht von dem jungen Gabriel aus, seine geradezu überirdische Schönheit zieht jeden in den Bann und es zeigt sich, dass der Knabe heilende Fähigkeiten hat, die auf eine besondere Bildung hindeuten. Doch der junge Mann, der keine Erinnerungen mehr an seine Herkunft hat, bleibt den Einwohnern ein Mysterium und als gleich zwei Frauen sich in ihn verlieben beginnt der Wind sich zu drehen. Die reine, gute Seele Gabriels löst in den Herzen der Dörfler Missgunst aus, sät Eifersucht und Zwietracht und fordert das eine oder andere Opfer.

„Ohne sich selbst schuldig zu machen, ist er es, der bei anderen die Sünde auslöst oder zumindest sündige Wünsche und Sehnsüchte hervorlockt. [...] Der Bursche gleich einem Tier, das von Geburt an lauter und rein ist wie jede Gotteskreatur und dabei allein von seinem Instinkt getrieben wird. Selbst das wildeste Tier tut ja nichts Böses. Der Wolf zum Beispiel handelt nicht böse wenn er das Lamm reißt, es liegt in seiner Natur.“ S. 124/125

Ein packender Heimatkrimi im besten Sinne ist Marie Brunntaler mit „Wolf“ gelungen. Die Sprache ist etwas altertümlich und einfach gehalten, dabei aber sehr lebendig und perfekt zum Setting der Geschichte passend; sie führte mich an der Hand mitten hinein in das Leben an diesem abgeschiedenen Ort, wo eigene Gesetze herrschen. Von Anfang an liegt eine leicht bedrohliche Spannung über der Geschichte, der ich mich nicht entziehen konnte und die sich Stück für Stück entlädt bis am Ende nur eine Frage übrig bleibt - wer ist gut und wer ist böse? Der feine Blick der Autorin auf die archaischsten Wesenszüge der Menschen in all ihren Facetten ohne ins Klischeehafte abzudriften hat mich beeindruckt. Ein ganz tolles, besonderes Buch!

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