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Veröffentlicht am 05.06.2024

Was für eine geniale, verrückte Idee!

Die Hauptsache
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Was für eine geniale, verrückte Idee!
Ganz ehrlich - ich habe noch nichts vergleichbares gelesen. Irgendwo zwischen Science-Fiction, Fantasy und brutaler Realität angesiedelt wirft Hilary Leichters Debütroman ...

Was für eine geniale, verrückte Idee!
Ganz ehrlich - ich habe noch nichts vergleichbares gelesen. Irgendwo zwischen Science-Fiction, Fantasy und brutaler Realität angesiedelt wirft Hilary Leichters Debütroman unweigerlich und ziemlich schnell die Frage auf, ob wir eigentlich alle einen gewaltigen Dachschaden haben. Gefühlsmäßig hin und her gerissen zwischen hysterischem Kichern und ungläubigem Kopfschütteln bewegte ich mich durch diese rasante, aberwitzige Odyssee durch eine (vordergründig) fiktive Arbeitswelt. Die Protagonistin hat nicht nur diverse Aushilfsjobs sondern passend dazu auch 18 feste Freunde, für jede Lebens- und Gemütslage einen, logisch. Sie pendelt von einer Stelle zur nächsten und entlarvt dabei so manche Absurdität unserer Arbeitsmoral, treibt sie auf die Spitze und reibt uns schonungslos die eigene Austauschbarkeit unter die Nase.

Hoch engagiert ist unsere namenlose Protagonistin, effizient und fleißig und - ob als Vertretung einer vom Aussterben bedrohten Seepockenart oder engagierte Aushilfskraft eines Mörders - immer auf der Suche nach Selbstoptimierung, dem großen Sinn des Seins, eben der Hauptsache.

Die Geschichte liest sich wie ein tiefschichtiges Märchen, das immer noch eine weitere Ebene verbirgt; ich hätte mir jeden zweiten Satz anstreichen mögen. Und während ich lese und nebenbei auf mein Smartphone starre und lese und wieder aufs Handy kucke beschleicht mich so ein merkwürdiges Gefühl, als ob es um mich ginge, nur um mich; das Surreale fühlt sich plötzlich sehr real an. Hilary Leichters Roman stimmt mich nachdenklich und wird mich sicher noch eine Weile beschäftigen.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Große Fabulierkunst!

Seeland Schneeland
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Wir schreiben das Jahr 1921 in Wales, der erste Weltkrieg ist vorbei, die spanische Grippe hat gewütet und wild um sich gegriffen. Der junge Merce Blackboro - für den Kriegsdienst untauglich und schon ...

Wir schreiben das Jahr 1921 in Wales, der erste Weltkrieg ist vorbei, die spanische Grippe hat gewütet und wild um sich gegriffen. Der junge Merce Blackboro - für den Kriegsdienst untauglich und schon lange wieder zurück aus dem ewigen Eis mit Shackleton und dessen Crew - fühlt sich unnütz und des Lebens überdrüssig. So viele junge Männer haben ihr Leben gelassen und was stellt er mit seinem an? Unfähig den Erwartungen der Familienchronik gerecht zu werden, nicht in der Lage eine sinnvolle Richtung zu erkennen und dann noch das Herz! Seines gehört Ennid schon so lange, seit sie als Teenager ein kurzes Intermezzo hatten und ebenso lange zeigt das kecke Fräulein Muldoon mit dem Humpelbein ihm bereits die kalte Schulter und ist jetzt auch noch sang und klanglos nach Amerika aufgebrochen, die Hoffnung auf ein neues Leben im Gepäck und nicht ohne unterwegs noch ein paar Herzen zu brechen - welch eine Schmach! Mit an Bord ist auch Diver Robey, ein steinreicher, amerikanischer Trinker, verwöhnt bis in die Haarspitzen und zu Tode gelangweilt von der High Society und dem schnöden Jetset Leben, dem der wahnwitzige Traum einer transatlantischen Flugstrecke zwischen Amerika und Europa und damit der Ruf eines Träumers anhängt. Als die „Orion“, ehemalige „Seeland“, zukünftige „Sealand“, in Not gerät zwingt dies die Protagonisten zum Handeln und Haltungzeigen, offenbaren sich überraschende Charakterzüge und geheime Sehnsüchte, nimmt das Schicksal manch eine unvorhersehbare Wendung.

Nach anfänglichem Stolpern in die unterschiedlichen Erzählstränge war es mir eine wahre Freude diesen bildgewaltigen Roman zu lesen. Bonné spielt mit der Sprache, den verschiedenen Protagonisten und deren Eigenheiten, lässt sie einem deutlich vor Augen stehen und Form annehmen. Mit feinem Humor und großer Fabulierkunst nimmt er seine Leser/innen mit auf eine abenteuerliche Reise in die Vergangenheit, ins eisige Schneeland.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Sprachlich wunderschön, bildhaft, intensiv, beklemmend, beeindruckend, lehrreich, emotional, spannend

Heimkehren
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Yaa Gyasis „Heimkehren“ zeichnet die Lebenswege zweier Schwestern nach die, wenn auch aus einer Quelle entsprungen, wie loderndes Feuer und fließendes Wasser unterschiedlicher nicht verlaufen könnten. ...

Yaa Gyasis „Heimkehren“ zeichnet die Lebenswege zweier Schwestern nach die, wenn auch aus einer Quelle entsprungen, wie loderndes Feuer und fließendes Wasser unterschiedlicher nicht verlaufen könnten. Während die jüngere Effia Ende
des 18. Jahrhunderts einen englischen Sklavenhändler heiratet und ihre Nachkommen im heutigen Ghana bleiben und zeitlebens von der Sklaverei profitieren, wird die ältere Esi als Sklavin nach Amerika verkauft, wo deren Nachfahren fortan ausgebeutet werden
und erbittert für ihr Recht kämpfen müssen.

Der Roman ist in 14 Abschnitte eingeteilt, jeder Abschnitt widmet sich der jeweils nachfolgenden Generation; im Wechsel begleiten wir beide Familienzweige bis in die heutige Zeit und bekommen so einen ungeschönten Einblick in die Geschichte
der Sklaverei, deren Auswirkungen und Traumata auf ein ganzes Volk bis in die Gegenwart.

„Sie würden nur eine Art von Fesseln gegen eine
andere austauschen, physische Fesseln, die um Handgelenke und Knöchel gelegt wurden, gegen unsichtbare, die die Gedanken banden.“ (S. 134)

Zu sagen, es sei ein schönes Buch, fühlt sich falsch an. Sprachlich wunderschön, bildhaft, intensiv, beklemmend, beeindruckend, lehrreich, emotional, spannend und bei aller Grausamkeit auch hoffnungsvoll - das alles ist „Heimkehren“ aber definitiv und ich habe es in den letzten zwei Tagen quasi inhaliert. Tatsächlich hatte ich beim Lesen öfter den Gedanken „ach, so hing dass also zusammen“, wie ein Crashkurs Geschichtsunterricht und hätte manches Mal laut schreien mögen. Ich möchte bei der Thematik unbedingt am Ball bleiben und bald auch das
vielgerühmte Buch von Colson Whitehead über die „Underground Railroad“ lesen, das hier auch Erwähnung findet.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein wertvolles Zeitdokument!

Unter der Mitternachtssonne
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Paul Seesequasis, Angehöriger des Stammes der „Willow Cree“, porträtiert in diesem Bildband acht indigene Gemeinschaften Kanadas vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein. Was als ...

Paul Seesequasis, Angehöriger des Stammes der „Willow Cree“, porträtiert in diesem Bildband acht indigene Gemeinschaften Kanadas vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein. Was als kleines Social-Media-Projekt begann, entwickelte sich bald zu einem erstaunlich großen Erfolg. Unzählige Menschen nahmen mit Seesequasis Kontakt auf weil sie einen Ort erkannten, einem Foto eine Geschichte oder einem Gesicht einen Namen geben konnten und so fügten sich Stück für Stück immer neue Puzzleteile zu einem wertvollen Zeitdokument zusammen - ein kleiner Ausschnitt davon liegt nun in Form dieses faszinierenden Buches vor.

Begleitend zu den Fotos erzählt der Autor Anekdoten, streift verschiedene Biografien und berichtet über wichtige Ereignisse - dabei legt er sein Augenmerk bewusst nicht
hauptsächlich auf das Leid und die Ausbeutung der Völker, sondern auf deren beeindruckende Stärke, ihre Integrität und die Fähigkeit, sich ständig weiterzuentwickeln und neuen Gegebenheiten anzupassen. Auch der außergewöhnliche Kreativität der Menschen und ihrer ab den 1960er Jahren recht aktiven Künstlerszene widmet der Autor ein umfangreiches Kapitel.

Besonders beeindruckend finde ich die tiefe Naturverbundenheit der alten Stämme und die stark intuitive Art ihre Kinder zu erziehen und für sich zu sorgen. Ich habe oft das Gefühl, wir sind durch den schnellen Fortschritt und Wandel mittlerweile so weit davon entfernt, dass wir diese Intuition, diese Verbindung zu unserer Umwelt kaum noch (be)greifen können - solche Bücher tragen wunderbarerweise dazu bei, die Erinnerung an unseren Ursprung zu bewahren.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Mein Lieblingsbuch der Autorin!

Ehre
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„Männer besaßen Ehre. [...] Frauen besaßen keine Ehre, sie besaßen Scham.“ (S. 31).

„Ehre“ ist so ein Buch, das dich verändert zurücklässt, ein kostbares Juwel in der Welt der Geschichten. Es ist ...

„Männer besaßen Ehre. [...] Frauen besaßen keine Ehre, sie besaßen Scham.“ (S. 31).

„Ehre“ ist so ein Buch, das dich verändert zurücklässt, ein kostbares Juwel in der Welt der Geschichten. Es ist die Chronik eines Ehrenmordes - die Geschichte einer Familie, dessen traditionsgebundenes Leben gute Absichten hat und Glück suggeriert, jedoch verbrannte Erde hinterlässt, kalte Herzen und zerstörte Träume.

Die Zwillingsschwestern Pembe und Jamila werden als letzte von acht Töchtern in eine kurdische Familie am Euphrat hineingeboren. Sie wachsen behütet, aber immer mit dem Wissen um ihre Unzulänglichkeit als Mädchen auf und sind sich gegenseitig Freude genug bis das Leben die Schwestern trennt - und das Schicksal sie wieder zusammen führt.

Mit unheimlich viel Empathie und Liebe für all ihre Figuren führt uns Elif Shafak in das Auge des Orkans und legt den Finger dahin, wo es weh tut. Und das tat es wortwörtlich - mir wurde beim Lesen manchmal die Brust eng und mein Hals war wie zugeschnürt. Dabei beherrscht die Autorin es auf einzigartige Weise, alte Traditionen und Werte sprachlich mit der Moderne zu verknüpfen, ohne dabei je an Authentizität zu verlieren. Ein für mich sehr besonderes Buch aber es fällt mir aufgrund des emotionalen Themas schwer, eine allgemeine Leseempfehlung auszusprechen.

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