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Veröffentlicht am 26.04.2024

Zwischentöne, wo sie schwer zu begreifen sind

V13
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Am Freitag, dem 13. November 2015, wurden bei mehreren, koordinierten Selbstmord-Attentaten in Paris 130 Menschen getötet und mehrere Hundert zum Teil schwer verletzt. Der Islamische Staat bekannte sich ...

Am Freitag, dem 13. November 2015, wurden bei mehreren, koordinierten Selbstmord-Attentaten in Paris 130 Menschen getötet und mehrere Hundert zum Teil schwer verletzt. Der Islamische Staat bekannte sich zu den Terroranschlägen, unter der Bezeichnung „V13“, vendredi 13, wurde den überlebenden, mutmaßlichen (Mit)Tätern 2021 der Prozess gemacht. Ein beispielloser Jahrhundertprozess begann, der fast ein Jahr dauern würde und das nationale Trauma heilen sollte, wenigstens ein bisschen.

Emmanuel Carrère, Journalist und Autor, hat die Gerichtsverhandlung verfolgt und ein starkes Porträt derselben verfasst, ein Plädoyer für die Aussöhnung mit dem Undenkbaren, eine Darstellung fern trockener Berichterstattung mit intimen Einblicken in zutiefst erschütternde Lebensgeschichten, sowohl auf Seiten der Opfer als auch der Täter. Es ist genau dieser Raum für Zwischentöne, der mich für sich einnahm und berührte, der mir so oft und so schmerzhaft fehlt dieser Tage. Zwischentöne, die es doch überall gibt und erlaubt sind, es dringend sein müssen. Denn neben der offensichtlichen Grausamkeit der Tat, offenbaren sich auch hier Momente großer Menschlichkeit wie kleine Lichter in der Dunkelheit, zeigt sich Hoffnung, wo sie kaum zu erwarten ist.

Das war ein ziemliches Gefühlskarussell! Anfangs die Sorge, ein solches Buch könnte Kluften vertiefen, vielleicht sogar Hass schüren auf die muslimische Bevölkerung, Öl ins immer höher wachsende Feuer der Fremdenfeindlichkeit gießen. Dann Wut auf diese radikalisierten Menschen, die eine Religion in den Dreck ziehen und im Namen dieser mit einem Lachen im Gesicht und reinem Herzen morden. Wut auch auf den Hochmut der westlichen Welt, auf Regierungen, die Krieg führen, immer wieder, die meinen, andere Teile der Welt verbessern und Menschen retten zu können, und am Ende geht es doch nur um Macht und Geld, um niedere Beweggründe. Erschütterung über die Schicksale der Beteiligten, die schlicht unvorstellbaren Schilderungen der Ereignisse. Trauer. Ermüdung. Das Gefühl, eine Voyeuristin zu sein, mich derart fesseln zu lassen von der Tragödie anderer. Und: Versöhnung, tatsächlich. Überraschend. Beglückend. Eine erhellende, bewegende Lektüre und ein literarisches Zeugnis unserer zerrütteten Zeit.

Übersetzt von Claudia Hamm.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein betörender Traum

Die Gouvernanten
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Mir ist, als träumte ich. Als wandelte ich eine lange, von Dickicht gesäumte Allee hinunter, einem großen Haus entgegen. Ein raues Lachen erschallt. Dort, im weitläufigen Garten, sehe ich es rot aufblitzen, ...

Mir ist, als träumte ich. Als wandelte ich eine lange, von Dickicht gesäumte Allee hinunter, einem großen Haus entgegen. Ein raues Lachen erschallt. Dort, im weitläufigen Garten, sehe ich es rot aufblitzen, einmal hier, einmal da, und schon ist es wieder verschwunden. Ich reibe mir die Augen, schaue durch halb geschlossene Lider genauer hin. Sieh doch, da galoppieren sie durchs Unterholz, das lange Haar wehend, die strengen Netze zu Boden geworfen, die roten Röcke wild umher schwingend. Sie sind es, die Gouvernanten, Inès, Laura und Éléonore, Herrscherinnen ihrer kleinen, abgeschiedenen Welt hinter den goldenen Toren. Diese verlassen sie niemals, doch innerhalb der Mauern regieren sie über alles, nehmen sich, was immer ihnen beliebt, koste es, was es wolle. Hier gelten ihre Regeln. Und auf die Jungen passen sie natürlich auf, am Tage! Welche Jungen, fragst du? Na, die von Monsieur und Madame Austeur, der Familie, die hier lebt. Klein und groß jagen sie den Reifen hinterher, geraten ganz aus der Puste und kehren dann zu ihren Gouvernanten zurück, den Blick vertrauensvoll auf diese gerichtet, bei den Älteren sehe ich eine Ahnung ersten Verlangens darin, ein sehnsüchtiges Brennen. Und wer kann sie ihnen verübeln, diese totale Verzückung? „Hier nahte das Leben (…) und mit ihnen eine Fülle von Erinnerungen und Wünschen, eine Menge von Unbekannten, die an ihren Träumen hingen, ihre zukünftigen Kinder, ihre künftigen Liebsten, die endlose Kohorte ihrer Vorfahren, die Bücher, die sie gelesen, die Blumen, deren Duft sie eingesogen hatten.“ (S. 32)

Ungläubig und ein wenig neidisch beobachte ich das unbändige Treiben jener jungen Frauen, ihre reine Freude an der Unvernunft, ihr hungriges Verlangen, das im starken Kontrast zu ihrer bescheidenen Aufgabe, ihrer sittsamen Rolle in der Gesellschaft steht. Gleich dem greisen Herrn mit dem Fernrohr bin ich eine neugierige Voyeuristin, kann mich dem, was sich vor meinen Augen abspielt, dieser surrealen Szenerie nicht entziehen. Ein so kraftvolles wie zartes, fiebriges Märchen voll Poesie und Phantasie, ein sinnliches Spiel mit den verschwommenen Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit, das mich bezaubert und betört hat.

Anne Serres eleganter Roman ist eine wirklich aufregende Neuentdeckung des Berenberg Verlags. Die Originalausgabe „Les Gouvernantes“ erschien bereits 1992 in Frankreich, 2021 folgte eine leicht veränderte Ausgabe, der diese hervorragende Übersetzung von Patricia Klobusicky folgt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Zwischenmenschliche Regungen

Lieder aller Lebenslagen
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Heute erscheint dieser wunderbare Herbsttitel, den ich euch sehr empfehlen mag. Stine Pilgaard ist Dänemarks derzeit erfolgreichste Autorin und vielen hier seit „Meter pro Sekunde“ ein Begriff. Für mich ...

Heute erscheint dieser wunderbare Herbsttitel, den ich euch sehr empfehlen mag. Stine Pilgaard ist Dänemarks derzeit erfolgreichste Autorin und vielen hier seit „Meter pro Sekunde“ ein Begriff. Für mich war dieses Buch (im Original vor „Meter pro Sekunde“ erschienen, aber erst nach dessen durchschlagendem Erfolg ebenfalls ins Deutsche übersetzt) das erste der Autorin und ich bin ziemlich angetan von diesem frischen, authentischen Ton, der mich berührt und dann wieder zum Lachen gebracht hat, Pilgaards klugen, nuancierten Beobachtungen der zwischenmenschlichen Regungen.

Wir sind in einem großen, alten Haus in Århus. Hier leben Menschen unterschiedlichster Generationen und Nationalitäten dicht beisammen in einer Genossenschaft, teilen ihren Alltag, ihre Sorgen und ihre Freuden. Das ist meistens schön und bereichernd, manchmal aber auch nicht ganz leicht unter einen Hut zu bekommen und dann ist da auch noch die verflixte Vergangenheit und rückt einem auf die Pelle, will einen partout nicht in die Gegenwart entlassen. Als die Gemeinschaft erfährt, dass unsere neu eingezogene Ich-Erzählerin ein besonderes Talent fürs Liederschreiben hat, schütten sie ihr das Herz aus. (Dafür müsst ihr wissen, dass es in Dänemark üblich ist, zu festlichen Anlässen ein eigenes Lied vorzutragen.) Diese Lieder also führen uns durch den Roman wie ein roter Faden, fassen die Geschichten der Menschen zu einem schillernden Kaleidoskop des Lebens zusammen, schauen ihnen ins Herz und direkt auf den Grund ihrer Sehnsüchte. Da ist Wahrsager-John mit seiner absurden Ratgeberspalte in der Zeitung, Lisa, die uns tief in die Welt der isländischen Sagen und ihren starken Frauen mitnimmt, Oma, die ihre Enkelin Iben innig liebt und ebenso innig bevormundet und die seit einem halben Jahrhundert in Ruth verknallt ist, der Kater Daisy (ja, genau, KATER Daisy), Mie, die das Haus kennt wie keine Zweite und verzweifelt versucht, das Zepter in der Hand zu behalten und, ach, lassen wir das. Lest es einfach und lernt ihn selbst kennen, diesen chaotischen, liebenswerten Haufen und tut eurer Seele etwas Hyggeliges in diesen unruhigen, beängstigenden Zeiten.

„Das ist wie in einer Band, sagt Iben, wenn's Probleme gibt, holt man tief Luft und spielt weiter.“ S. 91

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Wie ein leises Echo

Marschlande
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Nur eine halbe Autostunde von meinem Zuhause entfernt beginnen sie, die Hamburger Marschlande, eine geschichtsträchtige Gegend, über die ich nichts weiß, kaum einmal dort war, und die eine besonders tragische ...

Nur eine halbe Autostunde von meinem Zuhause entfernt beginnen sie, die Hamburger Marschlande, eine geschichtsträchtige Gegend, über die ich nichts weiß, kaum einmal dort war, und die eine besonders tragische Geschichte birgt. Entlang der Elbe winden sich fruchtbares Land, lange Deiche, malerische Bracke mit verhängnisvollen Ursprüngen auf grünen Wiesen, das alles konservierende Moor. Hier liegen auch Abelke Blekens Wurzeln, mit dieser feuchten Erde ist sie verbunden, hat ihre Hände tief hineingegraben, gegeben, was sie konnte, und genommen, was sie zum Leben benötigte. Hier ist sie geboren, hat mit großem Geschick ihren eigenen Hof bestellt, und hier ist sie gestorben - als Hexe verbrannt auf dem Scheiterhaufen im Jahre 1583. Britta Stoever, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, zumindest früher einmal, zieht mit ihrer Familie neu in die Marschlande, raus aus der lauten Stadt und ins Eigenheim, das ist schon lange ihr Wunsch. So lange, dass sie ihn kaum noch spüren kann, und so richtig ankommen kann sie auch nicht. Dies ändert sich, als sie auf das Schicksal Abelkes stößt und wie elektrisiert nachzuforschen beginnt. Wer war diese Frau und wieso fühlt sie sich ihr so verbunden, fühlt deren Schmerz tief im eigenen Fleisch pochen, wie ein leises Echo?

Jarka Kubsova verknüpft Natur und Mensch in atmosphärischen Bildern, die mein Nature Writing-Herz höher schlagen ließen, Biografie mit Fiktion, Vergangenheit mit Gegenwart, erzählt von Freundschaft und Stärke, aber auch von Unrecht und Missgunst, der systematischen Auslöschung von Frauenbiografien in unserer Historie. Zwei Frauen, zwei Erzählstränge, die sehr unterschiedliches Identifikationspotenzial boten und mich nicht gleichermaßen überzeugen konnten. Da ist die unglaublich stark skizzierte, faszinierende Abelke, die sich mit größter Würde durch ein entbehrungsreiches Leben gekämpft hat. Großes Kino! Aber Britta hat es mir nicht leicht gemacht mit ihren Sorgen, die mir blass erschienen im Vergleich zu Abelkes, fast albern, unbequem vielleicht, doch mit Netz und doppeltem Boden gesichert. Vielleicht ist mir Britta zu nah und dann wieder zu fremd, während Abelkes Haltung mich stark berührt und beeindruckt hat.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Strudel der Emotionen

Meine Männer
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Norwegen, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die junge Brynhild wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. In dem schönen Mädchen mit den strahlend blauen Augen brodelt eine kaum zu bändigende Leidenschaft, die ...

Norwegen, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die junge Brynhild wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. In dem schönen Mädchen mit den strahlend blauen Augen brodelt eine kaum zu bändigende Leidenschaft, die glühende Sehnsucht nach der Liebe eines Mannes. Ihre Anstellung als Magd auf einem Bauernhof und die Liaison mit dem Erben endet tief traumatisch und sät einen zerstörerischen Keim in der 17jährigen, den sie nicht mehr loswerden wird. Einer Flucht gleich verschlägt es Brynhild nach Amerika, das Land der vielen Möglichkeiten, sie heiratet einen guten Mann, baut sich eine Familie auf, kann den Schein des bürgerlichen Lebens auch für sich selbst wahren, zu Beginn. Doch das dunkle Wesen in Bella, wie sie sich jetzt nennt, lässt sich nicht fesseln, zu stark wuchert bereits die feste Gewissheit in ihrem Inneren, unzulänglich zu sein und wahrer Liebe, echten Glücks nicht wert. „Bedingungslose Liebe existierte nicht. Alles hatte Forderungen und Grenzen, alles hatte Formen, die irgendwann barsten und brachen (…) und jetzt wartete Bella auf das Zurückweichen von allem anderen, den unsichtbaren Verrat, auf Mads' eigentliches Gesicht.“ (S. 75) Kinder sterben, das war damals nicht unüblich, dann sterben die Männer in ihrem Umfeld. Erst Mads, dann auch Peder, Ehemann Nr. 2. Über Kontaktanzeigen finden sich immer neue Männer, die bereit sind, all ihr Hab und Gut gleich mitzubringen, gutgläubige Männer, die lieben und vertrauen möchten - und Bella möchte es ja auch, sie glaubt ganz fest daran, dieses mal wird es klappen - und ihr Verderben in den Armen einer zutiefst gebrochenen Frau finden.

Was für ein Buch, was für eine übersprudelnde, pulsierende Sprache, welch eine literarische Entdeckung! Victoria Kielland hat mit „Meine Männer“ ein großes Highlight für mich vorgelegt und nicht nur für mich. Ausgezeichnet mit verschiedenen norwegischen Preisen hat der Roman seinen Weg in die Welt bereits gefunden, der Tropen Verlag hat ihn nicht weniger preisverdächtig von Elke Ranzinger ins Deutsche übersetzen lassen. Lest dieses Buch, wenn ihr euch von der klassischen Erzählform lösen und auf etwas Unkonventionelles einlassen, in einer sinnlich-poetischen Sprache verlieren mögt, die vieles andeutet und der eigenen Phantasie überlässt. Taucht tief ein in einen Strudel der Emotionen, in die aufgewühlte Psyche der „Schwarzen Witwe“, Amerikas erster Serienmörderin.

„Da saß Belle mit ihren winzigen Bewegungen, - ich sehne mich danach, dich kennenzulernen. Ein Schaudern durchfuhr sie. Mal um Mal glitt die Zunge über einen neuen Umschlag, Zittern, das Stück flehende Haut, das sich nur an sie lehnen wollte. Die Zunge leckte den letzten Rand, sie spürte in sich Gottes Licht, das schwache Wogen, für das es keine Worte gab. Die Wahrheit war stark wie die Lüge, sie wusste nicht mehr, wo das eine begann und das andere aufhörte, das Gefühl war jedes Mal gleich heftig, die Wärme in der Brust, ihre Sätze auf dem Papier, der Beckenkamm am Hüftgelenk, - es gibt keine glücklichere Frau als mich jetzt.“ S.157

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