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Veröffentlicht am 11.10.2017

Spannendes Psychodrama mit authentischen Charakteren über Einsamkeit, Schuld, Vergebung und der Auseinandersetzung mit sich selbst

Die Stille unter dem Eis
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Die rast- und ruhelose Anna Richards ist begeisterte Kletterin und hat bereits so manchen Gletscher erklommen. In Alaska begegnet sie dem Fischer Kyle McAllin, der die Tramperin in seinem Pickup auf dem ...

Die rast- und ruhelose Anna Richards ist begeisterte Kletterin und hat bereits so manchen Gletscher erklommen. In Alaska begegnet sie dem Fischer Kyle McAllin, der die Tramperin in seinem Pickup auf dem Weg nach Süden mitnimmt. Die beiden, die sich bisher mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen haben, verlieben sich ineinander und entscheiden sich dafür, neun Monate auf der unbewohnten Insel Hibler Rock zu verbringen und dort als Leuchtturmwärter zu arbeiten.

Bereits in der ersten Nacht nach der Ankunft geht alles schief, als ihr Boot mit sämtlichen Vorräten und persönlichen Gegenständen sinkt und auch der Motor des Bootes daraufhin defekt ist. Kyle schafft es jedoch, einen alten Außenbordmotor aus einem Schuppen wieder flott zu machen, so dass sie sich mühsam auf den Weg in die nächstgelegene Stadt machen, um von ihrem Ersparten ein wenig Kleidung, Lebensmittel und Wasser zu kaufen. Anschließend begeben sie sich voller Elan daran, den seit 1978 unbewohnten Leuchtturm für sich einzurichten, einen Verschlag für Feuerholz und ein Gewächshaus zu bauen, damit sie möglichst autark auf der Insel leben können, denn im Winter wird durch den Wind und starken Wellengang keine Möglichkeit mehr bestehen, auf das Festland zu gelangen.

Das Paar, das sich noch nicht lange kennt, gelangt bald körperlich und emotional an seine Grenzen und merken, dass jeder für sich Geheimnisse verbirgt, die er dem anderen nicht Preis geben möchte und dass sie den Aufenthalt auf der Insel und die Einsamkeit nutzen, um vor der Vergangenheit wegzulaufen und sich zu verstecken.

Der Roman in der Ich-Form aus der Sicht von Anna geschrieben und vermittelt eine durchweg melancholische Stimmung. Der Schreibstil der Autorin hat mich an die Romane von Lucy Clarke erinnert, deren Bücher auch immer (traurige) Schicksale von jungen Frauen zum Thema haben.

Anna und Kyle sind beide Abenteurer und Einzelgänger, die in der Vergangenheit etwas erlebt haben, das sie nicht ganz verarbeitet haben, vor dem sie weglaufen und über das sie mit dem anderen nicht reden möchten. Als Paar ziehen sie sich gemeinsam auf die Insel zurück, halten sich aber gegenseitig auf Distanz und gehen dort getrennter Wege oder üben Kritik am anderen.
Während Anna mit dem mangelnden Komfort gut zurecht kommt, ist es vor allem Kyle, der das einsame Dasein nicht erträgt. Nach einem Vorfall auf dem Meer kehrt Kyle nicht mehr auf die Insel zurück und Anna ist ohne zu wissen weshalb, auf sich allein gestellt.

"Die Stille unter dem Eis" ist ein leises, aber durchweg spannendes Psychodrama, das von zwei Menschen handelt, die beide mit einem unverarbeiteten Trauma leben, sich zufällig begegnen und zusammentun. Während man bei Anna durch ihre Erinnerungen in Rückblenden erfährt, woran sie leidet, ist der Leser so wie Anna auch im Unklaren, was mit Kyle los ist. Darüber hinaus ist es spannend zu erfahren, welche Verbindung es zu dem letzten Leuchtturmwärter William Harris gibt, auf den sie im Leuchtturm Hinweise finden und der im Jahr 1978 spurlos verschwunden ist.

Es ist ein atmosphärischer Roman, bei dem man sich unmittelbar nach Alaska und Hibler Rock versetzt fühlt, die Kälte des Windes und die raue See spürt, eine Geschichte mit authentischen Charakteren über Einsamkeit, Schuld, Vergebung und der Auseinandersetzung mit sich selbst.

Veröffentlicht am 09.10.2017

Ein Wintermärchen über eine Reise in die Vergangenheit und die Kraft des Weihnachtszaubers

Der Weihnachtswald
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Eva ist Anfang 30, Single, und arbeitet als Rechtsanwältin in Frankfurt. Auch dieses Weihnachten fährt sie wie jedes Jahr zu ihrer Großmutter Anna nach München, um dort die Feiertage zu verbringen. Als ...

Eva ist Anfang 30, Single, und arbeitet als Rechtsanwältin in Frankfurt. Auch dieses Weihnachten fährt sie wie jedes Jahr zu ihrer Großmutter Anna nach München, um dort die Feiertage zu verbringen. Als Vollwaise ist Eva bei Anna aufgewachsen, weshalb sie viele Erinnerungen mit dem staatlichen Anwesen dort verbindet.

Eva ist eine sehr unterkühlte Person, die sich allein für ihre Karriere zu interessieren scheint und sich wenig um ihre Mitmenschen kümmert. Sie ist deshalb auch wenig begeistert, dass sie in ihrer Heimat auf ihre Jugendliebe Philipp trifft, der nach der Trennung von seiner Freundin nach München zurückgekehrt ist, und ihre sozial engagierte Großmutter an Heiligabend auch noch ein fremdes Waisenkind eingeladen hat.

Als das verstörte Mädchen, das sich in Gegenwart von Eva nicht willkommen fühlt, im Schneesturm verschwindet und sich Eva und Philipp auf die Suche nach ihr begeben, werden sie unvermittelt ins Jahr 1931 versetzt und treffen auf die Urahnen von Eva...

Beim Lesen des Klappentextes dachte ich noch, dass es sich bei der Reise in die Vergangenheit um eine Reise im übertragenen Sinn handelt, aber Eva, Philipp und das Waisenkind Antonie reisen tatsächlich 85 Jahre zurück in die Vergangenheit.
Aufgrund ihrer äußeren Ähnlichkeit wird Eva von ihrer Familie für die Cousine Sophie ihrer Urgroßmutter Katharina gehalten, weshalb sie gastfreundlich von der Familie Koffler aufgenommen werden.
Eva und Philipp versuchen dort nicht weiter als Menschen aus der Zukunft aufzufallen und wisse nicht, wie sie wieder in ihre Zeit zurückkehren können. Aus Angst, die Zukunft zu verändern, verhalten sie such möglichst passiv, fragen sich jedoch, ob der Hintergrund ihres Aufenthalts im Jahr 1931 eine Mission sein könnte, die sie zu erfüllen haben und kommen sich nach den Jahren der Trennung emotional näher.

"Der Weihnachtswald" ist ein magisches Wintermärchen, das sich wunderbar für ein Adventswochenende eignet, um sich auf das Weihnachtsfest einzustimmen, kann aber auch unabhängig von den Feiertagen im Winter gelesen werden, da Weihnachten als solches nicht im Vordergrund steht, sondern nur den Rahmen für die Handlung bietet.

Eva erinnert ein bisschen an Charles Dickens' Mr Scrooge, da sie weder Weihnachten noch Kinder mag. Durch die Riese in die Vergangenheit und die Sorgen, die sich dort um ihre 10-jährige Großmutter machen muss, wird sie weicher und emotionaler und ist nicht mehr so kalt und unnahbar.

Der Roman ist eine Mischung aus Persönlichkeitsentwicklung, (vorhersehbarer) Liebesgeschichte und Familienroman, der den Leser vom Zauber der Weihnacht träumen lässt und den Leser bis zum Ende gespannt weiterlesen lässt, wie Eva, Philipp und Antonie ihr Abenteuer meistern und wieder in die Gegenwart gelangen.

Da "Der Weihnachtswald" als "Wintermärchen" betitelt ist, ist es auch verzeihlich, dass es für das Phänomen der Zeitreise am Ende keine logische Erklärung gibt.

Veröffentlicht am 07.10.2017

Sehr pointierte, eindringliche Beschreibung der Gedankenwelt einer Magersüchtigen, doch inhaltlich zu kurz gefasst

Tage ohne Hunger
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Laure ist 19 Jahre alt und begibt sich freiwillig in eine Akutklinik, als sie mit 175 cm 36 Kilogramm wiegt und ihre Körpertemperatur auf 35 °C gesunken ist und sie nur noch Kälte spürt, die sie buchstäblich ...

Laure ist 19 Jahre alt und begibt sich freiwillig in eine Akutklinik, als sie mit 175 cm 36 Kilogramm wiegt und ihre Körpertemperatur auf 35 °C gesunken ist und sie nur noch Kälte spürt, die sie buchstäblich von innen auffrisst. Sie bezeichnet sich selbst als "ein Sack Knochen auf einem Krankenhausbett", spürt was die Leute über sie denken. Sie, die aussieht wir "eine auseinandergebogene Büroklammer, wie ein Drahtbügel aus der Reinigung, wie eine Fernsehantenne nach einem Unwetter".

In ungeschönten Worten beschreibt Delphine de Vigan den Zustand und das Schicksal einer Magersüchtigen, die erkennt, dass es so nicht mehr weitergeht, es alleine aber auch nicht schafft, ihrem Körper Nahrung zu geben.

Mit Laure erlebt man den Klinikalltag mit, der für sie überwiegend aus stricken, essen und schlafen besteht, wobei sie auch Besuch von Freunden und ihrer Familie empfangen darf. Darüber hinaus hat sie vereinzelte Kontakte zu Mitpatienten, die alle wegen Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts in Behandlung sind und es insofern keine reine Station von Essgestörten ist.

Gründe für Magersucht sind vielfältig und nicht nur auf ein verqueres Schönheitsideal oder eine Körperschemastörung zurückzuführen. Bei Laure ist es ein Gefühl von Macht, das sie durch die Magersucht über ihren Körper erhält. Die Angst vor Kontrollverlust mag dem Elternhaus geschuldet und ursächlich für ihre Erkrankung sein: ihre Mutter ist psychisch krank und suizid gefährdet und war nie in der Lage sich um ihre Kinder zu kümmern. Der Vater, der dann das Sorgerecht bekam, ist cholerisch und wie die Mutter dem Alkohol nicht abgeneigt.
Um diesem Elternhaus zu entfliehen, möchte sie verschwinden und hört auf zu essen.

Erst als es fast zu spät ist und selbst Ärzte erstaunt sind, dass Laure mit diesem dramatischen Untergewicht überhaupt noch bei Bewusstsein ist, lässt sie sich auf eine Therapie bei Dr. Brunel ein, zu dem sie eine regelrecht schwärmerische - fas schon intime - Beziehung aufbaut. In ihren Augen ist er der einzige, der sie versteht. Laure will leben und nimmt die Regeln der Klinik deshalb schon ab der Aufnahme bedingungslos an. Sie wehrt sich weder gegen die Magensonde, noch gegen feste Mahlzeiten.

Mich hat erstaunt, wie brav sie sich die Ernährungspumpe in die Nase steckt, sie ganz allein auf ihrem Zimmer ihre drei Mahlzeiten einnehmen darf und sie erst nach acht Kilogramm Gewichtszunahme beginnt, ihren neuen Körper zu hinterfragen.
Auch gab es in der Klinik bis auf die vereinzelten Gespräche mit Dr. Brunel keine therapeutischen Maßnahmen, so dass mir der Alltag in der Klinik und der Heilungsprozess stark verkürzt und zu einfach erschienen. Wie ihr Dr. Brunel geholfen hat, blieb unklar.

Dafür kann man sich umso besser in Laure hineinversetzen, da sich ihre Geschichte ähnlich wie ein Tagebuch liest, als wäre es ein autobiographischer Roman. Laures Zweifel und der innere Kampf gegen eine weiter Zunahme, die über das reine Überleben hinausgeht, sind sehr realistisch und nachvollziehbar dargestellt. Folgerichtig zeigt die Autorin auf, warum Betroffene wie Laure an der selbstzerstörerischen Erkrankung festhalten und wie schwierig es von Außen ist, einen Zugang zu den Betroffenen zu bekommen, um die Anorexia nervosa gemeinsam bekämpfen zu können.

Es ist ein Buch, das sowohl Angehörige als auch Betroffene der Erkrankung lesen können, da es in "Tage ohne Hunger" in erster Linie um die innere Haltung von Laure geht und nicht darum zu beschrieben, welche Tricks angewendet werden können, um eine Zunahme zu vermeiden bzw. die Waage zu beschummeln. Auch wenn dieses Thema und weitere Klischees über Magersüchtige wie kochen für andere zumindest kurz angerissen werden.

Es ist ein sachlich geschriebenes, ehrliches Buch über eine psychische Erkrankung, für die von Außenstehenden wenig Verständnis aufgebracht wird, das aber aufgrund seiner Kürze lange nicht alle Aspekte der Magersucht umschreibt und schon gar keinen therapeutischen Heilungsansatz aufzeigt. Mir war der Weg von Laure ein bisschen zu einfach beschrieben, der Genesungsprozess blieb etwas wage, was vor allem der Kürze des Romans geschuldet ist. Insofern bekommt das Buch von mir volle Punktzahl für den sehr pointierten Schreibstil der Autorin, aber Punktabzug für den mir insgesamt zu kurz geratenen Roman für dieses schwierige und leidvolle Thema.

Veröffentlicht am 06.10.2017

Jugendroman über die erste (unglückliche) Liebe, überraschend anders aus der Perspektive des Jungen

Unsere verlorenen Herzen
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Henry Page ist 17 Jahre alt und in Sachen Liebe im Gegensatz zu seinen Mitschülern ein Spätzünder. Das ändert sich, als Grace Town in seine Klasse kommt. Obwohl - oder gerade weil - sie so anders ist, ...

Henry Page ist 17 Jahre alt und in Sachen Liebe im Gegensatz zu seinen Mitschülern ein Spätzünder. Das ändert sich, als Grace Town in seine Klasse kommt. Obwohl - oder gerade weil - sie so anders ist, Jungsklamotten trägt, ihrem Äußeren wenig Beachtung schenkt, verschlossen ist und an einem Stock geht, fühlt sich Henry magisch von ihr angezogen. Beide engagieren sie sich mit mehr (Henry) oder weniger (Grace) Engagement in der Schülerzeitung und so freunden sie sich an und verbringen auch nach der Schule noch Zeit miteinander.
Henry erfährt von ihrer Vergangenheit und bekommt damit auch die Erklärung, warum sie sich so kalt und unnahbar verhält. Er gibt jedoch nicht auf, verliebt sich in sie, da er auch die Grace in ihr erkennt, die sie früher einmal war. Er möchte ihr helfen, möchte, dass sie ihr Trauma überwindet und vor allem, dass sie für ihn so fühlt wie er für sie.
Mit der Zeit öffnet sie sich, lässt ihn an sich heran, allerdings nur bei Partys, wenn beide angetrunken sind. Schon am nächsten Tag und im nüchternen Zustand hat sie die Vergangenheit wieder eingeholt.

"Unsere verlorenen Herzen" ist im Gegensatz zu vielen anderen Young-Adult-Romanen aus der Perspektive des Jungen geschrieben und nicht aus Sicht des Mädchens oder abwechselnd aus beiden Perspektiven. Er ist ein ganz normaler, durchschnittlich guter Schüler, der die erste Liebe erlebt. Auch wenn ich meine Zweifel hatte, ob es bei ihm tatsächlich Liebe ist, was er für Grace empfindet oder ob es einfach nur die Faszination von ihr ist, da sie so geheimnisvoll und durch ihre Behinderung hilfsbedürftig wirkt und seine Neugier bzw. seinen Beschützerinstinkt weckte.

Grace hat nicht nur ein Hinkebein, das ihre Verletzung für alle nach Außen sichtbar macht, sondern auch eine verletzte Seele, ein Gefühl der Trauer, das sie permanent umgibt und das sie auch im Umgang mit Henry nicht ablegen kann. Ihre Vergangenheit steht bei jeder Begegnung zwischen ihnen, gerade wenn sie sich näher kommen, und vor allem in Henry wird der Wunsch nach einer normalen Liebesbeziehung immer lauter.

"Unsere verlorenen Herzen" ist eine tragische Teenagerliebe, bei der man sich bis zum Ende fragt, ob Grace doch noch irgendwie geheilt werden kann, Hilfe zulässt, um ihr Trauma zu verarbeiten und damit der Weg frei ist für eine Beziehung mit Henry.

Anders als Henry blieb mir die bewusst geisterhaft wirkende Grace in weiten Teilen des Romans fremd. Man weiß zwar, was sie erlebt hat, aber die weiteren Umstände ihres Lebens blieben lange wage. Der Roman zog sich im Mittelteil etwas, da nicht viel passierte und ich eine Entwicklung der Charaktere vermisste. Ich hatte lange den Eindruck, dass Henry und Grace nur auf der Stelle getreten sind.
Dies änderte sie allerdings im letzten Drittel des Romans, als Grace nicht mehr so gegenwärtig war und Henry - auch auf der Druck der Schule und seiner Eltern - wieder aktiver am Leben teilnahm. Dann wurden auch die Motive der therapiebedürftigen Grace klarer und nachvollziehbar, weshalb Henry für sie nicht mehr als nur die zweite Wahl war, obwohl er alles für sie getan hätte.

"Weil du Sternenstaub verdienst, ich dir aber nur Staub geben kann."

Sätze wie diese zeigen, wie der Romantiker Henry so unglücklich in die selbstzerstörerische Grace verliebt ist und so ist auch das Ende des Romans kein klassisches Happy End, aber für diese Geschichte passend, ungekünstelt und realitätsnah.

Veröffentlicht am 04.10.2017

Pessimistisches Zukunftsszenario unserer Gesellschaft aus der Perspektive eines angepassten Mitläufers

Die Optimierer
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2052 gibt es weder Deutschland noch die EU mehr, sondern die Bundesrepublik Europa, zu der sich die wohlhabenden mitteleuropäischen Staaten zusammengeschlossen haben. Die soziale Marktwirtschaft wurde ...

2052 gibt es weder Deutschland noch die EU mehr, sondern die Bundesrepublik Europa, zu der sich die wohlhabenden mitteleuropäischen Staaten zusammengeschlossen haben. Die soziale Marktwirtschaft wurde durch die sogenannte Optimalwohlökonomie abgeschafft. Das System wird dominiert von der Agentur für Lebensberatung, die für jeden Bürger seinen Fähigkeiten und persönlichen Eigenschaften entsprechend die passende Tätigkeit findet. "Jeder an seinem Platz" - so lautet auch die allgegenwärtige Grußformel.
Da bereits viele Tätigkeiten von Robotern übernommen werden, ist nicht mehr jeder Mensch nützlich. Für diese ist die Kontemplation vorgesehen, das sozialverträgliche Nichtstun.

Samson Freitag lebt in München und ist Lebensberater, der an das System glaubt. Für ihn ist seine Arbeit seine Berufung und er glaubt fest daran, für jeden Menschen den richtigen Platz in der Gesellschaft zu finden. Durch sogenannte Korrekturvermerke, die der Verbesserung des Systems dienen, sammelt er darüber hinaus Sozialpunkte, um sein Ziel der nächsten Beförderung zu erreichen.

Doch plötzlich gerät sein angepasstes und überkorrektes Leben aus den Fugen, als seine Freundin ihn verlässt und seine Eltern bei der Straftat erwischt werden, tierisches Fleisch statt dem umweltfreundlichen Synthfleisch zu konsumieren. Auf einen Schlag verliert Samson hunderte von Sozialpunkte und auch seine letzte Lebensberatung wird ihm zum Verhängnis. In einer fortwährenden Abwärtsspirale fällt er aus dem System...

"Die Optimierer" ist ein Roman, der knapp 40 Jahre in der Zukunft spielt und eine Dystopie, ein pessimistisches Szenario unserer Gesellschaft darstellt.
Die Geschichte ist aus der Perspektive von Samson geschrieben, der zunächst nicht unsympathisch wirkt, sondern vergleichbar mit einem spießigen deutschen Beamten ist. Im weiteren Verlauf wird jedoch klar, dass es Samson weniger um eine Verbesserung der Gesellschaft oder um eine Optimierung des Systems geht, sondern dass er nur sein egoistisches Ziel der 1000 Sozialpunkte verfolgt. Mit seinem Ich-bezogenen Verhalten hat er sich wenig Freunde gemacht, so dass er bei seinem Absturz ganz allein dasteht. Er stellt einen systemkonformen Mitläufer dar, der ohne selbst darüber nachzudenken, alle neuen Gesetze und Regelungen akzeptiert. Seine Eltern und seine Freundin Melanie, die mit einer robotergesteuerten Welt, in der der einzelne Mensch wertlos und ersetzbar ist, nichts anfangen können und dagegen rebellieren, kann Samson nicht verstehen.

Der Roman ist zwar durch die eingeführten neuen Techniken, die das Leben der Menschen subjektiv verbessern science-fiction-artig, aber entwirft nicht so ein utopisches Szenario, dass die Welt von morgen, wie sie geschildert wird, als unrealistisch erscheint. Anders als in anderen Dystopien ist der Protagonist kein Held, der gegen ein herrschendes System einer düsteren Zukunftsaussicht ankämpft, sondern es unterstützt und nicht weiter hinterfragt. Auch als er aus dem Raster fällt, zweifelt er die unmenschliche Gesellschaft nicht an, sondern versucht wieder ein Teil von ihr zu werden.

Mir hat die Idee hinter dem Roman, die Perspektive einer perfekten Gesellschaft, optimiert von Robotern und Rund-um-die-Uhr-Überwachung, gut gefallen. Die Beschreibung der neuen Welt wirkte zu Beginn des Romans etwas unbeholfen, da auf wenigen Seiten viele Erklärungen durch beispielsweise Radiowerbung erfolgte, statt sie die Neuerungen fließend in die Erzählung einzubauen. Nach dieser Einleitung ließ sich der Roman - bis auf die Träume von Samson, die ich nicht so richtig zu deuten wusste - flüssig lesen.
Das Ende des Absturzes von Samson war allerdings etwas verworren, für mich zu verkürzt geschrieben.

Dennoch vermittelt der Roman Kritik daran, was passiert, wenn man sich sklavisch an ein System hält, mit der Masse mitschwimmt und die negativen Folgen der vollkommenen Optimierung ohne staatsfreien Raum nicht mehr wahrnimmt oder gar dagegen ankämpft.