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Veröffentlicht am 11.08.2024

Viel Leid und viel Geisterzauber

So gehn wir denn hinab
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„Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ hat mich schwer beeindruckt und ich war mir sicher, dass dieses Buch mindestens so umwerfend sein müsste. Es ist auf jeden Fall intensiv und atmosphärisch, aber ...

„Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ hat mich schwer beeindruckt und ich war mir sicher, dass dieses Buch mindestens so umwerfend sein müsste. Es ist auf jeden Fall intensiv und atmosphärisch, aber für meinen Geschmack ein bisschen viel davon.

Annis ist ein Sklavenmädchen, das zusammen mit ihrer Mutter in einem Herrenhaus Sklavendienste verrichtet und ein trauriges Sklavendasein führt, voller Schikanen und Grausamkeiten. Sie werden getrennt, werden verkauft, gequält und gedemütigt. Jesmyn Ward versteht es meisterhaft, höchst plastisch Leid zu schildern.

Allein und hungrig in einem fremden Haus hält Annis nur noch die Erinnerung an die Liebe ihrer Mutter aufrecht und die Erinnerungen an deren Geschichten von Oma Aza, die einst eine afrikanische Kriegerin war, bevor sie verschleppt wurde und ihrer Familie die Versklavung vererbte. In höchster Verzweiflung kann sie sogar deren Geist anrufen, oder ist es ein anderer Geist, der die Gestalt der Großmutter angenommen hat?

An dieser Stelle wird das Buch für mich schwierig. Es hat natürlich einen mystischen Charme, wenn Annis von Elementargeistern aus der Vergangenheit begleitet wird, die eine Verbindung zu ihren Ahnen bilden, ihr sogar beistehen und gleichzeitig Zeugen von Leid durch Jahrhunderte sind. Nur öffnet das auch Tür und Tor für überbordende Schlenker, die mir dann deutlich zu viel wurden. Irgendwann wird Annis nur noch von allerlei Elementarem durchgeschüttelt.

„Ich will schon aufstehen und winken, mich auf den Rückweg in die wohlbekannte Hölle machen, doch da rauscht ein Strom durch meine Eingeweide, durch die weichen Körperteile, die nach meinem Tod als Erstes verfaulen werden. Brausend steigt er hoch in meinen Brustkorb, bis in den Schlauch meiner Kehle, bis in meinen Kopf. Auch hier ist das WASSER.“

So etwas beschreibt kunstvoll und plastisch den Vorgang des Ertrinkens, natürlich, beeindruckt wahrscheinlich auch viele, nur mein Geschmack ist das nicht.

Diese Geschichte verliert im letzten Drittel des Buches die Bodenhaftung, erstickt eine schöne Idee in pathetischem Geisterzauber. Jammerschade.

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Veröffentlicht am 05.08.2024

Hoch interessant und ausführlich

Das Wesen des Lebens
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Dieses Buch ist auf jeden Fall wunderbar erzählt und informativ. Von der Stellerschen Seekuh hatte ich noch nie gehört. Hier ist man dabei, wie sie entdeckt und direkt ausgerottet wird und sitzt in der ...

Dieses Buch ist auf jeden Fall wunderbar erzählt und informativ. Von der Stellerschen Seekuh hatte ich noch nie gehört. Hier ist man dabei, wie sie entdeckt und direkt ausgerottet wird und sitzt in der ersten Reihe.

Es ist 1741 als Kapitän Vitus Bering den „Naturforscher, Theologen und seltsamen Kauz“ Georg Wilhelm Steller engagiert, seine neuste Reise ins Nordpolarmeer zu begleiten. Von Kamtschatka ins Unbekannte, um neue Ufer zu erforschen und zu kartographieren. Steller ist ein Besessener und entdeckt ein riesiges Tier, das niemand je gesehen hat. Man kann es leicht töten, aber nur schwer bergen. Nach ein paar hundert Fehlversuchen können die Entdecker feststellen, dass die Stellersche Seekuh höchst schmackhaft, ihr Fett höchst brauchbar und ihr Vorkommen unbegrenzt ist. Hundert Jahre später gibt es sie nicht mehr, dafür jagt man jetzt Riesenalke, die sind auch lecker.

Welche Auswirkung können menschliche Obsessionen auf die Natur haben, was bewirkt Ignoranz und Borniertheit und werden wir je lernen, achtsam mit unserer Umwelt umzugehen? Diesen Fragen geht man hier sehr anschaulich nach und serviert hübsch zubereitete historische Häppchen. In wunderbarer Sprache, mit einem leicht süffisanten Unterton legt Iida Turpeinen alle Fakten auf den Tisch, macht lang vergessene Forscher und Abenteurer lebendig. Das Lesen könnte ein großer Spaß sein, wäre es nicht alles so unglaublich ausführlich. Bis etwa zur Hälfte des Buches habe ich mich noch an tausenderlei absonderlichen historischen Details erfreut. Aber dann wünscht man sich doch irgendwann, die Autorin würde mal zum Punkt kommen. Stattdessen wechselt sie das Jahrhundert und wartet mit neuerlichen detaillierten Berichten auf.

Dies ist ein interessantes, unglaublich akribisch recherchiertes Buch zu einem wichtigen Thema, toll erzählt nur leider viel zu ausführlich. Ich habe viel gelernt, aber auch viel überblättert.

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Veröffentlicht am 30.07.2024

allerlei Wiener Geschichten

Der Modesalon des Glücks
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Vor ewigen Zeiten habe ich Eva Ibbotson entdeckt und mochte ihre Bücher sehr. Inzwischen gelten sie wohl als Klassiker und werden vom Kampa Verlag neu aufgelegt. Ich war sehr neugierig, wie ich das Lesen ...

Vor ewigen Zeiten habe ich Eva Ibbotson entdeckt und mochte ihre Bücher sehr. Inzwischen gelten sie wohl als Klassiker und werden vom Kampa Verlag neu aufgelegt. Ich war sehr neugierig, wie ich das Lesen jetzt empfinde, wo sich mein Buchgeschmack doch etwas geändert hat.

Schon auf den ersten Seiten wusste ich wieder, was mir damals so gefallen hat. Eva Ibbotson macht alte Zeiten lebendig und zieht einen hinein. Wir sind in Wien 1911 in Susannas Modesalon. Da trifft sich die Wiener Gesellschaft, vielleicht nicht die allerhöchsten Adelskreise, aber schon jeder, der auf sich hält und ein bisschen Geld hat, ein Hauch Boheme, gestandene Bürger und auch die, die mal Geld hatten gehen noch immer zu Susanna. Die Gräfin Metz zum Beispiel zahlt ihre neue Garderobe mit fragwürdigen Antiquitäten und strapaziert Susannas Geduld.

Hier hat jede Figur eine Geschichte und es kommen wirklich viele zu Susanna, die auch selbst einiges durchstehen musste, bevor sie die wurde, die sie jetzt ist. Auch das ist typisch für Ibbotsons Bücher. Sie spinnt viele Geschichten in ihre Geschichte, die alle interessant sind und ein buntes Gesamtbild mit ganz viel Zeitkolorit ergeben.

Vielleicht ist Susanna die Spur zu schön und begabt, die Spur zu gutmütig und einen Hauch zu hilfsbereit. Das sind aber dann tatsächlich die einzigen Plattitüden, die man in diesem Buch findet. Hier geht es um Menschen mit Ecken und Kanten, um Schicksale und Kuriositäten, und um Wien ohne Kitsch oder Praterseligkeit.

Man braucht ein bisschen Geduld für dieses Buch, aber wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, bekommt man einen wunderbaren historischen Roman, der sich leicht liest, ohne seicht zu werden. Ich habe es sehr gerne gelesen.

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Veröffentlicht am 28.07.2024

Manchmal ist weniger mehr

Anna O.
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Anfangs hat mir das Buch gut gefallen. Die Geschichte ist finster, originell und ein bisschen spooky.

Anna Ogilvy liegt seit vier Jahren im Koma. Sie soll zwei Menschen getötet haben, während sie geschlafwandelt ...

Anfangs hat mir das Buch gut gefallen. Die Geschichte ist finster, originell und ein bisschen spooky.

Anna Ogilvy liegt seit vier Jahren im Koma. Sie soll zwei Menschen getötet haben, während sie geschlafwandelt ist. Oder war sie wach? Warum schläft sie jetzt und wacht nicht auf? Der Fall ist ein Rätsel, das die Medien seit Jahren beschäftigt, Anna O. ein Mysterium, Dornröschen mit blutiger Vergangenheit. Benjamin Prince, forensischer Psychologe, soll Licht in den Fall bringen.

Unterschiedliche Protagonisten erzählen uns ihren Blick auf die Ereignisse und werden auch von unterschiedlichen Sprechern vorgetragen. Leider passt die männliche Stimme überhaupt nicht gut zur Figur von Ben, der den Hauptteil erzählt und den attraktiven Helden abgeben soll. Der sonore Märchenerzählerton nimmt ihm einiges an Charme.

Die Geschichte selbst ist verzwickt, rätselhaft, gemäßigt spannend und hat mir zu etwa zwei Dritteln gut gefallen. Dann holt sie aus zum großen Showdown, der ein Feuerwerk an falschen Fährten, vermeintlichen Klärungstheorien und überraschenden Wendungen abbrennt. Nach der zweiten hatte ich keine Lust mehr, es geht aber noch ewig weiter und braucht noch stundenlange Erklärungen, um das mittlerweile recht wackelige Logikgerüst zu stützen.

Dieses Buch hatte das Zeug zu einem originellen Thriller, hat sich aber gegen Ende verlaufen. Manchmal ist weniger mehr.

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Veröffentlicht am 22.07.2024

Ein sanftes Plädoyer für Achtsamkeit

Ein menschlicher Fehler
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Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mit diesem Buch warm wurde. Der Erzählstil ist nüchtern, genau wie Hae-Su, die vernünftig und sortiert von ihrem Leben, ihren Ängsten und ihrer Traurigkeit berichtet. ...

Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mit diesem Buch warm wurde. Der Erzählstil ist nüchtern, genau wie Hae-Su, die vernünftig und sortiert von ihrem Leben, ihren Ängsten und ihrer Traurigkeit berichtet. Auf den ersten Blick passt das nicht so recht zusammen.

Hae-Su ist seltsam. Sie traut sich nur im Dunklen aus dem Haus. Sie will nicht gesehen werden und mit niemandem sprechen. In ihrer Verzweiflung schreibt sie Briefe an all die Menschen, denen sie etwas zu sagen hätte, ihrem Exmann, ihrer ehemals besten Freundin, ihrem Ex-Arbeitgeber, allerlei Behörden oder auch ihrem Anwalt. Sie schreibt jede Menge Briefe, aber sie schickt sie nicht ab.
Als sie die kleine Se-I kennenlernt, geraten Dinge in Bewegung. Hae-Su hat plötzlich wieder eine Aufgabe. Eine verletzte Katze muss gerettet werden und Se-I scheint auch große Probleme zu haben.

Hier erfährt man in ganz kleinen Portionen, was Hae-Su zugestoßen ist. Eigentlich ist es keine große Sache. Eine unbedachte Bemerkung hatte üble Auswirkungen, nur muss man dann eben damit leben. Das ist nicht leicht, wenn das Gewissen schlägt.
Nach und nach wächst einem Han-Su dann doch ans Herz, wenn sie unbeholfen aber unbeirrt versucht, zu helfen. Das einsame Kind, die verletzte Katze und die traurige Frau bilden eine ganz eigene Gemeinschaft von Ausgestoßenen und zeigen uns, wie wichtig Toleranz und Beharrlichkeit sind.

Dieses Buch ist leise, aber eindringlich, ein sanftes Plädoyer für Achtsamkeit und zeigt, wie kleine Dinge große Wirkung haben können.

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