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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.07.2024

Manchmal ist weniger mehr

Anna O.
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Anfangs hat mir das Buch gut gefallen. Die Geschichte ist finster, originell und ein bisschen spooky.

Anna Ogilvy liegt seit vier Jahren im Koma. Sie soll zwei Menschen getötet haben, während sie geschlafwandelt ...

Anfangs hat mir das Buch gut gefallen. Die Geschichte ist finster, originell und ein bisschen spooky.

Anna Ogilvy liegt seit vier Jahren im Koma. Sie soll zwei Menschen getötet haben, während sie geschlafwandelt ist. Oder war sie wach? Warum schläft sie jetzt und wacht nicht auf? Der Fall ist ein Rätsel, das die Medien seit Jahren beschäftigt, Anna O. ein Mysterium, Dornröschen mit blutiger Vergangenheit. Benjamin Prince, forensischer Psychologe, soll Licht in den Fall bringen.

Unterschiedliche Protagonisten erzählen uns ihren Blick auf die Ereignisse und werden auch von unterschiedlichen Sprechern vorgetragen. Leider passt die männliche Stimme überhaupt nicht gut zur Figur von Ben, der den Hauptteil erzählt und den attraktiven Helden abgeben soll. Der sonore Märchenerzählerton nimmt ihm einiges an Charme.

Die Geschichte selbst ist verzwickt, rätselhaft, gemäßigt spannend und hat mir zu etwa zwei Dritteln gut gefallen. Dann holt sie aus zum großen Showdown, der ein Feuerwerk an falschen Fährten, vermeintlichen Klärungstheorien und überraschenden Wendungen abbrennt. Nach der zweiten hatte ich keine Lust mehr, es geht aber noch ewig weiter und braucht noch stundenlange Erklärungen, um das mittlerweile recht wackelige Logikgerüst zu stützen.

Dieses Buch hatte das Zeug zu einem originellen Thriller, hat sich aber gegen Ende verlaufen. Manchmal ist weniger mehr.

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Veröffentlicht am 22.07.2024

Ein sanftes Plädoyer für Achtsamkeit

Ein menschlicher Fehler
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Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mit diesem Buch warm wurde. Der Erzählstil ist nüchtern, genau wie Hae-Su, die vernünftig und sortiert von ihrem Leben, ihren Ängsten und ihrer Traurigkeit berichtet. ...

Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mit diesem Buch warm wurde. Der Erzählstil ist nüchtern, genau wie Hae-Su, die vernünftig und sortiert von ihrem Leben, ihren Ängsten und ihrer Traurigkeit berichtet. Auf den ersten Blick passt das nicht so recht zusammen.

Hae-Su ist seltsam. Sie traut sich nur im Dunklen aus dem Haus. Sie will nicht gesehen werden und mit niemandem sprechen. In ihrer Verzweiflung schreibt sie Briefe an all die Menschen, denen sie etwas zu sagen hätte, ihrem Exmann, ihrer ehemals besten Freundin, ihrem Ex-Arbeitgeber, allerlei Behörden oder auch ihrem Anwalt. Sie schreibt jede Menge Briefe, aber sie schickt sie nicht ab.
Als sie die kleine Se-I kennenlernt, geraten Dinge in Bewegung. Hae-Su hat plötzlich wieder eine Aufgabe. Eine verletzte Katze muss gerettet werden und Se-I scheint auch große Probleme zu haben.

Hier erfährt man in ganz kleinen Portionen, was Hae-Su zugestoßen ist. Eigentlich ist es keine große Sache. Eine unbedachte Bemerkung hatte üble Auswirkungen, nur muss man dann eben damit leben. Das ist nicht leicht, wenn das Gewissen schlägt.
Nach und nach wächst einem Han-Su dann doch ans Herz, wenn sie unbeholfen aber unbeirrt versucht, zu helfen. Das einsame Kind, die verletzte Katze und die traurige Frau bilden eine ganz eigene Gemeinschaft von Ausgestoßenen und zeigen uns, wie wichtig Toleranz und Beharrlichkeit sind.

Dieses Buch ist leise, aber eindringlich, ein sanftes Plädoyer für Achtsamkeit und zeigt, wie kleine Dinge große Wirkung haben können.

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Veröffentlicht am 21.07.2024

Schrecklich schön

Bleib
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Ich habe schon lange kein Buch mehr so aufgesogen, was abgefahrene Geschichte.

Da ist eine Frau im Ausnahmezustand. Eigentlich war sie mit ihrem Liebsten auf einem geheimen Wochenendtrip, von dem seine ...

Ich habe schon lange kein Buch mehr so aufgesogen, was abgefahrene Geschichte.

Da ist eine Frau im Ausnahmezustand. Eigentlich war sie mit ihrem Liebsten auf einem geheimen Wochenendtrip, von dem seine Ehefrau nichts ahnt, als er plötzlich verstirbt. Sie ist alleine mit dem Toten, bei dem sie offiziell gar nicht sein dürfte und allein mit dem Schock und der Trauer.

In Briefen an die Ehefrau versucht sie zu rechtfertigen, warum sie tat, was sie dann tut. Es ist nicht richtig, sogar unfair, übergriffig und grenzüberschreitend, trotzdem versteht man sie ganz und gar und leidet mit. Sie analysiert messerscharf, gnadenlos selbstkritisch, selbstironisch und so absolut treffend und erzählt dabei gleichzeitig ihre Liebesgeschichte, die mehr war als eine schnöde Affaire.

Eigentlich ist das eine ganz einfache Idee, dennoch so unglaublich schräg und unglaublich traurig. Eine total verrückte Ausnahmesituation, die immer absurder wird und trotzdem durch und durch plausibel präsentiert wird. Diese Frau dreht durch, aber man kann sie verstehen.

Der Stil ist umwerfend, eine geniale Mischung zwischen flapsig und poetisch, geht einem nahe, hat bei all der Trauer aber auch humorvolle Momente. Das Lesen macht Spaß, obwohl die Geschichte todtraurig ist.

Einen Hauch Empörung im Namen der Ehefrau hatte ich im Hinterkopf, aber sie macht deutlich, dass verzweifelte Situationen verzweifelte Maßnahmen erfordern.

Ich habe ein neues Lieblingsbuch erwischt, schrecklich, aber auch irgendwie schön, herzzerreißend, total verrückt und mit einer feinen Prise tröstlichem Kitsch.

Tolles Buch! Ich bin geflasht.

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Veröffentlicht am 14.07.2024

Ein Kunstwerk

Am Himmel die Flüsse
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Wer sind sie eigentlich, die Jesiden, von denen man immer mal wieder hört, die verfolgt werden, gehasst und vertrieben werden? Bei uns gehen solche Nachrichten beinahe unter in nahöstlichen Konflikten ...

Wer sind sie eigentlich, die Jesiden, von denen man immer mal wieder hört, die verfolgt werden, gehasst und vertrieben werden? Bei uns gehen solche Nachrichten beinahe unter in nahöstlichen Konflikten und allgegenwärtigen IS-Gräueltaten. Wenn man dieses Buch gelesen hat, hat man viel dazugelernt.

Es nähert sich von vier Seiten dem Thema an und verbindet sie elegant. Das Gilgamesch-Epos dient als Hinweis, genau wie ein kleiner Wassertropfen, der über Jahrhunderte hinweg das Geschehen verfolgt und in unterschiedlichsten Aggregatszuständen auf alle Protagonisten dieses Buches trifft. Er beobachtet, dieser Tropfen, urteilt nicht, ist dabei und verändert sich, um in anderer Gestalt wiederzukommen.

„Am Ufer des Tigris, damals zu Urzeiten“ war Ninive die größte und reichste Stadt der Welt. Ihr Herrscher, König Assurbanipal, wurde berühmt für seine Bibliothek und seine Grausamkeit.

Aus dieser Bibliothek soll das Gilgamesh-Epos stammen, von dem der kleine Arthur 1850 am Ufer der Themse noch nie gehört hatte, bis er eine alte Tonscherbe in die Hand bekam, die bei ihm eine Faszination auslöst, die sein ganzes Leben beeinflusst.

2014 hört die kleine Narin fasziniert den Geschichten ihrer Großmutter zu, die alle von Urzeiten handeln. Eine davon ähnelt sehr der biblischen Geschichte über die Sintflut, nur dass sie eben zu Urzeiten stattfand, genau wie die Geschichten des Gilgamesh. Gab es eine Sintflut lange vor DER Sintflut? Eziden haben keine Schrift und geben ihr Wissen nur mündlich weiter. Überprüfen kann man das nicht, man kann nur hören und staunen und fliehen, wenn wieder einmal diese schwer zugängliche Kultur als „Teufelsanbeter“ gebrandmarkt wird.

2018 mietet Zaleekhah ein Hausboot, um in London auf der Themse zu wohnen. Sie schlägt sich mit vielen Problemen herum und sucht Abstand von ihrem bisherigen Leben, außerdem ist sie Wasserforscherin, da liegt der Gedanke doch nahe.

All das verknüpft Elif Shafak zu einem ganz eigenen Epos, das poetisch und geheimnisvoll von dem Tropfen erzählt, der vielleicht das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Von einem Volk, das auch heute noch seine Legenden lebt und deshalb verfolgt wird, von Menschen, die wir mögen würden, würden wir uns die Mühe machen, sie zu verstehen.

Dieses Buch ist ein Kunstwerk, das leichtfüßig den Balanceakt zwischen uralten Legenden und dem heute schafft, das Augen öffnet und berührt.

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Veröffentlicht am 12.07.2024

Spannend, witzig und hoch aktuell

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Marc-Uwe Kling scheint ein Universalgenie zu sein. Thriller kann er also auch und würzt ihn mit seinem herrlich speziellen Humor. Ich habe mich sehr amüsiert, obwohl die Geschichte ganz und gar nicht witzig ...

Marc-Uwe Kling scheint ein Universalgenie zu sein. Thriller kann er also auch und würzt ihn mit seinem herrlich speziellen Humor. Ich habe mich sehr amüsiert, obwohl die Geschichte ganz und gar nicht witzig ist.

Ein Mädchen ist verschwunden. Lena ist 16 Jahre alt und kam nicht mehr nach Hause. Ihr Vater ist verzweifelt. Da taucht plötzlich ein verstörendes Video von ihrer Vergewaltigung auf und geht viral. Eine rechtsradikale Gruppe nutzt das für ihre Propaganda und hetzt gegen ausländische Vergewaltiger.

Kommissarin Yasira Saad vom BKA in Berlin muss nicht nur ein verschwundenes Mädchen suchen. Sie muss auch noch verhindern, dass eine rechte Empörungswelle eskaliert. Dabei geht ihr das Ganze besonders nah, hat sie doch selbst eine Tochter in dem Alter und reichlich persönliche Erfahrungen mit rassistischen Anfeindungen. Ich bin kein Krimifan und tue mich oft schwer mit Ermittlern, aber Yasira ist eine Figur, die man direkt mag. Sie ist lebendig, humorvoll, engagiert, dabei aber auch selbstkritisch. Köstlich, wie sie ständig versucht, sich selbst mit den Augen ihrer Tochter zu sehen. Als ob!

Und während man noch meint, es ginge um rechte Eskalation und Rassismus und denkt, gut, dass es mal jemand sagt, der ein breites Publikum anspricht, nimmt die Geschichte eine ganz andere Wendung.

Was dann passiert gemahnt an Science Fiction, ist aber erschreckend realistisch. Mir ist gerade ein Artikel über das Thema begegnet (das ich nicht erwähnen werde, weil sonst die Überraschung dahin ist). Es passiert Unglaubliches direkt vor unserer Nase und wir betrachten es als Spielerei.

Das Hörbuch liest der Autor wieder selbst, nicht perfekt und nicht akzentfrei, aber überzeugend und sehr sympathisch. Es dauert 6 Stunden, 10 Minuten, hätte gerne länger sein können.

Dieses Buch lässt keine Wünsche offen. Es ist originell, spannend, unterhaltsam und dabei auch noch hoch aktuell. Ich bin wieder einmal begeistert.

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