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Veröffentlicht am 27.07.2019

Grausam in Sepia

Die Kinder des Borgo Vecchio
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Im Borgo Vecchio wachsen Mimmo, Cristofano und Celeste auf. Mit ihren Eltern haben sie es alle nicht leicht. Mimmo muss damit klarkommen, dass sein Vater, der Fleischer, ein Betrüger ist. Cristofano wird ...

Im Borgo Vecchio wachsen Mimmo, Cristofano und Celeste auf. Mit ihren Eltern haben sie es alle nicht leicht. Mimmo muss damit klarkommen, dass sein Vater, der Fleischer, ein Betrüger ist. Cristofano wird regelmäßig verprügelt. Und Celeste ist diejenige, die Stunden auf dem Balkon verbringt, während ihre Mutter als Dorfhure ihren Lebensunterhalt verdient. Wie gerne würden die drei auf der Sonnenseite aufwachsen, doch das ist ihnen nicht vergönnt. In Ermangelung einer Persönlichkeit, die wirklich etwas geleistet hat, nehmen sie sich den schnellsten Ganoven des Viertels zum Vorbild.

Das kann nicht in der heutigen Welt angesiedelt sein, denkt man, wenn man von dem Leben der drei Kinder liest. Doch irgendwie scheint die Zeit im Dorf stehen geblieben zu sein. Eigentlich, meint man, sollten Kinder heutzutage nicht mehr so behandelt werden, sollte es so hoffnungslose Orte nicht mehr geben. Jemand, der Italien bereist hat, kann das vielleicht besser beurteilen. Alle drei Kinder hadern mit ihrer Welt, Mimmo, der lieber bei dem Pferd Nana ist als bei seinem betrügerischen Vater, Celeste, die gerne lernen würde und doch auf dem Balkon gesperrt wird und am meisten Cristofano, der jeden Abend hoffen muss, mit dem Leben davon zu kommen. Was bleibt ihnen anderes als ihr Hoffnung auf den schnellsten Ganoven zu setzen?

Auch wenn das Buch nur 160 Seiten hat, so ist es doch ein recht schwerer Brocken. Die Sprache ist eindringlich und wortgewaltig, gleichzeitig auch eingängig und schmeichelnd. Hier ist dem Autor große Kunst gelungen. Schwieriger ist es dagegen an der Handlung Gefallen zu finden. Eltern, die ihre Kinder nicht schützen. Kinder, die schlimmste Not leiden und denen nicht geholfen wird, obwohl alle wissen, was geschieht. Große Hoffnungslosigkeit, Armut herrschen. Einen Ausweg scheint es nicht zu geben. Und wenn sich doch ein Weg auftut, hat auch dieser einen zu hohen Preis. Ein Buch, das zwar nachdenklich macht, aber auch eines in das zu viel depressive Stimmung hineingepackt wurde.

Auch wenn das Buch einem vielleicht seine Handlung zumutet, ist es doch sprachlich von herausragender Kunst.

Veröffentlicht am 26.07.2019

Marschmädchen

Der Gesang der Flusskrebse
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Eines Morgens im Jahr 1950 zieht sie die Schuhe aus Krokodillederimitat an und verlässt das Haus. Die damals sechsjährige Kya sieht ihre Mutter nie wieder und nach und nach verschwinden auch ihre Geschwister. ...

Eines Morgens im Jahr 1950 zieht sie die Schuhe aus Krokodillederimitat an und verlässt das Haus. Die damals sechsjährige Kya sieht ihre Mutter nie wieder und nach und nach verschwinden auch ihre Geschwister. Das kleine Mädchen bleibt mit dem mitunter gewalttätigen Vater allein. Es gibt auch gute Tage, doch bald ist auch der Vater fort. Fortan lebt Kya allein in der Marsch, sie will nicht in ein Heim und sie schafft es, den Behörden immer wieder zu entwischen. Hilfe hat sie hin und wieder von dem wenig älteren Tate, der ihr schließlich auch das Lesen und Schreiben beibringt. Und das Wenige, was sie zu verkaufen hat, bringt sie in den Laden von Jumpin’, einem liebenswerten Schwarzen.

Als im Jahr 1969 der Platzhirsch des Ortes Chase Andrews tot aufgefunden wird, weiß man nicht, ob es der Beginn, das Ende oder die Mitte der Geschichte ist. Um seinen Tot ranken sich viele Rätsel. Wichtiger ist jedoch wie das Marschmädchen Kya aufwächst. Immer wieder allein gelassen und verlassen schlägt sie sich durchs Leben. Um weitere Enttäuschungen zu vermeiden, verbringt sie die meiste Zeit allein in der Marsch. Sie hat das Zeichentalent ihrer Mutter geerbt und verwendet es, um das Leben in der Marsch in Bildern wiederzugeben. Außerdem legt sie Sammlungen von Flora und Fauna an, eine Katalogisierung, die ihres Gleichen sucht und doch im Verborgenen bleibt. Ohne Freunde, ohne Komfort, aber dennoch eine gewisse Zufriedenheit strahlt Kya aus. Aus der Not heraus hat sie gelernt, aus dem Wenigen, was sie hat, Freude zu schöpfen.

Was für ein Buch. Nachdem man es beendet hat, muss man erstmal durchatmen und es ein wenig sacken lassen. Wenn man diese Art von Büchern mag, die sich Menschen, die aus der Gesellschaft gefallen zu sein scheinen, liebevoll widmen, wird man hier ein echtes Kleinod finden. Ein Debütroman, der seines Gleichen sucht. Beim Lesen fühlt man sich in die Marsch hineinversetzt, egal ob man dabei ein Bild aus Amerika vor Augen hat oder auch eines der heimatlichen Marschlandschaften, man spürt die Einsamkeit der Landschaft und die des Mädchens. Man fragt sich, woher die Kleine die Kraft und das Durchsetzungsvermögen nimmt, um zu überleben. Der Wunsch, jemand möge sich ihrer annehmen, sie aufnehmen, ihr ein zu hause geben, bleibt ziemlich unerfüllt, Die Enttäuschungen wiegen doch zu schwer, das zaghaft aufgeflackerte Vertrauen, wird herbe niedergedrückt. Und doch bewundert man Kyas starke Persönlichkeit, sie gibt nicht auf, in ihrem Rahmen schafft sie sich ein Reich der Wärme und Ruhe. Zeit ihres Lebens bleibt sie das Marschmädchen und findet ihre Erfüllung.


Veröffentlicht am 21.07.2019

Schafhirten

Ich bin die Nacht
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Francis Ackerman jr. ist ein Mensch, den man eigentlich kaum einen Menschen nennen kann, einfach zu viele seiner Mitmenschen hat er umgebracht. Keiner hat ihm bisher das Handwerk legen können. Marcus dagegen ...

Francis Ackerman jr. ist ein Mensch, den man eigentlich kaum einen Menschen nennen kann, einfach zu viele seiner Mitmenschen hat er umgebracht. Keiner hat ihm bisher das Handwerk legen können. Marcus dagegen musste seine Polizeikarriere an den Nagel hängen, weil er Grenzen überschritten hat. In dem kleinen Ort Asherton treffen Ackerman und Marcus aufeinander. Wie bei ihm üblich hat Ackerman bereits mit seinen Spielchen begonnen. Und Marcus, der im Grunde immer noch der gewissenhafte Polizist ist, der er einmal war, tritt an, um Francis Ackerman seiner gerechten Strafe zuzuführen.

Die Reihe der Thriller um den Serienmörder Francis Ackerman jr. ist inzwischen wohlbekannt. In diesem ersten Band lernen sich Ackerman und Marcus eher erzwungenermaßen kennen. Francis zeigt dabei durchaus Facetten, die man bei einem Killer nicht vermuten würde, dennoch möchte man ihn gerne hinter Gitter sehen, schon um seine möglichen weiteren Opfer zu schützen. Auch Marcus legt eine vielschichtige Persönlichkeit an den Tag. Da verschwimmen manchmal die Grenzen zwischen Gut und Böse. Allerdings wird Marcus auch einiges zugemutet.

Etwas viel gestorben wird in diesem ersten Teil und recht brutal geht es bei den Tötungen und Mordfällen zu. Da wird nichts groß unternommen, um irgendetwas aufzuklären, eher wird einfach draufgeballert. Man muss schon einiges aushalten und mehr als einmal denkt man, wieso tue ich mir das überhaupt an. Doch auch oder gerade für seinen ersten Band hat der Autor eine Wendung gefunden, mit der er überrascht und mit der dem Ballon zwar einiges an Luft abgelassen wird, aber gerade dadurch auch einiges ins rechte Licht gerückt wird. Vielleicht kann man immer noch nicht von Recht sprechen, aber mit dieser Art der Ereignisse kann man ganz gut leben. Und so hat man schließlich einen Thriller zum Haare raufen, der allerdings so unerwartet endet, dass man ihn fast schon gut finden muss.

Veröffentlicht am 20.07.2019

Rechenkunst

Nullsummenspiel
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In Mathe war sie schon immer einfach gut. Diese Fähigkeit kann ich in ihrem Job als Wiederbeschafferin gut gebrauchen. Wenn es einmal brenzlig wird, berechnet sie einfach die Wahrscheinlichkeit oder eine ...

In Mathe war sie schon immer einfach gut. Diese Fähigkeit kann ich in ihrem Job als Wiederbeschafferin gut gebrauchen. Wenn es einmal brenzlig wird, berechnet sie einfach die Wahrscheinlichkeit oder eine Kurve und ist in aller Regel aus der Klemme befreit. Sie ist Cas Russell, sie findet Freundschaft überbewertet und sie vertraut nur Rio. Als sie gebeten wird die kleine Schwester Courtney Polk wiederzubeschaffen, hält sie das für einen leichten Auftrag. Überrascht muss Cas feststellen, dass dem nicht so ist und auch als sie Courtney in ihrer Obhut hat, geraten die beiden Frauen in eine Gefahrensituation nach der anderen.

Wenn man selbst der Vektor-Rechnung sofort nach der Schulzeit für immer abgeschworen hat, könnte man Cas gegenüber zunächst einige Vorbehalte haben. Denn zu Beginn metzelt sie mit ihren Berechnungen die Menschen, auch wenn sie nicht so besonders gut sind, schneller hin als man piep oder papp sagen kann. Doch wenn man sieht, mit welcher Sorgfalt und großem Mut sie auch Leben rettet, verzeiht man ihr doch das Meiste. Cas muss erstmal nicht nur auf Courtney aufpassen, sondern nebenbei auch Arthur das Leben retten. Sie ist also ganz schön beschäftigt und das, obwohl Rio gesagt hat, sie soll sich aus der Sache raushalten.

Man merkt diesem Roman schon an, dass es sich um den Beginn einer Reihe handelt, da doch etliche Andeutungen gemacht werden, die der weiteren Klärung bedürfen. Dennoch ist die Einführung von Cas Russell und ihren Freunden (sie hat ja eigentlich keine) gelungen. Zum Glück muss man kein Mathegenie sein, um der Handlung folgen zu können. Im Gegenteil Cas’ außergewöhnliche Fähigkeiten geben der Geschichte eine besondere Note. Cool wie sie sich aus Gefahren befreit und dabei auch das Wohlergehen ihrer Freund im Blick behält. Da ist es beinahe schon überraschend, dass sie bei dieser Wiederbeschaffung an einen Gegner geraten soll, der ihr überlegen zu sein scheint. Auf jeden Fall versteht Cas es, den Leser zu fesseln und mit ihrer urigen und ungewöhnlichen Art zu erfreuen. Man darf gespannt sein, was die geheimnisumwitterte junge Frau, noch wiederbeschaffen wird.

Veröffentlicht am 19.07.2019

Der arme Jules

Die Marie vom Hafen
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Der arme Jules hinterlässt fünf Kinder. Odile lebt schon nicht mehr daheim. Marie hat sich um die Jüngeren gekümmert. Und die drei Jüngsten werden noch auf der Trauerfeier unter den Verwandten verteilt. ...

Der arme Jules hinterlässt fünf Kinder. Odile lebt schon nicht mehr daheim. Marie hat sich um die Jüngeren gekümmert. Und die drei Jüngsten werden noch auf der Trauerfeier unter den Verwandten verteilt. Marie beginnt im örtlichen Café zu arbeiten. Der gut betuchte Freund ihrer Schwester macht ihr das Angebot, in einer seiner Firmen eine Stelle anzutreten. Marie jedoch will zu hause bleiben, am Hafen. Der schon über 30jährige Henri, eine solche Abfuhr nicht gewöhnt, beginnt immer wieder in Maries Nähe aufzutauchen. Marie trifft sich derweil erstmal lieber mit Marcel.

Im Atlantik Verlag werden die Romane und Geschichten von Georges Simenon neu aufgelegt. Dessen Maigret-Romane sind weithin bekannt. Doch das Oeuvre des Autors ist weitaus umfassender. Ein Beispiel der Vielfältigkeit Simenons bietet die Geschichte von Marie vom Hafen. Eine Geschichte, die eher traurig beginnt, muss die junge Frau nun auch noch ihren Vater beerdigen. Noch nicht volljährig besteht die Gefahr, dass andere über ihr weiteres Leben entscheiden, so wie bei ihren jüngeren Geschwistern. Marie sucht nach einem Ausweg. Dass Henri, der eigentlich mit ihrer Schwester zusammen ist, ihr nachstellt, ist ihr zunächst eher lästig. Ziemlich kühl lässt sie ihn abblitzen.

Bereits im Jahr 1938 erschien die Erstausgabe dieser Erzählung und wirkt doch auch in der heutigen Zeit nicht altmodisch. Wenn auch kühl, so ist Marie doch ausgesprochen pfiffig und fortschrittlich. Beim Lesen fragt man sich, in wie weit sie Pläne schmiedet. Dennoch gefällt sie mit ihren eigenen Kopf. Ihre Schwester Odile wirkt dagegen nachgiebig und weich. Henri scheint ein arroganter Schnösel zu sein, der es durchaus verdient hat, mal ausgebremst zu werden. Zwar ist die Geschichte schnell gelesen, aber keinesfalls schnell vergessen. Die Marie vom Hafen hat etwas, das sicher dazu einlädt, sie mehr als einmal zu genießen.