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Veröffentlicht am 14.07.2024

Dystopischer Ökothriller

Die Stimme der Kraken
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In naher dystopischer Zukunft: Die Welt ist in Eingeschränkte Regierungszonen, Autonome Handelszonen und Protektorate gegliedert, Agenten mit Abglanzschilden, die ihre Identität verschleiern, ...

In naher dystopischer Zukunft: Die Welt ist in Eingeschränkte Regierungszonen, Autonome Handelszonen und Protektorate gegliedert, Agenten mit Abglanzschilden, die ihre Identität verschleiern, gehen in aller Öffentlichkeit ihren jeweiligen Interessen bzw denen der sie bezahlenden Konzerne nach. Es tobt ein erbitterter globaler Kampf um Ressourcen und Technologien.
Einer der größten Konzerne, DIANIMA, hat gerade die Insel Con Dao im südchinesischen Meer abgeriegelt, um eine bislang unbekannte Krakenart zu erforschen. Die hochkompetente Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen - Expertin in Sachen Meeres-Bewusstsein und Kommunikation - soll Kontakt mit den hochintelligenten Wesen aufnehmen, um mit der neuen Spezies, die sowohl Sprache als auch Kultur ausgebildet haben soll, Kontakt aufzunehmen. Geleitet wird das Projekt von Evrim, dem einzigen empathischen Androiden der Welt, dessen Aufenthalt auf dem Archipel noch andere Gründe hat. Mit an Bord ist außerdem eine ziemlich durchgeknallte Sicherheitsfunktionärin, ohne die der Roman deutlich blutleerer wäre, im üblen wie im besten Sinne.
Und natürlich tauchen am Horizont nicht nur die fischverarbeitenden KI-gesteuerten (Menschen)-Sklavenschiffe auf, sondern üble Mächte, die anderes mit den sensiblen, aber auch mörderischen Oktopoden im Sinn haben. Die Kopffüßer besitzen nämlich nicht nur eine eigene Grammatik und architektonische Fähigkeiten, sie verteidigen ihre Welt mit ausgeprägter Gnadenlosigkeit gegen jeden, der ihre warnenden Zeichen nicht zu lesen versteht.
Der kanadische Autor Ray Nayler, stellt - inspiriert von Sy Montgomerys "Rendezvous mit einem Oktopus" sowie neuesten Erkenntnissen zur Konnektom- und Gehirnforschung - auf originell- fantastische Art die Frage nach intelligentem Leben, Sein und Bewusstein, Moral und freiem Willen.
Die noch unerforschten Geheimnisse der Tiefsee, ein dystopisches Wordbuilding und das Thema KI in bester Asimovscher Tradition werden hier zu einem vielversprechenden Setting verwoben.
Das liest sich meist spannend, oft bildend und immer unterhaltsam.
Weshalb mich der Roman dennoch nicht ganz überzeugen konnte, liegt einerseits an den mitunter holzschnittartig wirkenden Charakteren, die die zahlreichen Schauplätze betreten, eine Handlung ausführen oder ein Statement abgeben (meist zur Frage "Was ist Bewusstsein?") und dann auf der anderen Seite der Bühne wieder abtreten, ohne dass man ihnen wirklich nahekommt. Andererseits wird eine Hauptfigur wie der Japaner Eiko, auf eins der erwähnten Sklavenschiffe entführt, mit einem großen erzählerischen Bogen aufgebaut - besonders schön fand ich die Idee des Gedächtnispalasts - um dessen Rolle schließlich im Sande verlaufen zu lassen.
Nichtsdestotrotz ist es ein gut recherchiertes, wissenschaftlich fundiertes und unterhaltsam geschriebenes Buch, das einen guten Sommerschmöker abgeben könnte.



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Veröffentlicht am 19.06.2024

Ein Buch wie ein Stillleben

Das Fenster zur Welt
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1944 begegnen sich der junge britische Soldat Ulysses und die 64jährige Kunsthistorikerin Evelyn Skinner in der Toskana, wo letztere den Alliierten hilft, verschleppte oder versteckte Kunstschätze ...

1944 begegnen sich der junge britische Soldat Ulysses und die 64jährige Kunsthistorikerin Evelyn Skinner in der Toskana, wo letztere den Alliierten hilft, verschleppte oder versteckte Kunstschätze aufzufinden. In einem Weinkeller in umkämpfter Gegend verbringen sie einen einzigen Abend mit Gesprächen über die Kunst und das Leben und finden schnell zu einer tiefen Vertrautheit.
Etliche Jahre später wird auch diese Begegnung Ulysses aus dem rauen Londonder East End nach Florenz ziehen, wo er in einem geerbten Palazzo (den Eigentümer hatte er 1944 in einer halsbrecherischen Aktion vor dem Suizid bewahrt) samt Stieftochter Alys, seinem alten Freund Cress und einem vorlauten Papagei einen Neuanfang wagt.

Viele Jahre werden vergehen und viele Wege sich nur fast kreuzen, bis sich Ulysses und Evelyn endlich wiedersehen. Die Geschichte dazwischen wird leise und undramatisch, chronologisch, detailreich und dicht erzählt. Einen spannenden Handlungsbogen gibt es nicht, trotzdem möchte man das Buch nicht aus der Hand legen. Wie ein riesiges Stillleben - so auch der Originaltitel - breitet Sarah Winman die Leben und Beziehungen ihrer Figuren aus und tupft hier und da etwas magischen Realismus (kein normaler Papagei hat immer das passende Zitat parat !) als besonderen Hingucker dazu. Es gibt viel zu entdecken in diesem nicht nur idyllischen Gemälde. Obwohl der Titel im Deutschen vielleicht nicht viel hermacht, finde ich ihn angesichts der Erzählweise und Evelyns Reflexionen über das künstlerische, oft als trivial geltende Sujet, die mir durchaus die Augen geöffnet haben und insofern auch bildend waren, deutlich passender als die Übersetzung.

Doch vor allem sind es die warmherzig, komplex und sehr liebenswert gezeichneten Charaktere, die einen das Buch am Ende nur schweren Herzens zuklappen lassen. Obwohl sie mitunter einen rauen Ton anschlagen, stehen sie trotz aller Höhen und Tiefen stets wertfrei zueinander. Sie alle - verbunden durch tiefe Freundschaft oder Wahlfamilie - suchen nur eins: ihren Platz im Leben. Dies ist ganz klar ein Wohlfühlbuch und als Sommerschmöker sehr zu empfehlen.

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Veröffentlicht am 24.05.2024

Knisternde Spannung

Das Baumhaus
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Nach "Wolfskinder" nun der zweite Thriller von Vera Buck, den ich nicht mehr aus der Hand legen bzw. vom Ohr nehmen konnte.
"Das Baumhaus" steht im idyllischen Västernorrland in Schweden, das ...

Nach "Wolfskinder" nun der zweite Thriller von Vera Buck, den ich nicht mehr aus der Hand legen bzw. vom Ohr nehmen konnte.
"Das Baumhaus" steht im idyllischen Västernorrland in Schweden, das offenbar nur die Deutschen für ein einziges riesengroßes Bullerbü halten. So auch Henrik und Nora, die mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn das Ferienhaus aus Henriks Kindheit aufsuchen. Dass dort irgendetwas nicht stimmt, wird zur furchtbaren Gewissheit, als Fynn beim Spielen mit Henrik im Wald von einer Minute auf die andere spurlos verschwindet. Just, als Nora ein paar Stunden für sich allein in der Stadt verbringt.
Zeitgleich findet die forensische Biologin Rosa Lundqvist bei privaten Forschungsgrabungen im Wald ein Kinderskelett - verwittert wie das Baumhaus oben in der Esche, an das Henrik sich mühsam erinnert. War da nicht ein Mädchen gewesen, so alt wie er? Der Albtraum nimmt seinen Lauf...
Vera Buck lässt die Geschichte von vier Hauptcharakteren jeweils aus der Ich-Perspektive erzählen.
Neben Nora und Henrik, die mit Schuld und vergangenen Dämonen kämpfen, sind da noch Rosa, die offiziell als Ermittlerin hinzugezogen wird, ihr eigenes privates Päcklein zu tragen hat und vor allem das Mädchen Marla, das aus der Vergangenheit zu uns spricht. Was Marla zu erzählen hat, lässt die Haare zu Berge stehen und bricht einem das Herz und dennoch kann man nicht aufhören, ihr zu lauschen. Dazu trägt nicht nur die kindliche Diktion, sondern auch die Sprecherin (Leonie Landa??) bei, die Marla im richtigen Maß unfassbares Leid und Einsamkeit, aber auch Mut und Überlebenswillen in die Stimme legt.
Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr verbinden sich die Beziehungen der Figuren zu einem dichten Gewebe, das zugleich ein erschreckendes Bild offenbart.
Meisterhaft erzeugte Spannung, die sich langsam, bedrohlich und unaufhaltsam wie ein Gewitter über der Szenerie zusammenzieht, eine genial konstruierte Geschichte mit mehreren Twists, etlichen möglichen Verdächtigen, falschen Fährten, ausreichend komplexen Charakteren sowie exzellente Sprecher:innen machen das Buch zu einem wirklichen Hörabenteuer, das am Ende mit mehr als einem Schuldigen aufwartet.
Große Empfehlung!


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Veröffentlicht am 26.04.2023

Echter Pageturner

Going Zero
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Der Social-Media Mogul Cy Baxter hat vor vielen Jahren seinen besten Freund bei einem Terroranschlag verloren. Mit dessen Schwester, nunmehr Baxters Gefährtin und mindestens ebenso genial, hat ...

Der Social-Media Mogul Cy Baxter hat vor vielen Jahren seinen besten Freund bei einem Terroranschlag verloren. Mit dessen Schwester, nunmehr Baxters Gefährtin und mindestens ebenso genial, hat er deshalb mit FUSION ein nie dagewesenes Überwachungssystem entwickelt, das nicht nur potenzielle Gefahren hochrechnen, sondern auch jeden Untergetauchten in kurzer Zeit aufspüren kann.
Die CIA, die nur im Ausland agieren darf, wittert angesichts eines solchen Partners Morgenluft in Sachen Inlandsoperationen und unter dem Deckmantel von Terrorabwehr und nationaler Sicherheit läuft ein Beta-Test im großen Stil an.
Zehn Personen, vom Geheimdienst sorgfältig ausgewählt, müssen 30 Tage unauffindbar bleiben. Wem es gelingt, der bekommt 3 Millionen Dollar Preisgeld. Siegt das System, winkt Baxter eine überirdisch hohe Summe und dem Staat die totale Überwachung.
Unter den zehn Auserwählten ist auch die eher mausgraue Bostoner Bibliothekarin Kaitlyn. Als auf ihrem Handy das Signal "Go Zero" erscheint, hat sie zwei Stunden Zeit, um zu verschwinden. Was niemand weiß: Sie ist weder durchschnittlich noch geht es ihr um die drei Millionen. Sie muss ein leben retten und hat nur diese eine Chance. Und die Jagd hat schon begonnen...
"Going Zero" heißt der atemberaubende Thriller von Anthony McCarten, der heute @diogenesverlag erschienen ist. Ein Buch, dem man nicht nur zum Geburtstag, sondern auch zu seinem künftigen Erfolg gratulieren darf, denn es wird mit Sicherheit seine Leserschaft finden.
Überwachungskapitalismus ist kein neues Thema, auch in der fiktiven Literatur, insbesondere in Form von Dystopien, hat es Hochkonjunktur. Dennoch habe ich selten so realistisch und spannend zugleich darüber gelesen.
Während Kaitlyns Geschichte den straff gespannten roten Faden der Erzählung bildet, werden wir Zeugen, wie die anderen "Zeros" nacheinander, mit unerbittlicher Effizienz und oft auf wenigen Seiten, hopps genommen werden. Das macht Spaß zu lesen, weil auch sie durchaus findig sind und man sich ständig bei dem Gedankenexperiment ertappt, wie und wo man selbst abtauchen würde. Andererseits stehen einem die Haare zu Berge, weil es angesichts der völlig aus dem Ruder gelaufenen Überwachung und unterschwelligen Einflussnahme und der digitalen Spuren, die wir ungewollt überall hinterlassen, faktisch kein Entrinnen gibt.
Gut platzierte Cliffhanger, geschickt gestreute Informationen lassen einen das Buch kaum aus der Hand legen. Es wirkt wie von leichter Hand geschrieben, und trotz tiefgründiger Recherchen des Autors wird die Geschichte nicht mit technischen Fakten oder politischen Traktaten überfrachtet. Sehr viel Sorgfalt ließ Anthony McCarten auch seinen Charakteren angedeihen. Sie alle sind als nahbare und widersprüchliche Persönlichkeiten gezeichnet, deren Leben am Ende nicht mehr dieselben sind.
Der Autor hat sich für seinen Roman von der wahren Geschichte eines verschwundenen CIA-Agenten inspirieren lassen. Er selbst, so viel verrät er im Nachwort, ist bekennender
Zero und in den sozialen Medien nicht zu finden.

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Veröffentlicht am 24.04.2023

Episch inszeniert, verstörend erzählt

Die marmornen Träume
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Im Spätsommer des Jahres 1939 werden in Berlin grausam zugerichtete Frauenleichen gefunden. Allesamt Ehefrauen von Nazigrößen und Mitglieder eines exklusiven Damenkreises, der sich regelmäßig ...

Im Spätsommer des Jahres 1939 werden in Berlin grausam zugerichtete Frauenleichen gefunden. Allesamt Ehefrauen von Nazigrößen und Mitglieder eines exklusiven Damenkreises, der sich regelmäßig im Hotel Adlon zu Amüsement, edlen Speisen und Champagner trifft. Ihnen gemeinsam ist außerdem der geniale Psychoanalytiker und Traumforscher Simon Kraus, der sämtliche Opfer nicht nur verführt, sondern anschließend mit seinem ärztlichen Wissen erpresst hatte. Als ihm der ermittelnde SS-Offizier Franz Beewen, ein nicht minder unsympathischer Zeitgenosse ihm aufgrund der Nähe zu den Frauen offen droht, versucht Kraus seine Haut zu Bretten und bietet Beewen seine Mitarbeit bei der Aufklärung des Falles an: Alle Patientinnen hatten vor ihrer Ermordung von einem Albtraum berichtet, in dem ein Mann mit einer Marmormaske des Nachts an ihrem Bett gestanden habe…
Als Dritte im Bunde wird schließlich die Psychiaterin Minna von Hassel hinzugezogen, die außerhalb Berlins eine Klinik für traumatisierte Weltkriegsveteranen und psychisch Kranke leitet, wo auch Beewens Vater zu ihren Patienten gehört. Kraus und von Hassel verabscheuen die Nazis und ihre Rassenideologie, doch als ihre Ermittlungen und sie selbst von weiter oben in der Hierarchie bedroht werden, müssen sie zusammenarbeiten, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Jean- Christophe Grangé hat hier einen vielschichtigen und historisch präzise recherchierten Thriller über Deutschlands dunkelstes Kapitel vorgelegt - episch inszeniert und verstörend brutal erzählt.
Sehr viel Sorgfalt verwendet der Autor auf seine Charaktere. Die komplex angelegten Figuren sind am Ende der Geschichte nicht mehr dieselben, die Lesenden möglicherweise auch nicht, denn Grangé erspart uns nichts. Nicht nur die Morde werden bis in letzte grauenvolle Detail geschilderte, sondern auch die Verbrechen der Naziś, seien es die Kriegsverbrechen der Wehrmacht hinter der Front, die fabrikmäßige Ausrottung der Juden, die Sterilisation und Ermordung nicht-idealer Deutscher - kommen auf so historisch wahre wie markerschütternde Weise aufs Tapet. Obwohl jeder über diese Geschehnisse Bescheid wissen sollte, ob es mittels dieses Romans geschehen sollte, sei dahingestellt, denn der ist nichts für zartere Gemüter.
Dennoch, ein genial konstruierter Thriller mit Figuren, die vor allem am Anfang nicht sympathisch sind, deren handeln auch später nicht verteidigt wird, die aber dennoch eine Entwicklung durchmachen und als Menschen erkennbar werden dürfen.
Die Auflösung ist überraschend und springt dennoch in Sachen Glaubwürdigkeit etwas aus dem Kontext.

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