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Veröffentlicht am 05.11.2022

Gemütlicher Krimi der alten Schule

Das Geheimnis von Greenshore Garden
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Zur Auswahl bei der #readchristie2021 challenge steht in diesem Monat ein Titel, in dem ein Garten eine Rolle spielt.
Was lag da näher als jene Novelle, die durch Agatha Christies Landsitz Greenway inspiriert ...

Zur Auswahl bei der #readchristie2021 challenge steht in diesem Monat ein Titel, in dem ein Garten eine Rolle spielt.
Was lag da näher als jene Novelle, die durch Agatha Christies Landsitz Greenway inspiriert und schließlich auch dort verfilmt wurde : Das Geheimnis von Greenshore Garden. Erst 2013 in Großbritannien wiederentdeckt und neu aufgelegt, ist diese Geschichte zwar eine der kürzesten Romanveröffentlichungen Christies, doch dafür umso dichter und in der Auflösung überraschender.
🕵🏻‍♂️🌳🌹
Die Kriminalschriftstellerin Ariadne Oliver soll anlässlich des Sommerfestes auf Greenshore eine Mörderjagd inszenieren. Bei den Vorbereitungen beschleicht sie das ungute Gefühl, manipuliert zu werden und wendet sich hilfesuchend an ihren alten Freund Hercule Poirot, der sofort an den Ort des Geschehens reist. Obwohl er weises Verständnis für die nervösen Ahnungen seiner Bekannten an den Tag legt, befürchtet er zunächst, den Weg umsonst gemacht zu haben. Doch dann liegt im Bootshaus des Anwesens tatsächlich eine Leiche, und die Dame des Hauses ist spurlos verschwunden…
🕵🏻‍♂️🌳🌼
Wie so oft glaubt der Lesende recht schnell zu wissen, wo es langgeht. Denn dass mit diesem merkwürdigen Tempelbau im Wald etwas nicht stimmt, ist allzu offensichtlich. Doch dann tappt man wie immer in die Falle der Queen of Crime, verirrt sich auf den geschickt verschlungenen Pfaden. Die Novelle besticht durch einen äußerst raffinierten Plot, ein wie üblich illustres Figurenensemble, sorgsam gestreute Hinweise, die sich erst im Nachhinein erschließen, aber wie bei ihrer Heldin ein unterbewusstes Ahnen erzeugen, und natürlich durch den sympathischen Herrn und Meister der grauen Zellen.
🕵🏻‍♂️🌳🌸
Als „einladend“ bezeichnet Agatha Christies Enkel Matthew Pritchard in seinem berührenden Vorwort die Erzählungen seiner Großmutter, und genauso empfinde ich sie auch. Von der ersten Zeile kann man sich dem wohligen Schauder einer nicht allzu gruseligen Handlung hingeben und nebenbei auch die eigene Kombinationsgabe trainieren.
Das Bändchen ist eine besondere Cosy Crime Praline und schnell vernascht. Als Zugabe haben wir uns deshalb die Verfilmung „Wiedersehen mit Mrs. Oliver“ mit dem unnachahmlichen David Suchet angesehen. Symbolischerweise auf Christies Landsitz gedreht, wo auch die allerletzte Klappe für die Serie überhaupt fiel. Die dafür ausgewählte Szene trieb allen die Tränen in die Augen, wie Matthew Pritchard schreibt - Poirot, in seinem typischen Ornat, klopft an die Tür von Greenway - als käme er nach Hause.





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Veröffentlicht am 05.11.2022

Raffiniertes Schelmenstück

Die Kobra von Kreuzberg
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Die Stadt glüht, der Asphalt schlägt Blasen und selten verschwinde ich so schnell und freiwillig in der U8. In den Tunneln unter Berlin ist es derzeit noch am ehesten auszuhalten, dort, wo ich seit kurzem ...

Die Stadt glüht, der Asphalt schlägt Blasen und selten verschwinde ich so schnell und freiwillig in der U8. In den Tunneln unter Berlin ist es derzeit noch am ehesten auszuhalten, dort, wo ich seit kurzem aus dem Waggon heraus grinsend in die dunklen Schächte der Nebengleise starre, denn ich weiß jetzt Bescheid…
Es ist eiskalt und Silvester, als Beverly Kaczmarek - einziger weiblicher Spross eines polnischen Diebesclans internationaler Reichweite - beschließt, nichts weniger als die Quadriga vom Brandenburger Tor zu stehlen. Denn seit sie beim letzten Coup im Marmorpalais auf dem Rückweg durchs Fenster eine der beiden Wedgewood-Vasen zu Bruch gehen ließ, kriegen sich die lieben Verwandten in den absurdfarbenen Trainingsanzügen gar nicht mehr ein. Insbesondere die Brüder, die derweil Fabergé-Eier aus der Eremitage entwenden, lassen es an Schmäh nicht fehlen. Etwas unübertroffen Großes muss her, das die Positionen ein für allemal klärt.
Ein herrlich wild-schräg-absurdes (Lese)-Abenteuer beginnt. Nicht eigentlich spannend, aber ein großer Spaß voller Wortwitz, lustvoll auf die Spitze getriebenen Klischees, skurrilem Personal von Wetteranarchist bis Mafiaboss, pointierten Dialogen, trashigen Storyschlenkern und zahllosen Referenzen, die Michel Decar wie ein Feuerwerk auf den Leser niedergehen lässt. Geschrieben im Tempo der Großstadt und der lakonische-schnodderigen Tonart, die man dem neuköllngefärbten Kreuzberg und der kratzbürstigen Meisterdiebin ohne Blinzeln abnimmt. Nicht hundertprozentig sympathisch, aber immer schlagfertig, sehr komisch, ein bisschen dreckig. Hier kennt sich einer aus.
Was in den Tunneln unter Berlin so lauert, ob die Quadriga am Ende noch auf dem Tor steht und wie Beverly die Liebe findet und mit einigen Trainingsanzügen abrechnet, könnt und sollt ihr unbedingt selbst nachlesen.

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Veröffentlicht am 05.11.2022

Solider Krimi mit Fortsetzungspotenzial

Der Tintenfischer
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Die Straßen, Brücken und Kanäle Venedigs sind menschenleer. Der Lockdown hält Trubel und Touristen fern. Doch auch jetzt kann sich Commissario Antonio Morello mit der Serenissima nicht anfreunden. Obgleich ...


Die Straßen, Brücken und Kanäle Venedigs sind menschenleer. Der Lockdown hält Trubel und Touristen fern. Doch auch jetzt kann sich Commissario Antonio Morello mit der Serenissima nicht anfreunden. Obgleich die "schönste Stadt der Welt" wie mit Tintenfischarmen nach ihm greift, will er nur weg von hier. Zurück nach Sizilien, wo die Mafia nur auf ihn wartet. Er will endlich abrechnen, die Mörder seiner Frau stellen. Stattdessen läuft er Streife, auf der Suche nach Corona-Betrügern, die vorzugsweise ältere Bürger ausrauben, indem sie etwa vorgeben, deren Wohnungen zu desinfizieren.
Auf einem dieser Streifengänge werden Morello und seine Kollegin Anna Klotze gewahr, wie sich ein verzweifelter junger Mann in den Kanal stürzt. Die sportliche Polizistin kann ihn gerade noch retten. Es ist der 20jährige David Ekele aus Nigeria, dessen Schicksal nicht nur die beiden Ordnungshüter tief berührt, sich mit ihrem verstrickt und nach - Sizilien führt. Denn dort ist Davids Freundin, die es aus einem Bordell der nigerianischen Mafia zu befreien gilt...

In ihrem zweiten Morello-Roman stochern Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo @kiwi-verlag in Wespennester aus Korruption, Chauvinismus und Rassismus in staatlichen Behörden und tauchen erneut tief ins organisierte Verbrechen hinab. Diesmal nicht nur in das der Cosa Nostra, die sich zwecks Imagewandel aufs Investment verlegt, nicht nur bei Asylbewerberheimen kräftig mitkassiert und neuerdings EU-Mittel Schutzgeldern vorzieht. Im Fokus stehen die längst arrivierten und mit ihnen kooperierenden nigerianischen Cults; brutalen Bruderschaften wie Black Axe, die ihre meist studentischen Mitglieder ohne Chance auf Entkommen zu Drogenhandel, Menschenschmuggel, Mord und Prostitution zwingen.
Das alles ist hochaktuell, gründlich recherchiert, fiktiv und doch wahr, wie aus den angehängten Dokumenten am Ende des Romans hervorgeht und diesem seine inhaltliche Tiefe verleiht.

Doch keine Angst, trotz bitterem Hintergrund liefern Schorlau/Caiolo ein mit leichter Hand geschriebenes spannendes Lesevergnügen ab, bei dem der Unterhaltungswert klar dominiert - wilde Verfolgungsjagden, erotisches Knistern, Nacht-und-Nebel-Befreiungen und Rezeptsammlung inklusive. Dabei stets auf der Seite der Guten, denen mehr als einmal wundersame Rettung in letzter Sekunde widerfährt.
Und gerade, als sich Morello doch noch mit der Serenissima arrangiert, gibt es einen Cliffhanger und das Versprechen auf Band 3...
Lesen!







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Veröffentlicht am 05.11.2022

Ein absolutes Lieblingsbuch

Eine iranische Liebesgeschichte zensieren
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Ein iranischer Schriftsteller - erfüllt von der Idee einer Liebesgeschichte - steckt tief im Dilemma. Einerseits sitzt ihm der staatliche Zensor in Gestalt von Herrn Petrowitsch im Kopf und überwacht jedes ...

Ein iranischer Schriftsteller - erfüllt von der Idee einer Liebesgeschichte - steckt tief im Dilemma. Einerseits sitzt ihm der staatliche Zensor in Gestalt von Herrn Petrowitsch im Kopf und überwacht jedes getippte Wort und sogar jeden gewagten Gedanken. Zum anderen kämpft unser Autor gegen ein wahres Übel der persischen Erzähltradition an - alle Liebesgeschichten enden stets tragisch.
Und überhaupt - wie soll er Saras und Daras erste Begegnung, ihre aufkeimenden Gefühle denn beschreiben, in einem Land, wo Unverheiratete nicht mal zu zweit ins Kino oder allein spazieren gehen oder gar Händchen halten dürfen? Im lyrischen Blütenschatten einer national vererbten Dichtkunst, die sich zur Veranschaulichung körperlicher Gelüste an Granatäpfel und Trauben hält? Wie soll er seine beiden jungen aufrechten Teheraner Helden vor den Gefahren und den politischen Wirren bewahren, in die sie natürlich unweigerlich hineingeraten? Wie ihre Leben retten und auch noch ihre Liebe und das alles gegen die Schere im Kopf und zwischen den Zeilen? Und wer ist der unheimliche bucklige Zwerg, der sich ungefragt in die Geschichte geschlichen hat?
Doch als alles über unserem armen Dichter zusammenzubrechen droht, nehmen Dara und Sara ihr Schicksal selbst in die Hand...

Shahriar Mandanipour bricht in diesem Werk ironisch und meisterhaft mit sämtlichen gängigen Stilformen und spielt den Autor und die von ihm erschaffenen Figuren gegeneinander aus. Typografisch voneinander abgesetzt folgen wir dem im Entstehen begriffenen Roman (fett gedruckt), den in vorauseilendem Gehorsam vorgenommenen Streichungen (durchgestrichen) und der normal gesetzten Rahmenhandlung mit dem Autor als Ich-Erzähler.

Obwohl die eigentliche Geschichte immer wieder von Reflexionen über das literarische Schreiben durchsetzt ist, liest sich das Ganze spannend und aufrüttelnd von der ersten bis zur letzten Seite. Es ist thematisch durchaus schwere Kost doch serviert mit leichter Hand und feinem Humor. Selten habe ich bei der Lektüre eines iranischen Romans so oft gelacht. Natürlich ist das Werk im Iran verboten.
Auf Wunsch des Autors wurde es aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt und zwar ganz wunderbar von Ursula Ballin.

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Veröffentlicht am 05.11.2022

Unbedingt lesen!

Der Nachtwächter
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September 1953, North Dakota, Reservat des Turtle Mountain Band of Chippewa. Stammesratsvorsitzender Thomas Wazhashk - benannt nach der tapferen Bisamratte - bewirtschaftet tagsüber sein Farmland und arbeitet ...

September 1953, North Dakota, Reservat des Turtle Mountain Band of Chippewa. Stammesratsvorsitzender Thomas Wazhashk - benannt nach der tapferen Bisamratte - bewirtschaftet tagsüber sein Farmland und arbeitet nachts als Wächter der Lagersteinfabrik, deren Ansiedlung am Rande des Reservats den Bewohnern ein bescheidenes, aber stetes Einkommen ermöglicht. Zwischen den Kontrollgängen erledigt er die Post; Briefe an die Verwandten und die Politik, geschrieben in vollendet schönen Schwüngen und gewähltem Ausdruck. Thomas war einst Schüler in Fort Totten, einem jener Internate, in die viele Kinder der Ureinwohner zum Zwecke der Zivilisierung verschleppt wurden. Unsägliches ist ihnen dort widerfahren. Doch was er lernte, vermag sie jetzt vielleicht zu retten, denn den indianischen Nationen droht die Terminierung.
Der Kongress in Washington hat mit der sogenannten House Concurrent Resolution 108 beschlossen, sie zu "emanzipieren", allen US-Bürgern gleichzustellen. Die Reservate sollen aufgelöst, die Ländereien verkauft, die Bewohner - von der Autorin schlicht Indianer genannt - in die Städte umgesiedelt und damit ausgelöscht werden, als hätte es sie nie gegeben.

"Das ist es dann also, dachte Thomas, als er die nüchternen Satzgirlanden der Gesetzesvorlage vor sich sah. Wir haben die Pocken überlebt, die Winchester-Repetierbüchse, die Hotchkiss-Kanone, die Tuberkulose. Wir haben die Grippeepidemie von 1918 überlebt und in vier oder fünf Kriegen für die USA gekämpft. Und jetzt vernichtet uns diese Ansammlung knochentrockener Wörter. Die Veräußerung, das Einstellen, die Terminierung, Obiges, Folgendes, besagte."

Doch der Legende zufolge war es die tapfere Bisamratte, die ihr Leben gab, um die Welt entstehen zu lassen, auf der sie immer noch lebten. Die Bisamratte, die Thomas Wazhashk seinen Namen gab...

Mit dem vorliegenden Roman hat Louise Erdrich ihrem Großvater, der Ende 1953 den Protest der Ureinwohner mit einer kleinen Delegation von North Dakota bis in den Kongress nach Washington trug und dabei seine Gesundheit ruinierte, ein literarisches Denkmal gesetzt.
Wie sie das tut, hat zu Recht den Pulitzer Preis verdient. Ihre bild- und detailreichen Schilderungen der indianischen Lebenswelt zeugen von intimer Milieukenntnis, tiefer Liebe und Verwurzelung. Der Roman ist mit vielen wunderschönen poetischen Details - etwa der Geschichte von Thomas' Flickendecke - und zarten lyrischen Bildern ausgestattet, die Gesine Schröder ebenso sanft ins Deutsche übertragen hat. Mir fallen jetzt zur Nachtzeit nicht mehr nur die Augen zu, sondern ich "treibe auf den Flusslauf des Schlafes hinaus".

Obwohl ihre Charaktere, Lebende wie Geister, alle auffallend empathisch sind, zeichnet die Autorin sie keineswegs als idealisierte Heroen, sondern auch als Menschen in Zweifel und Zwiespalt. Sie irren, treffen fragwürdige, aber selten eigennützige Entscheidungen. Die Gemeinschaft, so die Botschaft, ist das einzige, was sie letztlich retten wird. Ein feiner untergründiger Humor durchdringt dabei fast den gesamten Text und lässt vor allem die Dialoge sehr lebendig wirken.

"Es heißt, dass er uns beibringen will, auf eigenen Füßen zu stehen.« Die beiden schauten auf ihre Füße hinunter. »Ich glaub, das sind meine«, sagte Louis. »Tja, ich weiß nicht«, sagte Thomas. »Du weißt was nicht?« »Ob einer von denen jemals sagen wird:Mensch, diese Indianer, die hatten schon was drauf. Die hätten wir nicht ausrotten sollen. Da haben wir was verpasst.« Louis lachte. Thomas lachte. Diese Vorstellung fanden sie beide sehr komisch."

Louise Erdrich hat die historisch verbürgte Handlung mit einer fiktiven Story rund um die starken Frauenfiguren Patrice 'Pixie' Paranteau und ihre Mutter Zhaanat verknüpft. Deren (auch übersinnliche) Suche nach Pixies verschollener Schwester Vera (TW: sexuelle Gewalt) verleiht der Geschichte einen zusätzlichen Spannungsbogen und macht sie auch zu einem Familien- und Entwicklungsroman.

Ich habe das Buch fast atemlos und in einem Rutsch gelesen und wollte am Ende gleich wieder von vorn beginnen, um die Menschen nicht verlassen zu müssen, die einem wie Freunde ans Herz wachsen.
Unbedingte Leseempfehlung!

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