Profilbild von wortwandeln

wortwandeln

Lesejury Profi
offline

wortwandeln ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit wortwandeln über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.05.2024

Knisternde Spannung

Das Baumhaus
0

Nach "Wolfskinder" nun der zweite Thriller von Vera Buck, den ich nicht mehr aus der Hand legen bzw. vom Ohr nehmen konnte.
"Das Baumhaus" steht im idyllischen Västernorrland in Schweden, das ...

Nach "Wolfskinder" nun der zweite Thriller von Vera Buck, den ich nicht mehr aus der Hand legen bzw. vom Ohr nehmen konnte.
"Das Baumhaus" steht im idyllischen Västernorrland in Schweden, das offenbar nur die Deutschen für ein einziges riesengroßes Bullerbü halten. So auch Henrik und Nora, die mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn das Ferienhaus aus Henriks Kindheit aufsuchen. Dass dort irgendetwas nicht stimmt, wird zur furchtbaren Gewissheit, als Fynn beim Spielen mit Henrik im Wald von einer Minute auf die andere spurlos verschwindet. Just, als Nora ein paar Stunden für sich allein in der Stadt verbringt.
Zeitgleich findet die forensische Biologin Rosa Lundqvist bei privaten Forschungsgrabungen im Wald ein Kinderskelett - verwittert wie das Baumhaus oben in der Esche, an das Henrik sich mühsam erinnert. War da nicht ein Mädchen gewesen, so alt wie er? Der Albtraum nimmt seinen Lauf...
Vera Buck lässt die Geschichte von vier Hauptcharakteren jeweils aus der Ich-Perspektive erzählen.
Neben Nora und Henrik, die mit Schuld und vergangenen Dämonen kämpfen, sind da noch Rosa, die offiziell als Ermittlerin hinzugezogen wird, ihr eigenes privates Päcklein zu tragen hat und vor allem das Mädchen Marla, das aus der Vergangenheit zu uns spricht. Was Marla zu erzählen hat, lässt die Haare zu Berge stehen und bricht einem das Herz und dennoch kann man nicht aufhören, ihr zu lauschen. Dazu trägt nicht nur die kindliche Diktion, sondern auch die Sprecherin (Leonie Landa??) bei, die Marla im richtigen Maß unfassbares Leid und Einsamkeit, aber auch Mut und Überlebenswillen in die Stimme legt.
Je weiter die Handlung fortschreitet, desto mehr verbinden sich die Beziehungen der Figuren zu einem dichten Gewebe, das zugleich ein erschreckendes Bild offenbart.
Meisterhaft erzeugte Spannung, die sich langsam, bedrohlich und unaufhaltsam wie ein Gewitter über der Szenerie zusammenzieht, eine genial konstruierte Geschichte mit mehreren Twists, etlichen möglichen Verdächtigen, falschen Fährten, ausreichend komplexen Charakteren sowie exzellente Sprecher:innen machen das Buch zu einem wirklichen Hörabenteuer, das am Ende mit mehr als einem Schuldigen aufwartet.
Große Empfehlung!


  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2023

Echter Pageturner

Going Zero
0

Der Social-Media Mogul Cy Baxter hat vor vielen Jahren seinen besten Freund bei einem Terroranschlag verloren. Mit dessen Schwester, nunmehr Baxters Gefährtin und mindestens ebenso genial, hat ...

Der Social-Media Mogul Cy Baxter hat vor vielen Jahren seinen besten Freund bei einem Terroranschlag verloren. Mit dessen Schwester, nunmehr Baxters Gefährtin und mindestens ebenso genial, hat er deshalb mit FUSION ein nie dagewesenes Überwachungssystem entwickelt, das nicht nur potenzielle Gefahren hochrechnen, sondern auch jeden Untergetauchten in kurzer Zeit aufspüren kann.
Die CIA, die nur im Ausland agieren darf, wittert angesichts eines solchen Partners Morgenluft in Sachen Inlandsoperationen und unter dem Deckmantel von Terrorabwehr und nationaler Sicherheit läuft ein Beta-Test im großen Stil an.
Zehn Personen, vom Geheimdienst sorgfältig ausgewählt, müssen 30 Tage unauffindbar bleiben. Wem es gelingt, der bekommt 3 Millionen Dollar Preisgeld. Siegt das System, winkt Baxter eine überirdisch hohe Summe und dem Staat die totale Überwachung.
Unter den zehn Auserwählten ist auch die eher mausgraue Bostoner Bibliothekarin Kaitlyn. Als auf ihrem Handy das Signal "Go Zero" erscheint, hat sie zwei Stunden Zeit, um zu verschwinden. Was niemand weiß: Sie ist weder durchschnittlich noch geht es ihr um die drei Millionen. Sie muss ein leben retten und hat nur diese eine Chance. Und die Jagd hat schon begonnen...
"Going Zero" heißt der atemberaubende Thriller von Anthony McCarten, der heute @diogenesverlag erschienen ist. Ein Buch, dem man nicht nur zum Geburtstag, sondern auch zu seinem künftigen Erfolg gratulieren darf, denn es wird mit Sicherheit seine Leserschaft finden.
Überwachungskapitalismus ist kein neues Thema, auch in der fiktiven Literatur, insbesondere in Form von Dystopien, hat es Hochkonjunktur. Dennoch habe ich selten so realistisch und spannend zugleich darüber gelesen.
Während Kaitlyns Geschichte den straff gespannten roten Faden der Erzählung bildet, werden wir Zeugen, wie die anderen "Zeros" nacheinander, mit unerbittlicher Effizienz und oft auf wenigen Seiten, hopps genommen werden. Das macht Spaß zu lesen, weil auch sie durchaus findig sind und man sich ständig bei dem Gedankenexperiment ertappt, wie und wo man selbst abtauchen würde. Andererseits stehen einem die Haare zu Berge, weil es angesichts der völlig aus dem Ruder gelaufenen Überwachung und unterschwelligen Einflussnahme und der digitalen Spuren, die wir ungewollt überall hinterlassen, faktisch kein Entrinnen gibt.
Gut platzierte Cliffhanger, geschickt gestreute Informationen lassen einen das Buch kaum aus der Hand legen. Es wirkt wie von leichter Hand geschrieben, und trotz tiefgründiger Recherchen des Autors wird die Geschichte nicht mit technischen Fakten oder politischen Traktaten überfrachtet. Sehr viel Sorgfalt ließ Anthony McCarten auch seinen Charakteren angedeihen. Sie alle sind als nahbare und widersprüchliche Persönlichkeiten gezeichnet, deren Leben am Ende nicht mehr dieselben sind.
Der Autor hat sich für seinen Roman von der wahren Geschichte eines verschwundenen CIA-Agenten inspirieren lassen. Er selbst, so viel verrät er im Nachwort, ist bekennender
Zero und in den sozialen Medien nicht zu finden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.04.2023

Knisternde Spannung

Wolfskinder
0

Oben auf dem Berg, inmitten einer rauen, unwirtlichen Natur, liegt die Siedlung Jakobsleiter, eine archaisch anmutende Gemeinschaft, deren Mitglieder biblische Namen tragen und ein abgeschiedenes, ...

Oben auf dem Berg, inmitten einer rauen, unwirtlichen Natur, liegt die Siedlung Jakobsleiter, eine archaisch anmutende Gemeinschaft, deren Mitglieder biblische Namen tragen und ein abgeschiedenes, einfaches Leben fernab der Zivilisation führen. Unter ihnen die Jugendlichen Jesse und Rebekka, die unten im Tal zur Schule gehen, wo die misstrauischen Dörfler - mit Ausnahme der Lehrerin und des Bürgermeisters - sie wie Aussätzige behandeln. Dennoch möchte Rebekka nichts mehr, als dem Berg zu entkommen. Und dann verschwindet sie plötzlich so spurlos wie mehrere junge Frauen aus der Gegend vor ihr. Ist Rebekka freiwillig gegangen? Ihr Freund Jesse hat Zweifel und begibt sich ebenso auf die Suche wie die junge Redaktionsvolontärin Smilla. Diese hat vor zehn Jahren auf dem Berg beim Campen ihre direkt neben ihr schlafende Freundin Juli verloren und wird seitdem von einer Art „Überlebensschuld“ verfolgt und am Leben gehindert. Als Einzige (das ist ein bisschen unwahrscheinlich, aber sei‘s drum) sieht sie eine Verbindung zwischen den Vermisstenfällen. Als ihr dann noch ein verwildertes kleines Mädchen vor das Auto läuft, das Juli erstaunlich ähnlich sieht und dessen Identität nun öffentlich geklärt werden muss, ist nicht nur Smilla nicht mehr zu bremsen. Das latente Misstrauen der Dörfler schlägt jetzt in nackte Gewalt gegen die Berggemeinschaft um, doch dann kommt die junge Journalistin hinter ein Geheimnis, das alles verändert…

Vera Buck hat mit „Wolfskinder“ einen atmosphärisch dichten und stets etwas düsteren Roman vorgelegt, der sich wie ein herangrollendes Unwetter am Berg mit unheimlicher Ruhe Seite um Seite zu einem Thriller mausert, und den ich nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die Autorin, die bereits mit ihrem Debütroman „Runa“ Leserschaft und Kritik zu überzeugen wusste, schreibt auch hier leicht und elegant und bringt den Lesenden ihre sorgsam ausgearbeiteten Charaktere schnell nahe. Besonders die kleine wilde, schlaue und doch beunruhigende Edith weckt einerseits Mitgefühl und Sympathie und sorgt zugleich für aufgestellte Nackenhaare. Aus den Perspektiven der sehr unterschiedlich angelegten Figuren wird die Geschichte Stück für Stück erzählt, gut platzierte Cliffhanger und raffiniert gestreute Hinweise sorgen für wachsende Spannung, bis sich am Ende alles so überraschend anders wie überzeugend schlüssig fügt. Absolute Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.11.2022

Unglaublich gut

Zwischen den Welten
0


Von iranischer Erzählliteratur kann ich nicht genug bekommen, aber den Sachbüchern wollte ich eigentlich keinen neuen Titel hinzufügen. Doch dann legte mir ein lieber Mensch, dem ich auch meinen Bookbeat-Account ...


Von iranischer Erzählliteratur kann ich nicht genug bekommen, aber den Sachbüchern wollte ich eigentlich keinen neuen Titel hinzufügen. Doch dann legte mir ein lieber Mensch, dem ich auch meinen Bookbeat-Account verdanke, das Hörbuch „Zwischen den Welten“ von Natalie Amiri ans Herz. Reinhören könnte ich ja mal, dachte ich während des Hundespaziergangs...und lief und lief und lief...

„Jede Geschichte, die ich erzählen wollte, war begleitet von Herzklopfen und dem Gefühl, dieses Mal holen sie dich, dieses Mal kommst du nicht davon. Dabei hoffte ich inständig, dass sich das Risiko lohnt, dass diejenigen, die mir im Westen zuhörten, den Iran nach meinen Berichten differenzierter sehen würden: Hört hin, schaut hin! [...] Hier gibt es Menschen, die darauf hoffen, dass ihr sie unterstützt. Dass ihr sie erkennt. Dass ihr ihren Durst nach Freiheit seht und begreift. Ihren Wunsch, ein anerkannter Teil dieser Welt zu sein.“

Von 2015 bis 2020 hat Natalie Amiri als leitende ARD-Korrespondentin aus Teheran berichtet. Bis es tatsächlich zu gefährlich wurde. Ihre Erfahrungen hat sie nun in einem fesselnden und sehr persönlichen Buch veröffentlicht. Geschrieben in einer Mischung aus professioneller Distanz und Herzblut, die samt fundierter Recherche und präziser Einordnung zu gutem Journalismus beiträgt. Dass sie außerdem eine stilsichere, brillante Erzählerin und trainierte Sprecherin ist, macht das Ganze zu einem großen Hörvergnügen.

Kapitel für Kapitel setzt die Journalistin das vielschichtige, funkelnde, herzzerreißende, absurde Mosaik des gegenwärtigen Iran zusammen. Differenziert, spannend, aus erster Hand. Solidarisch mit der Zivilgesellschaft, schonungslos gegenüber dem Mullah-Regime.

Natalie Amiri erzählt vom Alltag in einer nahezu schizophrenen Parallelgesellschaft, in die eine religiöse und brutale Tyrannei die Iraner zwingt und als Volk spaltet. Hinter deren verschlossenen Türen nicht nur freies Gedankengut blüht, sondern auch maßlos Alkohol und Drogen konsumiert werden und psychische Krankheiten wuchern wie sonst kaum irgendwo.

Unerträglich wird das ganze aber nie. Anekdoten wie die vom anrührenden Wiederfinden eines uralten Familienteppichs und persönliche Erlebnisse wechseln mit Reportagen über mutige Frauen, die Kraft der sozialen Medien, die Beziehungen zu Israel oder auch die abgelauschten Kniffe eines iranischen Geschäftsmannes.
Vor allem aber berichtet sie von der Sehnsucht nach Freiheit, nach ein bisschen Normalität in diesem zerrissenen und erschöpften Land.

Um ihre Geschichten und die Botschaften zwischen den Zeilen zu transportieren, riskieren Natalie Amiri und ihr Team nicht nur ihre Pressekarten, sondern auch ihre eigene Unversehrtheit.
Eher amüsant ist da noch die Szene, in der die Autorin während einer Reportage in einem Sumpf zu versinken droht, weil der iranische Producer ihr als Frau nicht die Hand reicht, um sie herauszuziehen. Das an beiden Enden gepackte Mikrofon ist schließlich die Rettung.

Das Buch steht inzwischen auch gedruckt in meinem Regal, zum Nachlesen und Verleihen, denn ich habe selten etwas Stimmigeres gehört.
Wer es gelesen hat, wird den Iran und seine Menschen in Farbe sehen können und keinen (Exil)-Iraner mehr in die vertrackte Lage bringen, die Verhältnisse in seiner Heimat relativieren, gar beschönigen oder zur Verteidigung auf 3000 Jahre Kulturgeschichte verweisen zu müssen.
Ihre Intention, den Menschen im Iran eine Stimme zu geben, hat Natalie Amiri meiner Meinung nach bestens umgesetzt.



  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.11.2022

Raffiniertes Schelmenstück

Die Kobra von Kreuzberg
0

Die Stadt glüht, der Asphalt schlägt Blasen und selten verschwinde ich so schnell und freiwillig in der U8. In den Tunneln unter Berlin ist es derzeit noch am ehesten auszuhalten, dort, wo ich seit kurzem ...

Die Stadt glüht, der Asphalt schlägt Blasen und selten verschwinde ich so schnell und freiwillig in der U8. In den Tunneln unter Berlin ist es derzeit noch am ehesten auszuhalten, dort, wo ich seit kurzem aus dem Waggon heraus grinsend in die dunklen Schächte der Nebengleise starre, denn ich weiß jetzt Bescheid…
Es ist eiskalt und Silvester, als Beverly Kaczmarek - einziger weiblicher Spross eines polnischen Diebesclans internationaler Reichweite - beschließt, nichts weniger als die Quadriga vom Brandenburger Tor zu stehlen. Denn seit sie beim letzten Coup im Marmorpalais auf dem Rückweg durchs Fenster eine der beiden Wedgewood-Vasen zu Bruch gehen ließ, kriegen sich die lieben Verwandten in den absurdfarbenen Trainingsanzügen gar nicht mehr ein. Insbesondere die Brüder, die derweil Fabergé-Eier aus der Eremitage entwenden, lassen es an Schmäh nicht fehlen. Etwas unübertroffen Großes muss her, das die Positionen ein für allemal klärt.
Ein herrlich wild-schräg-absurdes (Lese)-Abenteuer beginnt. Nicht eigentlich spannend, aber ein großer Spaß voller Wortwitz, lustvoll auf die Spitze getriebenen Klischees, skurrilem Personal von Wetteranarchist bis Mafiaboss, pointierten Dialogen, trashigen Storyschlenkern und zahllosen Referenzen, die Michel Decar wie ein Feuerwerk auf den Leser niedergehen lässt. Geschrieben im Tempo der Großstadt und der lakonische-schnodderigen Tonart, die man dem neuköllngefärbten Kreuzberg und der kratzbürstigen Meisterdiebin ohne Blinzeln abnimmt. Nicht hundertprozentig sympathisch, aber immer schlagfertig, sehr komisch, ein bisschen dreckig. Hier kennt sich einer aus.
Was in den Tunneln unter Berlin so lauert, ob die Quadriga am Ende noch auf dem Tor steht und wie Beverly die Liebe findet und mit einigen Trainingsanzügen abrechnet, könnt und sollt ihr unbedingt selbst nachlesen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere