Amanda Sthers entführt uns in "Caffè sospeso" in die Welt des Café Nube und präsentiert sieben Kurzgeschichten rund um seine Besucher:innen.
Caffè sospeso"Wenn man die Augen schließt, hört man die Wäsche, die im Wind tanzt wie Fahnen, die flirrenden Masten der Schiffe, die Stimmen, die in der Ferne lachen oder schreien, das Tyrrhenische Meer, das kommt ...
"Wenn man die Augen schließt, hört man die Wäsche, die im Wind tanzt wie Fahnen, die flirrenden Masten der Schiffe, die Stimmen, die in der Ferne lachen oder schreien, das Tyrrhenische Meer, das kommt und geht, ein paar wendige Vespas, und dieser bunt gemischte Chor besagt, dass ein Weg bereitet ist für alle, die den Fuß auf neapolitanischen Boden setzen. In Neapel gilt ein Gebot, das sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat: Die Geschichte verläuft hier in Schleifen, denen man sich fügen muss, es gibt ein ausgeprägtes Gespür für das Schicksal. Man entkommt dem nicht, was die Stadt ins Buch unseres Lebens eingeschrieben hat, man muss da- mit verschmelzen, wie man sich, auch wenn man Angst hat, in den Armen des geliebten Menschen fallen lässt." - Buchzitat (S. 1)
Ein Besuch im Café Nube in Neapel birgt mehr als nur eine Tasse Kaffee – es ist eine Einladung, dem Leben anderer zuzuhören und sich von ihren Geschichten berühren zu lassen. In "Caffè sospeso" erzählt Amanda Sthers in sieben Kurzgeschichten von Begegnungen, Verlusten und der Menschlichkeit, die sich zwischen den dampfenden Tassen entfaltet.
Der Protagonist des Romans, in diesem Fall der französische Autor Jacques Madelin, führt uns durch das Gewirr der neapolitanischen Straßen und Herzen, während er die Geschichten der Menschen um ihn herum enthüllt, die, wie er, das Café Nube besuchen. Diese Geschichten, die zwischen 1982 und 2022 angesiedelt sind, bieten einen facettenreichen Einblick in die menschliche Natur und ihre Verbindungen. Wir folgen aber nicht nur den Erzählungen der Figuren, sondern auch der persönlichen Reise des Protagonisten Jacques Madelin, dessen eigene Geschichte uns ebenso enthüllt wird. Manche Figuren tauchen in mehreren Geschichten auf wie alte Bekannte, manche kommen nur in einer Geschichte vor.
Besonders fasziniert und angetan war ich von der poetischen Beschreibungen Neapels, die mir das Gefühl gab, so richtig in das "dolce vita" Neapels einzutauchen und dem Buch eine besondere Lebendigkeit gegeben haben. Leider dominiert meiner Meinung nach das Thema (heterosexuelle) Liebe in fast allen Erzählungen, was sehr schade ist, da ich mir hier wirklich vielfältigere Themen und Lebensentwürfe gewünscht hätte. Zwar werden wichtige gesellschaftsrelevante Themen wie Rassismus, Heteronormativität, Homosexualität, Transsexualität, Patriarchat, Emanzipation, Schönheitsideale, Identität, Feminismus subtil angeschnitten, doch bleibt das Potenzial, diese weiter auszuarbeiten, ungenutzt.
Ein weiterer Kritikpunkt liegt in der teilweise vulgären Sprache und dem problematischen Frauenbild, das in einigen Geschichten präsentiert wird. Frauen werden oft durch den "male gaze" beschrieben und stereotypisiert, was dem sonst vielschichtigen Erzählstil einen bitteren Beigeschmack verleiht. Trotz dieser Mängel bietet "Caffè sospeso" faszinierende Einblicke in die neapolitanische Kultur, sei es durch die Darstellung der Mafia, religiöse Bezüge oder die mythologischen Elemente, die eine wichtige Rolle spielen. Teilweise hatte ich auch Mühe, die Personen auseinanderzuhalten. Manche Aussagen fand ich auch grotesk oder gar widerlich:
"Wie das Schicksal so spielt, sollte sich Rechtsanwalt Pericone eines Tages unsterblich in eine gewisse Flavia verlieben, die ihm zwar keine Kinder würde schenken können, ihm aber einen blasen konnte, wie nur ein Mann es vermag..." - Buchzitat (S. 26)
"Dieses Kind ist noch immer sehr präsent im Körper der erwachsenen Frau, die nicht besonders groß geworden ist und deren Brüste noch nicht einmal eine Männerhand ausfüllen würden." - Buchzitat (S. 65/66)
"Ich weiß nicht, ob ich alte Paare wirklich so reizend finde, diese Ansammlung von welker Haut und Bauchgeräuschen, an die sie sich gewöhnt haben, wie in einem Familiengrab, in dem lauter Körper zu verwesen beginnen." - Buchzitat (S. 112)
"Der Architekt nannte sie »Zigarren-Anzünder<<< und Francesco »die Hauptspeise, sie war ein bisschen zu rund für seinen Geschmack, was er wirklich liebte, waren die kleinen Desserts<<. Die Männer sind immer hart zu denen, die besonders weich sind." - Buchzitat (S. 155)
Meine persönliche Lieblingsgeschichte ist die von Doktor Chen. Ich durfte neues über die Mafia lernen und man erfährt auch viel über die Beziehung zur Religion, Heiligenfiguren und Schutzpatronen, Mythen, Sagen und Gottheiten die eine wichtige Bedeutung für viele Menschen in Neapel zu haben scheinen. Und hier noch einige meiner Lieblingszitate aus dem Buch:
"Worte werden nur lebendig, wenn sie von Schweigen unterbrochen sind; auch in unserem Körper gibt es Leerstellen, unsichtbar schreibt sich das Schicksal in uns ein, das wir mit uns herumtragen wie die Narben alter Wunden." - Buchzitat (S. 92)
"Wir sind nichts als eine Hand, die man jemandem reicht oder die man ergreift. Wenn die Erde bebt und das Leben vergeht, vergrößert all unser Krimskrams die Trümmerhaufen nur noch." - Buchzitat (S. 140)
"Italien ist ein Land, in dem man auch nachts immer eine Möglichkeit findet, um Blumen zu kaufen. Das sagt alles. Über den Umgang mit Unglück, mit Freude, mit Symbolen und mit Leidenschaft." - Buchzitat (S. 173)
Insgesamt bietet das Buch eine ansprechende Mischung aus Tradition, Moderne und menschlichen Begegnungen, die zum Nachdenken anregen. Während einige Geschichten mehr Tiefe verdient hätten und ich die Darstellung der weiblichen Figuren teilweise problematisch fand, hat mich "Caffè sospeso" durch seine atmosphärische Dichte und die kurzweiligen Geschichten trotzdem weitestgehend unterhalten. Daher vergebe ich 3 von 5 Sternen.
"Jetzt, da ich alt werde, habe ich den Eindruck, dass ein caffè sospeso manchmal wertvoller ist als ein Kunstwerk. Für den, der gibt, steckt ebenso wie für den, der empfängt, ein Stück Leben in dieser Tasse, die der eine sich in seiner Fantasie vorstellt und der andere aus unbekannten Händen entgegennimmt. Was hier verschenkt wird, ist nicht ein Kaffee, sondern die Welt darum herum, das Spektakel, das man mit anderen teilt, die Blicke, die sich kreuzen, Menschen, die liebenswert sind. - Buchzitat." (S. 14)
Das Buch war ein Rezensionsexemplar. Dies hat die Bewertung nicht beeinflusst.