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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 22.09.2019

Gut durchkomponiert

Cherubino
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Cherubino erzählt von einer Frau in schwieriger Situation. Die Wienerin Iris ist Mezzossopran, eine engagierte Sängerin, die jetzt endlich davorsteht, beruflichen Erfolg zu haben. Sie kann Cherubino aus ...

Cherubino erzählt von einer Frau in schwieriger Situation. Die Wienerin Iris ist Mezzossopran, eine engagierte Sängerin, die jetzt endlich davorsteht, beruflichen Erfolg zu haben. Sie kann Cherubino aus Mozarts Die Hochzeit des Figaro an der Met in New York singen und außerdem Sophies Choice. 2 wichtige Rollen, die ihr den großen Durchbruch bringen könnten.
Da merkt sie, dass sie schwanger ist. Aber ob das Kind von ihrem Freund Sergio ist oder von ihrem heimlichen Geliebten, Ludwig, der außerdem schon verheiratet ist, weiß sie nicht.
Die österreichische Schriftstellerin Andrea Grill lässt die Emotionen von Iris lebendig werden. Iris muss berufliche Anforderungen und den Zustand der Schwangerschaft in Einklang bringen, außerdem erzählt sie unabhängig voneinander gleich beiden Männern, sie wären der Vater.
Die Autorin strukturiert den zeitlichen Verlauf über die ganzen 9 Monate, die den Roman umfassen. Damit hat sie den Roman gut durchkomponiert.
Es ist ein stimmungsvolles Buch, durchaus ein Genuss, es zu lesen.

Veröffentlicht am 14.08.2019

Leben in einem sterbenden Land

Nacht in Caracas
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Karina Sainz Borgo erzählt in ihrem Debütroman Nacht in Caracas vom Leben in Venezuela. Es ist die gefährlichste Stadt der Welt, gemessen an Tötungsdelikten. Außerdem herrscht Armut. Selbst alltägliches ...

Karina Sainz Borgo erzählt in ihrem Debütroman Nacht in Caracas vom Leben in Venezuela. Es ist die gefährlichste Stadt der Welt, gemessen an Tötungsdelikten. Außerdem herrscht Armut. Selbst alltägliches ist oft nur schwer zu bekommen und stets fehlt das Gefühl der Sicherheit. Entsprechend zerrüttet ist die Gesellschaft.
Dieses negative Lebensgefühl wird exemplarisch durch die Hauptfigur und Icherzählerin Adelaida ausgedrückt, die zu Beginn des Romans gerade ihre Mutter, eine gebildete Frau und Lehrerin, zu Grabe tragen muss.
Der Tod der Mutter ist ein schwerer Verlust für Adelaida, sie verliert dann auch noch ihre Wohnung und sie droht sich selbst zu verlieren.
Adelaide steht stellvertretend für viele junge Menschen. Sie ist intelligent und gebildet, aber sie bekommt keine Chance. Sie kann nur hoffen zu überleben und vielleicht irgendwie das Land zu verlassen. Auch darum ist dieses Land, das sich auch momentan in einer schweren Krise befindet ein sterbendes Land.
Es ist also recht bedrückend zu lesen, aber wie die Autorin die Sprache einsetzt und einen eigenständigen Ton erzeugt, überzeugt sehr. Die in Caracas geborene, jetzt aber in Spanien lebende Autorin, ist zwar Journalistin, aber der Text wirkt nicht direkt dokumentarisch. Ihre Form ist wirklich Literatur und vermittelt ein Bild von Lateinamerika, wie es die meisten deutschen Leser, die davon weit entfernt sind, nicht kennen. Das erzeugt Verstehen und Empathie. Man versteht auch, dass man in Deutschland privilegiert ist.

Veröffentlicht am 04.07.2019

Beschreibungen voller Atmosphäre

Das Haus am Kanal
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Ein interessantes Buch des Maigret-Autors, ganz ohne Maigret und ohne direkte Krimielemente. Die psychologische Figurenführung ist im Vordergrund.
Nach dem Tod des Vaters muss die 16jährige Edmée von Brüssel ...

Ein interessantes Buch des Maigret-Autors, ganz ohne Maigret und ohne direkte Krimielemente. Die psychologische Figurenführung ist im Vordergrund.
Nach dem Tod des Vaters muss die 16jährige Edmée von Brüssel zur ihrer Tante und ihrer Familie ziehen. Es ist ein ländlicher Raum, die Menschen dort bäurisch geprägt. Das Stadtmädchen wirkt wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung.
Zu ihren Verwandten hat sie kaum Bezug und sie will sich ihre Eigenschaften bewahren. Anstatt zu nähen und Hausarbeit interessiert sie sich für medizinische Bücher und hat den Wunsch Medizin zu studieren, was sich wohl kaum realisieren lässt.
Mit ihrer Tante kann sie sich nicht verständigen. Die spricht nur Flämisch und sie nur Französisch. Bezugspunkt werden daher ihre Cousins. Eine unterschwellige Anspannung und latente Bedrohung stehen im Raum.
Es gibt von Georges Simenon unglaublich starke Beschreibungen der Umgebung. Eine starke Atmosphäre entsteht.

Der Roman ist von 1933, hat aber nichts Altmodisches an sich. Der Text hat in seiner Gesamtheit Gültigkeit.
Ich persönlich bin bisher kein Simenon-Fan gewesen und war daher erstaunt, was für eine mächtige Wirkung das Buch auf mich hatte.

Veröffentlicht am 03.06.2019

Kristallkind

Der glücklichste Sommer unseres Lebens
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Der glücklichste Sommer unseres Lebens von Ondine Khayat ist ein angenehm zu lesendes und berührendes Buch. Die Buchgestaltung mit Cover und Titel deutet auf betont unbeschwerte und leichte Kost hin. Aber ...

Der glücklichste Sommer unseres Lebens von Ondine Khayat ist ein angenehm zu lesendes und berührendes Buch. Die Buchgestaltung mit Cover und Titel deutet auf betont unbeschwerte und leichte Kost hin. Aber die Handlung ist tiefsinnig und daher hochwertigere Kost als man denken sollte.
Mit feinfühliger Psychologie zeigt die Autorin Ondine Khayat dem Leser die Gefühlswelt eines neunjährigen Mädchens in Paris.
Colline ist sehr sensibel und hat ein hohes Einfühlungsvermögen. Das macht sie aber auch anfällig und wenn sie spürt, wie ihre Eltern sich streiten, leidet sie besonders. Als ihr Eltern sich scheiden lassen wollen, ist sie traurig und fühlt sich sogar verantwortlich. Die fast 70jährige Clelie beschließt, die verstörte Colline für die Dauer der Sommerferien bei sich aufzunehmen, damit sie sich seelisch wieder erholen kann. Zusammen mit ihren liebenswerten Nachbarn kümmern sie sich um das Leben. Da gibt es einige amüsante Passagen und die Begegnung mit diesen liebevollen Menschen hilft Colline, wieder fröhlicher zu werden.
Colline freundet sich außerdem mit einem gleichaltrigen Jungen an, der ebenfalls Probleme hat.

Das wirkt wie eine Therapie und fast glaube ich, dass der Leser gleich mittherapiert wird.
Der Hinweis am Schluß des Buches, das man mit so sensiblen Menschen besonders sorgsam umgehen muss, halte ich für treffend.

Veröffentlicht am 11.05.2019

Babushka mit Power

Der Zopf meiner Großmutter
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Der Zopf meiner Großmutter ist die emotionale Geschichte eines Jungen, der mit seiner Großmutter und Großvater aus Russland nach Deutschland emigrierte.
Ein grimmiger Humor bestimmt das Buch.
Erzählt wird ...

Der Zopf meiner Großmutter ist die emotionale Geschichte eines Jungen, der mit seiner Großmutter und Großvater aus Russland nach Deutschland emigrierte.
Ein grimmiger Humor bestimmt das Buch.
Erzählt wird die Geschichte aus Kinderperspektive. Max ist ein Junge, der von seiner herrischen Großmutter mit rabiaten Mitteln behütet wird. Obwohl Max offensichtlich ein intelligenter Junge ist, hält sie ihn für einen körperlich wie geistig beschränktes Kind und nennt ihn oft Schwachkopf oder Idiot.
Die Großmutter hatte Vergangenheit Verluste hinzunehmen und bleibt in der neuen Umgebung fremd, aber das entschuldigt nicht alles. Sie hat den Hang zur Tyrannin! Deswegen ist trotz des humorvollen Erzähltons die Geschichte streckenweise tragisch. Mit der Zeit beginnt für Max eine Zeit der Befreiung als die Großmutter den eisernen Griff lockert.

Erstaunlich und bemerkenswert übrigens, dass die Autorin ihre Sympathien für die Figur der Großmutter durchblicken lässt, denn diese ist eine starke Persönlichkeit.
Max und sein Großvater bleiben hingegen immer passiv.

Das ist sprachlich originell und gut gemacht! Alina Bronsky hat schon einige gute Romane geschrieben, in denen es um die Schwierigkeit der Integration geht, aber auch um die Chancen, die dabei entstehen. Der Zopf meiner Großmutter ist genauso gut wie Alina Bronskys frühe Romane Scherbenpark und Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche.

In der Hörbuchversion liest die großartige österreichische Schauspielerin Sophie Rois, die mit ihrer kratzigen Stimme gut zur exzentrischen Großmutter passt, aber auch die Kinderstimme mühelos beherrscht.