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Veröffentlicht am 31.03.2025

Mütter und Töchter

Halbinsel
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"Inzwischen habe ich begriffen, es grenzt an ein Wunder, wenn man geliebte Menschen um sich hat und sie nicht zu früh verliert."

Als Linn, die Tochter der Protagonistin Annett, bei einer Tagung in Ohnmacht ...

"Inzwischen habe ich begriffen, es grenzt an ein Wunder, wenn man geliebte Menschen um sich hat und sie nicht zu früh verliert."

Als Linn, die Tochter der Protagonistin Annett, bei einer Tagung in Ohnmacht fällt, fährt diese voller Angst sofort zu ihr. Die nächsten Wochen und Monate verbringen Mutter und Tochter gemeinsam. Aber die Angst hat etwas in Annett ausgelöst und sie denkt an die letzten Jahre zurück: An ihre Ehe, die mit dem unerwarteten Tod des Ehemanns abrupt endete, an das Großziehen der Tochter, an Geldsorgen und Beziehungen... Gleichzeitig nähern sich Mutter und Tochter an und versuchen, zu einem neuen Miteinander im Alltag zu finden.

"Halbinsel" ist ein Roman über eine Mutter-Tochter-Beziehung und darüber, was es bedeutet, Mutter zu sein, nicht nur in den ersten Jahren, sondern auch, wenn die Kinder schon erwachsen sind. Aber der Roman ist noch viel mehr als das: Er erzählt von Verlust und von Einsamkeit, von den Höhen und Tiefen, die das Leben ausmachen und wie nebenbei auch von den gesellschaftlichen Problemen unserer Zeit.

Was mich so fasziniert hat, ist die Zerbrechlichkeit, die Kristine Bilkau einzufangen weiß, ohne, dass es gewollt oder künstlich herbeigeschrieben wirkt. Deshalb habe ich auch der inneren Stimme der Protagonistin so gerne gelauscht, weil sie klar wiederhallt und weil das, was Annett fühlt, ihre Ängste, Sorgen und Selbstzweifel, aber auch ihre Liebe und ihre Fürsorge, so nah und greifbar sind.

"Halbinsel" ist ein wunderbares Buch, das die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse also absolut verdient hat und ich drücke Donnerstag ganz fest die Daumen!

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Veröffentlicht am 31.03.2025

Menschen werden zu Bäumen

Stammzellen
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"Wie es sich wohl anfühlt, fragt sie sich? Ob man wirklich nichts davon spürt? Ob man einfach in den Zustand übergeht? Oder ob man doch stirbt?"

Menschen werden zu Bäumen. In Alina Lindermuths Roman "Stammzellen" ...

"Wie es sich wohl anfühlt, fragt sie sich? Ob man wirklich nichts davon spürt? Ob man einfach in den Zustand übergeht? Oder ob man doch stirbt?"

Menschen werden zu Bäumen. In Alina Lindermuths Roman "Stammzellen" ist das eine neuartige Krankheit, die sich global ausgebreitet hat. Bei der sogenannten Dendrose verwandeln sich die Körper von Menschen allmählich in Wurzeln, Rinde und Äste. Die Gründe für die Krankheit sind zunächst unbekannt und auch eine Aussicht auf Heilung gibt es nicht.

Ronja ist Ärztin und betreut die betroffenen PatientInnen und ihre Familien. Als sie Elio kennenlernt, der über Sprichwörter forscht, verliebt sie sich. Fortan versuchen die beiden in einer Welt, die zunehmend unsicherer wird, sich ein gemeinsames Leben aufzubauen.

DIe Natur schlägt in "Stammzellen" zurück, indem sie den Menschen auf radikale Art und Weise wieder zu einem Teil von ihr werden lässt. Sie zwingt ihn dazu, sich zu verwurzeln, sich in das Ökosystem einzufügen und zum natürlichen Gleichgewicht beizutragen. Dem gegenüber steht der von menschengemachte Klimawandel, der währenddessen voranschreitet und zu Umweltkatastrophen führt.

Lindermuth nähert sich ausgehend von dieser originellen Grundidee der Beziehung zwischen Mensch und Natur und dem Umgang des Menschen mit der Natur an. Es ist diese Grundidee, die den Roman zunächst ausmacht, sich allerdings im letzten Drittel ein wenig verliert, da dann der Fokus vor allem auf der Beziehung der beiden Hauptfiguren liegt. Die Entwicklung der Beziehung ist zwar nicht schlecht erzählt und auch das Ende ist durchaus stimmig, aber sie nimmt unerwartet und meiner Ansicht nach unnötig viel Raum ein.

Im Gesamten ist "Stammzellen" jedoch ein kluger Roman, der sich Themen widmet, die für unsere Zeit von Bedeutung sind - und das auf besondere Art und Weise.

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Veröffentlicht am 31.03.2025

Losgelöst von der Erde

Umlaufbahnen
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Ein Raumschiff kreist durch den Orbit. In ihm befinden sich vier AstronautInnen und zwei Kosmonauten. Einen Tag lang begleiten wir sie. Ein Tag, der aus sechzehn Umlaufbahnen besteht.

Raum und Zeit gewinnen ...

Ein Raumschiff kreist durch den Orbit. In ihm befinden sich vier AstronautInnen und zwei Kosmonauten. Einen Tag lang begleiten wir sie. Ein Tag, der aus sechzehn Umlaufbahnen besteht.

Raum und Zeit gewinnen so eine neue Bedeutung: Der Tag ist nicht mehr vierundzwanzig Stunden lang, er setzt sich zusammen aus fünf Kontinenten, aus mehreren Jahreszeiten und unterschiedlichen Landschaften.

Losgelöst von der Erde verändern sich Wahrnehmungen und Perspektiven: Die Erde wird zu einer Mutter, zur einzigen Heimat, denn der Mensch ist ein Fremdkörper im All. Und nicht nur das, er ist unbedeutend, unwichtig: Nichts dreht sich um ihn, seine Existenz ist aus dem All kaum sichtbar. Lediglich in der Nacht macht sie sich durch die Lichter der großen Städte bemerkbar. Kriege, Grenzen, Konflikte, Nationalitäten: Aus dem All betrachtet ist all das ohne Belang.

"Umlaufbahnen" ist in dieser Hinsicht anti-anthropozentristisch, stellt aber gleichzeitig die Bedeutung der einzelnen Wahrnehmungen und das Individuum in den Vordergrund. Es ist das Bewusstsein und auch das Schicksal der Einzelnen in der Raumkapsel, die die Erzählung tragen. Die Gedanken und Gefühle der AstronautInnen reisen mit ihnen durch den Orbit und machen den Blick auf das sie Umgebenede aus, machen es überhaupt erst erzählbar.

Es ist unheimlich faszinierend, wie Samantha Harvey es schafft, vom Raumschiff aus das Menschsein einzufangen und Bezug zu nehmen auf die Probleme unserer Zeit. "Umlaufbahnen" ist so viel mehr als nur ein Roman über das All. Es ist eine ergreifende, poetische Betrachtung dessen, was das Menschsein ist.

Großartig übersetzt von Julia Wolf.

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Veröffentlicht am 17.03.2025

Als Mädchen in einer Männerwelt

Schwimmen im Glas
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"Männer sind Genies. Frauen sind die Musen. Männer machen Arbeit. Frauen machen Essen. Männer machen Kunst. Frauen machen Wäsche. Männer machen. Frauen machen mit.”

Lore wächst in einem österreichischen ...

"Männer sind Genies. Frauen sind die Musen. Männer machen Arbeit. Frauen machen Essen. Männer machen Kunst. Frauen machen Wäsche. Männer machen. Frauen machen mit.”

Lore wächst in einem österreichischen Dorf auf. Während ihre Brüder im Wald herumtoben dürfen, verbringt Lore ihre Tage mit ihrer Großmutter. Am Beispiel der Großmutter lernt sie, was es bedeutet, einen Haushalt zu führen und den Ansprüchen des Großvaters stets gerecht zu werden und an ihrer eigenen Mutter erkennt sie, dass die Karriere von Frauen nicht an die der Männer heranreichen kann. Nur ihre Tante Ursula, die in der Stadt lebt, reist und malt, ist anders und zeigt Lore, dass auch ein anderes Leben möglich ist.

Es sind die patriarchalen Strukturen, die ihr Aufwachsen und ihre Sozialisierung prägen und es sind vor allem die Einschränkungen, die Lore wahrnimmt. Als Mädchen darf sie nicht das machen und wollen, was ihre Brüder machen. Aber dankbar sein soll sie trotzdem, denn auch das wenige, was sie darf, ist keine Selbstverständlichkeit.

Der Roman beobachtet mit klarem Blick, wie es ist, als Mädchen in einer Welt aufzuwachsen, die immer noch von Männern bestimmt ist. Er erzählt vom Ausbrechen, vom sich Widersetzen und zeichnet mit Lore und Tante Ursula das Leben von Frauen nach, die sich nicht den Regeln unterwerfen.

Die Autorin widmet sich wichtigen Themen, fasst kluge Gedanken, erzählt stringent und nachvollziehbar. Deshalb: Eine Empfehlung!

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Veröffentlicht am 30.01.2025

Eine Geschichte in der Geschichte

Wackelkontakt
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Der Trauerredner Franz Escher, der seit Jahren leidenschaftlich gerne Puzzles zusammensetzt, liest neuerdings Bücher über die Mafia. Während er eines Tages auf den Elektriker wartet, liest er ein Buch ...

Der Trauerredner Franz Escher, der seit Jahren leidenschaftlich gerne Puzzles zusammensetzt, liest neuerdings Bücher über die Mafia. Während er eines Tages auf den Elektriker wartet, liest er ein Buch über den jungen Ex-Mafioso Elio Russo, der im Zeugenschutzprogramm steht und eine neue Identität und Heimat bekommt. Fortan heißt er Marko Steiner.
Und dieser Elio/Marko wiederum fängt an, ein Buch über einen Franz Escher zu lesen, der auf den Elektriker wartet.

Wolf Haas stellt in der Geschichte einen Bezug zu Bildern wie die "Drawing Hands" von M. C. Escher her und genau so mutet auch der Roman an. Er spielt mit Illusionen, mit Wirklichkeit und auch mit den Erwartungen der LeserInnen.

Beeindruckend ist, dass Haas zu keinem Zeitpunkt die Fäden aus der Hand verliert. Die Dynamik der Geschichte und die in jeder Hinsicht gekonnt umgesetzte Verstrickung der Handlungsstränge, zeugen von Haas' schriftstellerischem Talent. Die matroschka-artige Verschachtelung der Geschichte vermag zu fesseln und der Begriff des Page-Turners ist hier absolut angebracht!

Ein kleiner Kritikpunkt zum Schluss: Das Ende fand ich im Vergleich zur restlichen Geschichte etwas schwach und es hat sich nicht ganz so gut in den Rest integriert. Doch davon abgesehen ist "Wackelkontakt" ein spannender Roman, der aus der Reihe fällt und dessen Seiten einem nur so durch die Finger fliegen. Leseempfehlung!

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