Prächtiges Sittengemälde des Mittelalters und interessantes psychologisches Profil
Thüringen im 13. Jahrhundert: Die 2-jährige Gieslind überlebt als einzige den Angriff auf ihre Heimatburg. Aus Mitleid nimmt die Landgräfin von Thüringen die kleine Gisa in ihrem Haushalt als eines ihrer ...
Thüringen im 13. Jahrhundert: Die 2-jährige Gieslind überlebt als einzige den Angriff auf ihre Heimatburg. Aus Mitleid nimmt die Landgräfin von Thüringen die kleine Gisa in ihrem Haushalt als eines ihrer Kinder auf. Einige Jahre später stößt auch die kleine Ungarin Elisabeth dazu, die mit dem ältesten Sohn des Landgrafen verlobt wird. Schon bald verbindet die beiden Mädchen eine enge Freundschaft, die den Rest ihres Lebens andauern soll und Gisa alle Höhen und Tiefen Elisabeths miterleben lässt, die erst zur Landgräfin aufsteigt und später zur religiösen Fanatikerin. Elisabeths größter Wunsch ist es schon seit ihrer Kindheit, einmal eine Heilige zu werden ...
Die Figur der Gisa in diesem Buch ist rein fiktional, während die der Elisabeth auf einer Unmenge an historischem Quellenmaterial beruht, wie dem umfangreichen Nachwort zu entnehmen ist. Durch Gisa und ihre Perspektive erlebt man Elisabeth jedoch hautnah und Gisa ist es auch, die eine modernere Sicht auf Elisabeths Verhalten erlaubt. Sie ist schon fast ein rationaler Gegenpol, bleibt aber trotzdem bis zum Ende mit Elisabeth verbunden.
Zunächst beginnt dieser opulente Roman mit verschiedenen Handlungssträngen. Neben Gisa und ihrer Ich-Perspektive wird das Leben am Hof auch von einem auktorialen Erzähler geschildert. Zudem gibt es den Handlungsstrang um Primus, einem Jungen aus der Schicht der Ärmsten, die von der Hand in den Mund leben, und den Handlungsstrang und Kreuzritter Raimund von Kaulberg, der immer wieder auf die zahl- und oft fruchtlosen Kreuzzüge geht, die von Kirche und Kaiser ausgerufen werden. Die verschiedenen Stränge bieten einen unglaublich umfassenden Blick über die Lebensverhältnisse und die politische Situation in Deutschland im 13. Jahrhundert. An Primus wird deutlich, wie schlecht es den ärmeren Bevölkerungsschichten geht, während die spätere Landgräfin Elisabeth sich anfeinden lassen muss, weil sie sich der Pflege der Armen und Kranken widmet und dabei viel Geld ausgibt. Immer wieder fiebert man mit Primus, dass er auf seinen Diebestouren nicht erwischt wird, dass er endlich eine Anstellung findet, die seine Familie ausreichend ernährt, dass keines seiner Geschwister stirbt. Sabine Weigand beschreibt so eingängig, dass man immer mitten im Geschehen ist. Sie spart die epochenüblichen Grausamkeiten nicht aus, aber sie wälzt sie auch nicht aus, sondern berichtet sie knapp und sachlich. Zunehmend finden die Handlungsstränge zusammen, bis sie am Ende komplett verschmelzen und keine losen Fäden übriglassen.
Die politischen Verstrickungen werden verständlich und der Wahnsinn der Kreuzzüge nachspürbar. Alle paar Jahre bricht ein Heer gen Jerusalem auf, das schon beim letzten Mal nicht erobert werden konnte oder gar wieder verloren wurde. Gleichzeitig entsteht in Europa die Armutsbewegung, aus der verschiedene neue Orden, aber auch angebliche Ketzerreligionen hervorgehen. Und mittendrin steigert sich Elisabeth von Thüringens eigener religiöser Wahn, aufgepeitscht von dem fanatischen und sadistischen Prediger Conrad von Marburg. In ihrem Bedürfnis, durch das Helfen heilig zu werden steigert sie sich bis zur Selbstverleugnung, gefährdet schließlich ihre Kinder und sich selbst und macht sich mächtige politische Feinde. All das wird absolut nachvollziehbar, auch wenn man selbst nie so handeln würde. Und auch wird deutlich, dass hinter all dem Helfen immer doch sehr egoistische Motive stehen (können). Auch wenn die Religion hier eine große Rolle spielt, sind viele der Betrachtungen zur Wohltätigkeit allgemeingültig und auch auf die heutige Zeit anwendbar.
Diese Buch ist so eine geballte Wucht an Erzählkunst und Themen, dass es schwer in Worte zu fassen ist. Trotzdem bleiben die Figuren nahbar, es mangelt nicht an Liebesgeschichten, aber auch die großen politischen Umwälzungen und der zunehmende Wahn einer einzelnen Frau, die noch heute umstritten ist, verweben sich perfekt zu einem prächtigen Sittengemälde des Mittelalters, das durchweg die Spannung aufrecht erhält und zu fesseln vermag. Das Buch zeichnet glaubhaft und interessant das psychologische Profil einer historisch verbürgten Heiligen und ihrer Umwelt nach.