Blick in den Abgrund: Ein wichtiges Buch, das hoffentlich nicht nur zum Nachdenken sondern auch zum Handeln anregt
In - Ganz unten - nimmt uns der Journalist Sascha Lübbe mit auf eine Recherche im Schatten der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Wobei im Schatten die Menschen leben, um die es geht, und die Regelungen ...
In - Ganz unten - nimmt uns der Journalist Sascha Lübbe mit auf eine Recherche im Schatten der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Wobei im Schatten die Menschen leben, um die es geht, und die Regelungen stattfinden, denen sie unterworfen sind, ganz offen ist hingegen das Ergebnis, welches sie erwirtschaften, die Häuser, die sie bauen, die Wurst, die sie herstellen, die Waren, die sie liefern. Wir alle profitieren davon, und doch wissen wir nur wenig über die Bedingungen unseres Wohlstands und die Menschen, die diesen mit erwirtschaften, nicht selten auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit und eines Familienlebens in ihren Herkunftsländern.
Lübbe nähert sich der Thematik über drei zentrale Branchen, in denen die Beschäftigung von Menschen aus dem Ausland lange System und Tradition hat und in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten stetig ausgebaut wurde - die Baubranche, die Fleischindustrie und das Transportwesen.
Im Mittelpunkt stehen die Arbeiterinnen, hier entscheidet sich Lübbe bewusst mit den Menschen zu sprechen, statt über sie. In jeder Branche macht sich der Autor engagiert auf die Suche in dem Milieu, recherchiert und interviewt Betroffene. So entsteht ein authentisches und erschreckendes Bild der Arbeits- und Lebenswelt der Arbeitsmigrantinnen, die in den untersuchten Branchen beschäftigt sind und deren Lebensrealität der Autor uns schonungslos vor Augen führt.
Man merkt deutlich, dass der Autor hier nicht stehen bleiben möchte und lediglich auf Betroffenheit, die schnell vergessen ist, abzielt. Er möchte verstehen, die Menschen, ihre Geschichte, aber auch das System, welches dahinter steht, wer profitiert und ganz besonders wie sich etwas daran ändern kann.
Dazu untersucht er die rechtlichen und politische Rahmenbedingungen, lässt Gewerkschafter, Politikerinnen und Sozialarbeiter, Beraterinnen, Unterstützerinnen und den Zoll zu Wort kommen und hakt auch bei den Verantwortlichen und Unternehmen selbst nach. So setzt sich nach und nach ein Bild zusammen von einem verzweigten Kosmos, in dem einige profitieren und viele leiden. Lübbe zeigt gekonnt auf, wie sich ein selbsterhaltendes System gebildet hat, das sich über diverse Abhängigkeiten stabilisiert und stetig weiterentwickelt, selten zum Vorteil der Arbeitsmigrantinnen am Ende der Pyramide.
Ein Muster wird in allen Branchen, die der Autor vorstellt, immer wieder deutlich, die Expansion nach Osten, auf der Suche nach noch billigeren Arbeitskräften, in Ländern, die wiederum einen noch niedrigeren Lebensstandard haben und deren Bevölkerung deshalb bereit ist zu zum Teil menschenunwürdige Bedingungen jenseits von Mindestlohn und gängigen Sozialstandards zu arbeiten. Dies ist ein Modell, das, ohne das der Autor darauf eingeht, die Textilindustrie bereits seit vielen Jahren und Jahrzehnten perfektioniert hat, zum Teil zum Preis von Menschenleben.
Was passiert, wenn diese Expansion ihr natürliches Ende erreicht? Was, wenn es keine ärmeren Länder und Menschen mehr gibt, die bereit sind sich auszubeuten zu lassen und ihr eigenes Leben zu riskieren, um den Wohlstand der westlichen Industrienationen mitzuerwirtschaften? Wird dann ein Umdenken stattfinden? Was muss, was wird bis dahin noch alles passieren? Sascha Lübbes Recherchen lassen daher für mich viele Fragen zurück, und dies im positivsten Sinne, denn er lädt ein auch über unsere eigene Rolle in diesem System und unser Engagement dagegen nachzudenken.
Ein kleiner Kritikpunkt war für mich, dass statistisch und begrifflich noch sauberer hätte gearbeitet werden können. Zum Teil wird die Grundgesamtheit in der Wiedergabe von Prozentzahlen nicht deutlich. Eventuell kann dies in einer folgenden Auflage noch korrigiert werden.
Sascha Lübbe zeigt in - Ganz unten - die Bedingungen für billiges Fleisch, günstige Pflegekräfte, billige Waren on-time: denn der Betrag an der Kasse mag günstig sein, es sind jedoch Arbeitsmigrantinnen, die dafür mit ihrer Gesundheit, zum Teil ihrem Leben, einen teueren Preis bezahlen. Es ist ein menschenverachtendes System, das dies ermöglicht, es mag aufgrund der Vielzahl der Akteure auf innerstaatlicher und europäischer Ebene kompliziert sein etwas daran zu ändern, aber, auch das sollte jeder Leserin nach der Lektüre klar sein - wir müssen es versuchen!