Es erstaunt, wie klein ein menschliches Wesen sein kann und dennoch am Leben!
„Es erstaunt, wie klein ein menschliches Wesen sein kann und dennoch am Leben“
„25 Wochen, ganze sieben Monate, erlebte dieses Kind die vertraute Enge im Bauch seiner Mutter. Danach kämpfte es sechs Monate ...
„Es erstaunt, wie klein ein menschliches Wesen sein kann und dennoch am Leben“
„25 Wochen, ganze sieben Monate, erlebte dieses Kind die vertraute Enge im Bauch seiner Mutter. Danach kämpfte es sechs Monate lang, die meiste Zeit allein, im Großraum einer Intensivstation ums Überleben.“
Durch die Pränatal Diagnostik wurde im Jahre 1997 eine Schwangere mit einer erschreckenden Tatsache konfrontiert: eine Fruchtwasseruntersuchung bestätigte, dass ihr Kind mit dem Down-Syndrom (Trisomie 21) zur Welt kommen wird. Nach dem ersten großen Schock verweigerte die Frau ihrem Kind jegliche emotionale und körperliche Annäherung und verlangte, dass ihr ungeborener Sohn möglichst schnell „weggemacht wird“. Im Zuge einer eingeleiteten Spätabtreibung wurde Tim in der fünfundzwanzigsten Woche geboren. Da die Spätabtreibung nicht unverzüglich zum Tod des Kindes geführt hatte, wurde es „zum Sterben liegen gelassen“ und neun Stunden lang nicht versorgt. Durch diese „unterlassene Hilfeleistung“ muss Tim nun in seinem Leben nicht nur mit der Trisomie 21 fertig werden, sondern erlitt zudem auch noch schwere Schädigungen, die zahlreiche Operationen erforderlich machten und bis zum heutigen Tag zu gravierenden Beeinträchtigungen geführt hatten. Der Eintritt in diese Welt stand für den tapferen kleinen Jungen unter keinem guten Stern, doch als Familie Guido in sein Leben trat, bedeutete dies für Tim die Wende zum Guten. Obgleich Bernhard und Simone Guido zwei eigene, leibliche Kinder hatten, verliebten sie sich auf den ersten Blick in Tim und durften ihn nach einem längeren Aufenthalt in der Frühchen Station der Kinderklinik in Oldenburg als Pflegekind in ihre Familie aufnehmen. Es handelte sich hierbei um eine Bauchentscheidung gegen jegliche rationale Betrachtung und sämtliche Gegenargumente ihres gesamten Umfelds. Pablo und Marco Guido hatten nun einen kleinen, schutzbedürftigen und auf Hilfe angewiesenen Bruder bekommen, und für die Familie begann eine schwere Zeit des Lernens, Aneinander Gewöhnens, Aufeinander Rücksicht nehmen, was besonders für die Kinder keine leichte Aufgabe gewesen sein kann.
In diesem Buch erzählen die Guidos abwechselnd von ihrem Alltag mit einem schwerbehinderten Jungen, der bis zum heutigen Tage auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes geblieben und auf Hilfe angewiesen ist. Sie berichten schonungslos offen von den anfänglichen Schwierigkeiten, mit denen sie nicht nur im täglichen Leben, sondern auch im Umgang mit Behörden und Ämtern konfrontiert wurden. Sie erzählen vom Zusammenhalt in der Familie und den Freunden, wie auch von der Distanz und der Reaktion der Öffentlichkeit, wenn sie als Familie unterwegs waren. Sie berichten voller Stolz von den kleinen Fortschritten, und lassen in ihrem Buch viele Menschen zu Wort kommen, die auf irgendeine Weise mit Tim zu tun hatten oder mit dem Jungen vertraut sind. In kursiver Schrift erzählen ehemals behandelnde Ärzte, Betreuer, Familienmitglieder oder Freunde und Verwandte von den Ereignissen um Tim aus ihrer eigenen Sichtweise. Besonders Simone Guido berichtet sehr viel über die intensive Beschäftigung mit Tims Krankheit und seiner Pflege. Sie betont aber auch die Notwendigkeit der Schaffung von Freiräumen und kleinen Auszeiten, die bei der Pflege eines schwer behinderten Kindes überlebensnotwendig sind, um nicht über die eigenen Grenzen zu gehen oder sie gar zu überschreiten. Sie gibt unumwunden zu, dass der Weg bis zum Eingeständnis, es alleine nicht mehr zu schaffen und Hilfe zu brauchen, ein schwerer Lernprozess für die Familie war.
Was mich bei diesem Buch besonders beeindruckt hat, war zunächst der offene Umgang mit Tims Einschränkungen, die schonungslose Schilderung der Alltagsprobleme, aber auch die Art und Weise, wie das Ehepaar auf Tims leibliche Eltern reagierte. Während Tims leiblicher Vater lange Jahre den Kontakt zu den Guidos aufrecht hielt, weigerte sich seine Mutter vehement, auch nur das Geringste mit ihm zu tun zu haben. Die Guidos verurteilen sie jedoch in keiner Weise, sondern versuchen, in ihrer Leserschaft Verständnis für die schwierige Situation zu aufkommen zu lassen, in der Tims Mutter sich vor seiner Geburt befunden hat. Sie plädieren für eine bessere Aufklärung, Beratung und Betreuung werdender Mütter, vor allem jener, die durch die Pränatal Diagnostik eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen haben. Die ganze Problematik der ungewollten Kinder jener Mütter, die mit einer Behinderung nicht zurechtkommen, ist durch Tims Fall besonders ins Bewusstsein gerückt worden.
Ich muss gestehen, dass mich die detaillierte Beschreibung der Vorgehensweise der heute durchaus geläufigen Spätabtreibungen, die sogar noch bis zum Zeitpunkt des Einsetzens der Wehen stattfinden dürfen, zutiefst erschüttert hat. Ich hatte mich zuvor nie mit diesem Thema beschäftigt und war der Meinung, dass es nur in einem äußerst frühen Stadium und aufgrund medizinischer Indikation erlaubt sei, ungeborenes Leben zu töten. Fassungslos wurde ich in diesem Buch mit der grausamen Realität konfrontiert, dass Kinder noch im neunten Monat ermordet werden, weil bei einer Untersuchung vielleicht das Down Syndrom, zu kurze Arme oder Beine, oder eine Gaumenspalte diagnostiziert wurden. Für mich persönlich stellt sich hier die Frage, wie eine Spätabtreibung nicht nur vor Gott, seinem eigenen Gewissen oder dem Kind gegenüber gerechtfertigt werden kann, wenn das Gesetz dieses Leben NACH dem Zeitpunkt des Einsetzens der Wehen so konsequent schützt. Ist denn ein Kind wenige Stunden vor diesem Zeitpunkt kein menschliches Wesen, das Schutz bedarf?
An dieser Stelle möchte ich auch meinem Befremden Ausdruck verleihen, dass ein Buch, das in einem christlichen Verlag erschien, nicht den geringsten Bezug zum christlichen Glauben aufweist. Ich hätte mir zumindest zum kontroversen Thema der schockierenden Praxis von Spätabtreibungen in Deutschland eine Stellungnahme aus biblischer Sicht erwartet. Schade, dass dem nicht so war.
Abschließend möchte ich noch Passagen aus diesem zutiefst beeindruckenden Buch wiedergeben:
„Menschen mit Down-Syndrom sind aber viel mehr als die „Dumm-glücklichen Behinderten, die fröhlich und unbedarft durch die Welt laufen“. Sie sind Menschen mit besonderen Bedürfnissen, aber auch mit besonderen Fähigkeiten, die sich nicht nur auf ihre Herzlichkeit reduzieren lassen. Sie weisen auch eine spezielle Feinfühligkeit, einen anderen Blick auf die Welt, eine hohe soziale Kompetenz und eine Maßstäbe setzende Ehrlichkeit auf.“
„Damit insgesamt das Leben mit Behinderung in unserer Gesellschaft akzeptiert wird, müsste sich das Streben nach materiellen Dingen, das Streben nach Perfektion ändern, also ein Paradigmenwechsel in der Gesellschaft stattfinden.“
„Tim ist ein lebensfroher Mensch. Er bejaht das Leben hundert Prozent. Selbst wenn es ihm schlecht geht, sieht man ihm an, dass es ihm gefällt zu leben. Er ruht in seiner Mitte. Wenn wir4 es in einem Kernsatz bringen müssten, würden wir sagen: „Tim ist ein glücklicher Mensch“.
Dank den Guidos war es diesem Jungen möglich, in der Geborgenheit einer Familie aufzuwachsen. Ich würde ihm und seinen Geschwistern wünschen, dass er diese liebevolle Umgebung noch lange Jahre genießen darf.