Traurig, verstörend und doch so real: Die Blaupause einer dysfunktionalen Familie
Das wunderschöne Cover hat mich gelockt, Steven Uhlys „Marie“ zu lesen. Eigentlich wollte ich vorher noch den Vorgänger dieses Buchs, „Glückskind“, lesen, aber irgendwie hat es sich nicht ergeben. Dabei ...
Das wunderschöne Cover hat mich gelockt, Steven Uhlys „Marie“ zu lesen. Eigentlich wollte ich vorher noch den Vorgänger dieses Buchs, „Glückskind“, lesen, aber irgendwie hat es sich nicht ergeben. Dabei bin ich jetzt, nach der Lektüre, noch viel begieriger drauf, mehr von der Familie und deren Vorgeschichte zu erfahren. Es geht um die Familie Kelber, Mutter geschieden, alleinerziehend mit drei Kindern: Mira, Frido und Chiara. Der Vater hat sich mit einer anderen Frau ein neues Leben aufgebaut und nimmt die Kinder am Wochenende vielleicht mal, aber nur wenn es denn unbedingt sein muss, und auch nur „Frido und die Kleine“! Veronika, die Mutter, ist sichtlich überfordert mit der Situation und schafft es immer nur gerade so, den Kindern rechtzeitig eine Mahlzeit (meistens Pizza) auf den Tisch zu stellen. Der elfjährige Frido muss daher vieles erledigen, was eigentlich kein Kind erledigen sollte: schauen, dass seine Schwestern rechtzeitig zur Schule kommen, sie dorthin begleiten, sie ermuntern, Hausaufgaben zu machen, etc. Dass das nicht gut ist für ein Kind, realisiert Veronika nicht. Und als Frido Chiara eine Gutenachtgeschichte erzählt, die sich als näher an der Realität herausstellt als gedacht, gerät das Leben der Kinder völlig aus den Fugen.
Wow. Als ich „Marie“ zur Hand nahm, war mir bewusst, dass dies kein Gute-Laune-Roman sein wird, aber dass mich das alles so mitnehmen würde, hätte ich dann auch nicht gedacht. Das Bild einer Familie, wie sie sein sollte, durchbrechen die Kelbers und zeigen so ziemlich das Gegenteil. Die Mutter kommt überhaupt nicht mit ihrer Vergangenheit klar und die Kinder werden vernachlässigt, nicht umsorgt und offensichtlich auch nicht geliebt. Hätte sie doch bloß verhütet, dann wäre ihr Leo nicht weggelaufen. Wären die Kinder doch bloß nicht gewesen… Solche Gedanken schiebt Veronika in ihrem Kopf hin und her, und die Geschichte aus „Glückskind“, die hier eine tragende Rolle spielt, wird nach und nach von den Kindern aufgedeckt. Es geht um ein Baby namens Marie, das von einem Obdachlosen in einer Mülltonne gefunden wurde. Relativ am Anfang des Buches wird klar, dass Chiara dieses Baby sein muss, und sie spürt es nach der Gutenachtgeschichte irgendwie auch. Die Sechsjährige beginnt, sich mit Marie zu identifizieren und es baut sich eine zweite Persönlichkeit in ihrem Innern auf. Während Veronika immer instabiler wird, weil die Geschichte nach sechs Jahren nun wieder auf dem Tisch liegt, verwahrlosen ihre Kinder zusehends weiter.
"Sie muss funktionieren, Das ist auch eine Strafe, sagt sie sich, Im Gefängnis hättest du es doch viel zu leicht gehabt, du dumme Kuh, denkt sie. Sie muss hart gegen sich selbst werden, dann wird es gehen."
Die vollständige Rezension findet ihr auf meinem Blog: https://killmonotony.de/rezension/steven-uhly-marie