Cover-Bild Der Himmel vor hundert Jahren
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22,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Rowohlt
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: allgemein und literarisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 192
  • Ersterscheinung: 23.03.2021
  • ISBN: 9783498001896
Yulia Marfutova

Der Himmel vor hundert Jahren

Ob sie vom Wetter erzählt, von der Weisheit der Menschen oder der der Fische – Yulia Marfutova macht Stimmen hörbar, die man so bald nicht wieder vergisst. In «Der Himmel vor hundert Jahren» treffen sich Ideen und Ideologen, Dorf und Welt, Gestern und Heute, Humor und Verstand. Eine zeitlose Geschichte, ein herausragendes Debüt. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021.

Ein russisches Dorf um das Jahr 1918. Die Revolution hat bereits stattgefunden, der Bürgerkrieg ist in vollem Gange, aber die Bewohner haben von den historischen Ereignissen noch nichts erfahren. Das untergehende Zarenreich ist groß, die Informationen fließen langsam.
Doch selbst an einem Ort wie diesem steht die Zeit nicht still: Der Dorfälteste Ilja, zum Beispiel, trifft seine Wettervorhersagen neuerdings mit Hilfe eines gläsernen Röhrchens, das er hütet wie seinen Augapfel. Der alte Pjotr dagegen belauscht lieber den nahegelegenen Fluss und dessen Geister. Aber noch scheinen die Fronten beweglich.
Nun ist ausgerechnet Iljas Frau, Inna Nikolajewna, so abergläubisch wie Pjotr. Als ihr ein Messer herunterfällt, taucht ein Fremder im Dorf auf. Der viel zu junge Mann trägt keine Stiefel, aber eine fadenscheinige Offiziersuniform, und wenn er muss, erzählt er jedem eine andere Geschichte. Man beäugt ihn, bedrängt ihn, bald nicht mehr nur mit Fragen - und doch kommt nicht einmal die junge Annuschka dahinter, weshalb er ins Dorf gekommen ist. Und vor allem: warum er bleibt ...

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.05.2021

Es war einmal in einem Dorf

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Der historische Roman „Der Himmel vor Hundert Jahren“ hat den Vorteil, dass er eine vergangene Zeit glaubhaft darstellt. Die Menschen und ihr Leben im russischen Dorf, das klein aber nicht winzig ist, ...

Der historische Roman „Der Himmel vor Hundert Jahren“ hat den Vorteil, dass er eine vergangene Zeit glaubhaft darstellt. Die Menschen und ihr Leben im russischen Dorf, das klein aber nicht winzig ist, wirken echt und unverstellt. Gut 100 Jahre liegt die Handlung zurück, aber die Autorin Yulia Marfutova vermag es, die Zeit so darzustellen, das man glaubt, man hätte dabei sein können.

Yulia Marfutova geht sorgsam mit ihren Figuren um. Es sind Originale, die fest in ihrem Dorf verwurzelt sind und manche sind abergläubisch, aber die Autorin macht keine Kasper oder Hanswurst aus ihnen. Ihnen verbleibt stets eine innere Würde. Ich mag das.
Das Element des Aberglaubens, z.B. an Flussgeister, beinhaltet Motive, die an den magischen Realismus erinnern.
Hinzu kommt eine entspannte, gute Handlungsführung, der man gerne folgt. Ein wirklich guter Debütroman!

Veröffentlicht am 21.09.2021

Glasröhrchen gegen Wassergeister

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Der Himmel vor hundert Jahren – Yulia Marfutova

Longlist Deutscher Buchpreis 2021

Die Autorin entführt in diesem recht kurzen Roman in eine vollkommen eigene Welt. Es ist ein kleines russisches Dorf, ...

Der Himmel vor hundert Jahren – Yulia Marfutova

Longlist Deutscher Buchpreis 2021

Die Autorin entführt in diesem recht kurzen Roman in eine vollkommen eigene Welt. Es ist ein kleines russisches Dorf, etwa um 1918, das völlig abgeschieden liegt. Schon seit längerem, mutmaßt man, sollte doch wohl der letzte Krieg zu Ende sein. Doch bisher ist noch keiner der Männer wieder zurückgekehrt. Sowieso verlässt man sich hier lieber auf die Weissagungen eines Glasröhrchens, den Aberglauben und alte Ikonen.

Die Figuren könnten schrulliger kaum sein. Der alte Ilja, der ganz auf sein Glasröhrchen vertraut. Der ebenfalls alte Pjotr, der sich lieber am Fluss aufhält und mit den Wassergeistern spricht. Iljas Frau Inna, der ein Messer runterfällt – ganz klar, das heißt, ein Fremder kommt ins Dorf. Tatsächlich kommen Fremde von der anderen Seite des Flusses – was die wohl wollen?

Unterstützt werden diese Sonderlichkeiten des Personals von der recht speziellen Sprache. Stakkatoartig, beinahe abgehakt erzählt die Autorin in einem Ton, der direkt von diesen weltfremden, einfachen Leuten kommen könnte. Es ist schon eine Art Kunst, Sprache derart zu vereinfachen und sich quasi so sehr in die Figuren hineinzuversetzen. Dabei nimmt die Erzählstimme eine gefühlte Position oberhalb des Dorfes ein. Abwechselnd beleuchtet sie einzelne Protagonisten und scheint allwissend zu sein – mit einem liebevoll zwinkernden Auge.

Allzuviel passiert eigentlich gar nicht in dieser Geschichte. Es ist die Beschreibung dieses irgendwie aus der Welt gefallenen Dorfes und seiner Bewohner. Man nimmt das Leben hin, wie es kommt und interessiert sich eigentlich gar nicht weiter dafür, was außerhalb alles an Weltgeschichte passiert. Trotzdem ist es ein wichtiger Moment im Leben dieses Ortes. Denn etwas drängt von außen herein. Man ist gezwungen über den Tellerrand zu schauen, etwas verändert sich. Plötzlich ist es nicht mehr möglich, die Augen zu verschließen. Mit einer unglaublichen Naivität und guten Portion Aberglaube sind die Figuren dieses Romans ausgestattet. Wie könnten sie auch anders sein in ihrer Abgeschiedenheit?

Kurze Kapitel, wortkarge Charaktere. Ein ahnungsloses Dorf inmitten eines Sturms der Weltgeschichte – dem Untergang des Zarenreiches. Es ist ein kurzweiliges Lesevergnügen. Es sind auch nur knapp 200 Seiten. Am Ende muss ich aber auch sagen, dass das genug ist von diesem doch recht anstrengenden Schreibstil. Auf interessante Art und Weise anstrengend. Deshalb von mir 4 Sterne.

 

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Veröffentlicht am 02.09.2021

Außergewöhnlicher Erzählstil

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In einem kleinen, weit abgeschiedenen, russischen Dorf um 1918, der Zeit nach der Revolution, begegnen wir Ilja und Pjotr sowie ihren Anhängern.
Technischer Fortschritt und hohe Politik sind weit entfernt, ...

In einem kleinen, weit abgeschiedenen, russischen Dorf um 1918, der Zeit nach der Revolution, begegnen wir Ilja und Pjotr sowie ihren Anhängern.
Technischer Fortschritt und hohe Politik sind weit entfernt, das Weltbild wird gezeichnet von Krankheit und Aberglauben. Das Hauptinteresse der Dorfbewohner gilt der Wettervorhersage, weil die richtige Reaktion auf das Wetter die Ausbeute der Feldwirtschaft erhöht. In dieser Welt leerer Mägen geht es ums nackte Überleben. Während Ilja das zukünftige Wetter von einem Röhrchen ableitet, befragt Pjotr die Flussgeister.

Dieser Roman lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken. Er berichtet von etwas Historischem, ist gleichzeitig auf das aktuelle Umbruchgeschehen übertragbar. Er erzählt konkret von der Zeit kurz nach der Revolution, fühlt sich allerdings auch irgendwie märchenhaft an, unwirklich. Der Roman berichtet über Ereignisse, ohne richtig darüber zu sprechen. Er beginnt mit einem Aspekt, verliert sich dann im Hundertstel und Tausendstel, landet bei einem neuen Schwerpunkt, um sich abermals zu verlieren. Betrachtet man einzelne Abschnitte liegt das Geschehen im Nebel, erst durch die Sicht auf den Roman als Ganzes entsteht eine Vorstellung von der übergreifenden Situation.
Ich fühlte mich beim Lesen ein bisschen an den Erzählhabitus meiner Oma mit ihren Nachbarn und Besuchern erinnert. Diese Altersgruppe hatte ebenfalls eine ellenlange, beschreibende Erzählweise. Um Personen zu identifizieren wurde beispielsweise „die dritte Tochter von der Nachbarin zwei Häuser rechts von Liselotte Müller verkehrt jetzt mit dem Ältesten von dem Schreiner-Otto seinem Sohn“ gesagt. Darüber hinaus arbeitet die Autorin mit starken Metaphern. Ilja und Pjotr sind mit ihrem Handeln nicht nur Dorfbewohner, sondern in meiner Wahrnehmung auch die Vertreter für das Zeitgeschehen.

Obwohl es mir schwerer gefallen ist, dieses Sprachkonstrukt zu lesen, hat mir die geschichtliche Auseinandersetzung gut gefallen. Historisch Geschehenes kann im Geschehen von heute reflektiert werden. Verklärung durch mangelnde Aufklärung hatte ich im Fokus oder auch gänzlich fehlende Information vs. Informationsoverflow. Es ist weniger der Bericht an sich, sondern mehr das, was er an weiteren Gedankengängen anschubst, was ihn für mich besonders macht.

Ich empfehle ihn sehr gern an alle, die auch das mühevolle Lesen lieben.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Experimentell und interessant

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„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein ...

„Worum es geht, worum es einzig und allein gehen soll, nein, gehen muss, das ist der Mensch, und der Mensch hat Träume, die er träumt, Träume von Größerem und Träume von der Zukunft und vom Menschsein in der Zukunft (...).“ (S. 105)

Geschrieben steht das Jahr 1918. An einem Fluss in Russland liegt ein Dorf; so weit abgelegen, dass es von dem laufenden Bürgerkrieg, von allem, was außerhalb des Marktplatzes geschieht, noch nichts erfahren hat. Ist auch gar nicht so schlimm, denn die Ereignisse im Dorf halten die Bewohner:innen in Atem, in Aufregung und Erwartung. Während Ilja, der Dorfälteste, mithilfe eines mysteriösen Glasröhrchens, das eine silbrige Flüssigkeit umschließt, das Wetter vorherzusagen vermag, spricht Piotr, der graubärtige Greis, mit dem Fluss und seinen Geistern, hält ein ums andere Mal den befeuchteten Zeigefinger in den Wind zum Wetterbericht – die Geister scheiden sich in ihrer Kunst.
Doch als Inna Nikolajewna, der Frau von Ilja, eines Tages ein Messer herunterfällt, kommt ein Fremder, ein junger Mann in Uniform, aber ohne Stiefel, in ihr kleines Dorf – und bleibt. Er redet nicht viel, doch wenn er das Wort ergreift, verfolgt er jedes Mal einen anderen Faden. Jeder beobachtet ihn, versucht, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, doch sie scheitern alle, selbst Iljas Enkelin Annuschka. Als schließlich auch noch zwei Männer, die „Realitäten“, das Dorf aufsuchen, gerät das Dorf in Umbruch.

In ihrem Debütroman „Der Himmel vor hundert Jahren“ entspinnt Yulia Marfutova ein poetisches, sprachliches Feuerwerk, das die seichte Monotonie der eigentlichen Handlung strahlen lässt. Zarte Charaktere erhalten eine eigensinnige, wundersame Stärke, die nicht handhabbar ist, aber doch irgendwie da. Die elliptischen, kurzen Sätze, wie zufällig eingeworfenen Wörter und dann wieder verschachtelten, hypotaktischen bestimmen das Tempo, das insgesamt eher langsam ist, nachdenklich – und dadurch die wunderschöne Sprache nur noch mehr zur Geltung bringen.

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