Eine emotionale, vielschichtige und entwaffnend ehrliche Geschichte
"Das Gegenteil von Hasen" musste drei Jahre auf meinem SuB liegen, bevor es für mich zu einem sommerlichen Highlight werden konnte und ist für mich damit wieder ein eindrücklicher Beweis, dass ich mich ...
"Das Gegenteil von Hasen" musste drei Jahre auf meinem SuB liegen, bevor es für mich zu einem sommerlichen Highlight werden konnte und ist für mich damit wieder ein eindrücklicher Beweis, dass ich mich dringend meinem SuB-Abbau widmen muss. Als erstes Buch von Anne Freytag wusste ich zu Beginn nicht, was auf mich zukommt, habe mich aber Hals über Kopf in ihre Art zu denken und schreiben verliebt, sodass es gewiss nicht mein letztes Buch der Autorin gewesen sein wird!
Das Cover ist sehr einfach gestaltet mit dem mintgrünen Hintergrund und dem großen, gelben Titel, greift mit dem verschreckten Hasen, dessen Schatten ein heulender Wolf darstellt, aber genau wie der Titel das Hauptmotiv des Romans perfekt auf: das Verschwimmen von Tätern und Opfern in sozialen Gefüge. Auf 416 Seiten geht es in einer emotionalen, vielschichtigen und entwaffnend ehrlichen Geschichte um Wölfe unter Hasen und Hasen unter Wölfen.
Erster Satz: "Der Tag, an dem alles anders wurde, war ein Donnerstag."
Wir beginnen die Geschichte nach einem kurzen Prolog am Dienstag, den 19. Mai zwei Tage vor der Veröffentlichung von Julias Blogbeiträgen, die im Käthe-Kollwitz-Gymnasium einschlagen wie eine Bombe. Wie es zu dem Vorfall kam und welche Auswirkungen dieser auf das Leben der verschiedenen Hauptfiguren hat, lernen wir im Anschluss in kurzen Kapiteln, die nach Uhrzeit sortiert sind und sich bis zum Montag, den 25. Mai erstrecken. Dazu wechselt die Autorin kapitelweise die Erzählperspektive zwischen den wichtigsten Hauptfiguren und lässt zusätzlich immer wieder Ausschnitte aus einem Befragungsprotokoll der Schulleitung, sowie Absätze aus Julias Blogbeiträgen einfließen. Zudem wird die Stimmung innerhalb der breiten Schülerschaft durch kurze Absätze namens "die anderen" wiedergegeben, in denen Nebenfiguren kurz zu Wort kommen. Mit dieser Erzählstruktur, die nur eine Woche, aber dafür verschiedene Perspektiven abdeckt, kreiert die Autorin ein authentisches und komplexes Schulszenario mit glaubhaften Sozialgefüge, das weit ab von Klischees ist.
"Er war ein Wolf unter den Hasen. Und ich wollte sein wie er."
Die große Frage, wer denn nun für die Veröffentlichung von Julias Blogbeiträgen verantwortlich ist, generiert war gerade zu Beginn eine Menge Spannung, tritt im Laufe der Handlung aber etwas in den Hintergrund, da die Geschichten der einzelnen Figuren und deren Motive mehr Raum einnehmen. Dennoch oder gerade deswegen hat mich die Geschichte mitgerissen, gefesselt und geradezu eingesogen, sodass ich das Buch in einem Tag verschlungen habe. Daran ist unter anderem auch Anne Freytags Schreibstil schuld. Dieser ist sparsam und exakt, was dazu verleitet, durch die Seiten zu fliegen. Wie die Autorin es schafft, immer wieder Wahrheiten auf den Punkt zu bringen, ohne dabei zu schwafeln und auf der anderen Seite Beschreibungen knapp zu halten, ohne dass die Szenen leblos wirken, ist wirklich besonders. Es kommt selten vor, dass ich zur Länge eines Buches nichts zu kritisieren habe. Mal ist mir eine Geschichte zu langatmig, mal zu kurz erzählt, hier hat Anne Freytag aber genau die perfekte Länge gefunden, sodass jedes Wort sitzt!
"Ich schätze, wir sind alle nur ein Moment. Ein flüchtiges Blinzeln in der Zeit. Eine Summe aus unseren Entscheidungen, und damit etwas, das erst am Ende Sinn ergibt – wenn überhaupt."
Besonders gut gefallen haben mir ihre Figuren, die wie bereits erwähnt alle weit entfernt von Klischees angelegt und deutlich tiefer charakterisiert sind als das häufig in Jugendbüchern der Fall ist. Während des kurzen Erzählzeitraums lernen wir eine Vielzahl von Figuren kennen, die allesamt unzählige Schichten und Facetten aufweisen, die man weder lieben noch hassen kann und die einfach zutiefst menschliche Wesen sind. Toll ist auch, dass Anne Freytag einige erwachsene Figuren ebenfalls zu Wort kommen lässt. Hals über Kopf verliebt habe ich mich vor allem in Linda und Edgar, man entdeckt aber in jedem Charakter etwas, in dem man sich wiederfinden kann und taucht dabei tief in die Erlebniswelt der Figuren ein. Mithilfe ihrer Figuren verarbeitet die Autorin hier Themen wie Internet, Mobbing, Beziehungen, Freundschaft, Familie, Verantwortung, Rassismus, Coming Out, die eigene Sexualität und Vertrauen. Meine Teenie-Jahre liegen noch nicht allzu weit hinter mir und plötzlich war ich wieder mittendrin in dieser verwirrenden Zeit an der Schule, dem Schwebezustand zwischen Kind und Erwachsenem. Ich habe selten ein Jugendbuch gelesen, dass so perfekt in Worte fasst, was es bedeutet, ein junger Mensch zu sein. All das Grausame, Verstörende, Verunsichernde, aber auch all das Schöne, Neue, Freie, dass diese Lebensphase mit sich bringt.
"Ich bin ein Hase unter Wölfen, der rennt und Haken schlägt. Der dem Leittier blind folgt, um nicht selbst totgebissen zu werden"
Wer schlussendlich für die Veröffentlichung der Blogbeiträge verantwortlich war, habe ich nicht vorhersehen können. Im Endeffekt war die Enthüllung aber weniger wichtig als die Botschaft, die sich am Ende des Romans aus allen Handlungssträngen ergibt: ehrlich zu sein, zu sich und zu anderen, Dinge an- und auszusprechen, die einen beschäftigen und sich Menschen zu suchen, die einem wirklich zuhören!
Fazit:
"Das Gegenteil von Hasen" ist eine emotionale, vielschichtige und entwaffnend ehrliche Geschichte über Mobbing, Beziehungen, Freundschaft, Familie und Ehrlichkeit. Anne Freytag überzeugte mich mit einem interessanten Erzählkonzept, authentischen Figuren, einem exakten Schreibstil bei dem jedes Wort sitzt und fasst perfekt zusammen, was es bedeutet, ein junger Mensch zu sein!