Eine neue Familie ist wie ein neues Leben
Familie - das war immer so ein Thema für Willa. Nicht, dass sie keine gehabt hätte, aber bei ihr lief es immer ein bisschen anders ab als in den so genannten Vorzeigefamilien, vor allem in ihrer Kindheit, ...
Familie - das war immer so ein Thema für Willa. Nicht, dass sie keine gehabt hätte, aber bei ihr lief es immer ein bisschen anders ab als in den so genannten Vorzeigefamilien, vor allem in ihrer Kindheit, als die ebenso manisch-depressive wie kapriziöse Mutter mit dem ihr ergebenen Vater und damit auch mit den beiden noch recht jungen Töchtern sozusagen den Molli machte. Was nichts anderes heißt, als dass die ganze Familie ihrem Willen und vor allem ihren extremen Launen unterworfen war - da konnte es schon mal passieren, dass sie auf die Mädchen einprügelte und es gleich danach bitter bereute. Oder einfach für ein paar Tage die Familie verließ und bei der Rückkehr so auftrat, als ob nichts gewesen wäre. Willa hat sich eingefügt, versucht, ihren geliebten Vater zu unterstützen, nie rebelliert und stumm gelitten.
Später, in ihrer Ehe, bemüht Willa sich darum, es mit ihren beiden Söhnen ganz anders anzugehen und ihnen eine liebevolle und präsente Mutter zu sein. Ihre Ehe mit Derek ist, obgleich nicht einfach, doch ein stabiles und festes Fundament in ihrer beider Leben. Doch dann stirbt Derek mit Anfang vierzig und sie muss ihre Geschicke neu ordnen
Im weiteren Verlauf der Handlung begegnen wir Willa im Alter von 61: Sie erhält gerade einen sehr überraschenden Anruf, in dem sie - in zweiter Ehe in Arizona lebend - darum gebeten wird, der ehemalige Freundin ihres Sohnes in Baltimore zur Hilfe zu eilen, die angeschossen wurde. Im Klartext soll sie sich um deren Tochter Cheryl, die noch ein Kind ist, kümmern. Willa weiß selbst nicht warum, aber sie nimmt diese merkwürdige Herausforderung an - und erlebt zum ersten Mal, wie anders das Leben sein kann - auch hier fügt sie sich ein, aber ebenso lenkt sie und erfährt zum ersten Mal, wie es ist, selbst gesteuert zu leben. Und auch, dass das Konzept "Familie" ganz anders funktionieren kann als das, was sie bisher kannte.
Willas Leben im Wandel der Zeiten: Das garantiert ein ruhiges, dabei eindringliches, kraftvolles und ausgesprochen sprachgewaltiges Leseerlebnis! Typisch Anne Tyler also?
Ja und nein, denn anders als in den meisten Vorgängerromanen, in denen sich der Fokus im Erzählverlauf auf verschiedene Personen richtet, steht diesmal durchgehend Willa im Mittelpunkt - es ist ein Weg der Entwicklung und der Erkenntnis, den sie durchläuft. Doch eine Konstante bleibt: am Ende hat man das Gefühl, ein absolut abgerundetes Bild, einen vollkommenen Eindruck von allem zu haben und legt das Buch mit tiefer Befriedigung aus der Hand - und vielleicht auch mit ein bisschen Wehmut, denn wieder gibt es einen ungelesenen Tyler-Roman weniger, auf den man sich freuen könnte.
Anne Tyler bewerben zu wollen, würde bedeuten, Eulen nach Athen zu tragen: die Grande Dame der amerikanischen Literatur braucht keine Propaganda, schon gar nicht von einer "normalen" Leserin wie mir. Doch vielleicht kennt der ein oder andere sie doch noch nicht oder nicht gut genug: dieser Roman wäre eine tolle Gelegenheit, um Bekanntschaft mit der Autorin, ihrem so leichten und dabei so eleganten Stil, ihrer wunderbaren, glasklaren Sprache - die, soweit ich es beurteilen kann, aufs Trefflichste von Michaela Grabinger ins Deutsche übertragen wurde, zu machen.
Mein Fazit: Anne Tyler versteht es, die Banalitäten des Lebens, das Alltägliche - eine Frau, die im Laufe ihres Lebens Erfahrungen unterschiedlichster Art sammelt - zu etwas ganz Besonderem, Einzigartigen werden zu lassen - so wie wir alle in unseren Leben gleichzeitig banal und einzigartig sind. Wie immer ist ihr das einfach großartig gelungen, denn sie versteht es, mit einer Leichtigkeit zu schreiben, die das Buch auch als Unterhaltung genießen lässt: selbstverständlich auf allerhöchstem Niveau. Ich hoffe sehr, dass der Nobelpreis nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt!