Verschwendetes Potenzial...
Inhalt:
Robbie ist gehörlos, aber aufgrund eines Cochlea-Implantats kann er hören, sprechen und musizieren. Sein Instrument ist die Tuba, die er von seinem Vater, einem arbeitslosen Musikproduzenten, ...
Inhalt:
Robbie ist gehörlos, aber aufgrund eines Cochlea-Implantats kann er hören, sprechen und musizieren. Sein Instrument ist die Tuba, die er von seinem Vater, einem arbeitslosen Musikproduzenten, geschenkt bekommen hat. Als dieser Vater auf offener Strasse erschossen wird, ist für Robbie und seine Mutter nichts mehr, wie es vorher war. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Verlustängste und eine enorme Trauer überschatten den weiteren Alltag. Aber Tess beschliesst, mit ihrem Sohn nach Montauk zu fahren und dort eine Weile bei ihrem Onkel Ike zu leben. Sie hofft ausserdem, Robbie das Meer und die Landschaft ihrer Kindheit näherzubringen. Der wehrt sich anfänglich, doch als er die Bekanntschaft mit dem Segler und Meeresbiologen Kip und dem Wal Benny macht, beginnt er, wieder Freude an seinem Leben zu finden.
Meine Meinung:
Ach, ihr Lieben, wo fange ich an... Die Grundidee zu diesem Buch ist wundervoll, überzeugend, bewegend und sehr aussergewöhnlich. Ein gehörloser Sohn, der nicht nur trotzdem hört, sondern auch noch Musik macht, seine Mutter, die als Schuhdesignerin und Workaholic in einer ganz eigenen Welt lebt, ein plötzlicher Schicksalsschlag, eine abgelegene Küste in Montauk, ein Wal und ein Onkel, der in seinem Restaurant Hilfe benötigt und nebenbei auch die einzige Figur ist, die ausgearbeitet wirkt und die ich wirklich gemocht habe...das wären doch eigentlich die perfekten Zutaten für eine wundervolle Geschichte und ausserdem ist dieses Cover, eine Augenweide, findet ihr nicht auch? Vor allem gefällt mir sehr gut, wie der Wal im Cover "versteckt"worden ist.
Nur leider bleiben die anderen Figuren kalt und flach, Robbie ist nicht nur eine schreckliche Nervensäge sondern per Definition ein (entschuldigt bitte, das werde ich nie wieder in einer Rezension verwenden, aber hier passt es einfach) absolutes A...kind. Er hasst und verurteilt seine Mutter, was natürlich schon ein wenig verständlich ist, aber er ist nicht nur vorlaut, unanständig, ignorant, egoistisch und verwöhnt, er ist auch noch gemein und verletzend und tyrannisiert Tess nach Strich und Faden. Ausserdem wirkt er wesentlich älter als ein Neunjähriger und benimmt sich wie ein total eskalierter Teenager. Tess hingegen ist die ewig unterwürfige Mutterfigur, die sich stets entschuldigt, sich verantwortlich für die inexistente Erziehung ihres Sohnes fühlt (weil sie immer gearbeitet hat) und ihren verstorbenen Mann, der alles andere als ein Engel war, noch sehr lange in Schutz nimmt. Wenn aber die Eltern bei der Erziehung versagt haben, wer trägt dann die Hauptverantwortung? Der Vater, der stets zu Hause geblieben ist und sich um den Sohn gekümmert hat oder die Mutter, welche die Familie mit ihrer Arbeit ernährt hat? Eben...
Schreibstil und Lektorat:
"Als das Meer uns gehörte" ist leider das beste Beispiel dafür, wie ein schlechtes Lektorat eine eigentlich fantastische Grundidee zerstören kann. Es sind aber keine Tippfehler, sondern sehr kleine (und grössere) logische Unstimmigkeiten, welche den Lesefluss stören. Beispielsweise nimmt Robbie seine Hörgeräte manchmal (oft zum Trotz) ab und versteht dann trotzdem, das jemand mit ihm spricht und erst einige Sätze später - als wäre dann erst bei der Überarbeitung aufgefallen, dass Robbie ja eigentlich gehörlos ist und auch nur dann lippenlesen kann, wenn man ihn anschaut - wird plötzlich erwähnt, dass jemand "gebärdet", also in Gebärdensprache mit ihm spricht, was aber vom Zusammenhang her und von der Position aus, in der die Figuren zueinander stehen, auch gar nicht sein kann. Oder gebäderdet mal ohne einander anzublicken und im Meer schwimmend oder während ihr ein Segelschiff manövriert, das möchte ich dann aber sehen.
Ausserdem heisst der Wal, den der Meeresbiologe Kip vefolgt (und diese Walgeschichte ist übrigens der wohl schönste Aspekt an diesem Buch, dafür gibt es von mir ein riesiges, ernstgemeintes Lob), Benny. Nach Benny Goodman, dem "grössten Trompeter aller Zeiten". Etwas bemerkt? Natürlich kann man darüber streiten, wer der grösste Trompeter aller Zeiten war (ich bin mir sicher, es war Miles Davis), aber Benny Goodman, der war halt einfach Klarinettist, das ist nicht wegzudiskutieren...
Auch hilft Tess ihrem Onkel Ike bei der Renovation seines alten Motels und richtet später auch noch eine eigene Wohnung für sich ein, und mehrmals wird sehr präsent und nicht wirklich in den Kontext passend erwähnt, wie sie die Einrichtung ein wenig "weiblicher" gestaltet. Wirklich? Come on... Es sind diese kleinen und grösseren Details, die einer/m Lektor*in hätten auffallen müssen und es ist sehr schade, dass die Schwächen dieses Buches, nämlich vor allem die oberflächlich gestalteten Protagonisten, durch diese Unstimmigkeiten und irritierenden Momente noch verstärkt worden sind.
Doch eigentlich wäre dieses Buch die Geschichte einer kleinen Familie, die einen Schicksalsschlag überwindet, lernt, mit ihrer Trauer zu leben und vielleicht sogar neue Hoffnung schöpft. Das kommt leider komplett zu kurz, obwohl es so viele Gelegenheiten gegeben hätte, dies stimmig einzubringen.
Was mir aber wirklich gefallen hat: dieses Buch ist eine grosse Gesellschaftskritik. Da geht es um Gewalt auf offener Strasse, um Verschmutzung und zugemüllte Strände und am Ruf der Stadt New York wird kein gutes Haar gelassen. Schade, dass diese Aspekte nicht weiter ausgearbeitet worden sind, denn wenn ich nun an dieses Buch denke, sehe ich einfach nur verschwendetes Potenzial und das ist unendlich schade.
Fazit:
Die Idee, welche diesem Buch zugrunde liegt, ist wundervoll, vielversprechend und nicht alltäglich und vor allem der Handlungsstrang, der sich mit dem Wal Benny und dem Meeresbiologen Kip befasst, ist sehr gelungen. An der Umsetzung und nicht zuletzt auch am Lektorat happert es aber leider so sehr, dass auch diese schöne Grundidee und der sehr flüssige Schreibstil nicht darüber hinwegtrösten können. Von mir gibt es keine Empfehlung für dieses Buch. Es wird in den offenen Bücherschrank wandern und hoffentlich bald eine neues Zuhause finden.