Noch so ein wunderbares Buch
Ich freue mich, schon wieder kann ich fünf Sterne vergeben. Meisterhaft vermag es die junge australische Autorin, Gefühle von Trauer und Verlust zu beschreiben. Das kann man nur, wenn man selbst tief getrauert ...
Ich freue mich, schon wieder kann ich fünf Sterne vergeben. Meisterhaft vermag es die junge australische Autorin, Gefühle von Trauer und Verlust zu beschreiben. Das kann man nur, wenn man selbst tief getrauert hat, habe ich die ganze Zeit über gedacht, und tatsächlich erfährt man im Nachwort, im allerletzten Satz, vom Tod ihrer Mutter. Drei Protagonisten erfand Brooke Davis, die ihrem Schmerz Ausdruck verleihen. Das sonderbare, aber liebenswerte siebenjährige Mädchen Millie, dessen Vater stirbt und das daraufhin von ihrer Mutter einfach in einem Kaufhaus zurückgelassen wird. Den 87jährigen Karl, dem Millie dort begegnet. Carl ist ein Altersheim-Flüchtling und nennt sich selbst der Tasttipper, weil er alles, was er sagt, gleichzeitig mit den Fingerspitzen vor sich hin tippt. Er hat seine geliebte Frau verloren. Dann ist da noch die alte Agatha, die nach dem Tod ihres Mannes eine aus ihrem Fenster schreiende Frau wurde und ihr Haus nicht mehr verließ. Stattdessen folgt ihr Leben unsinnigen, immer gleichförmigen Ritualen, um der Einsamkeit zu entkommen. Agatha wohnt gegenüber von Millies Familie und kennt, wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt, auch Karl vom Sehen.
Sehr schnell ans Herz gewachsen ist mir Millie. Sie kann dem Leser einfach nur leid tun. Ihre Mutter hat gar kein Interesse an ihr. Selbst als Millies Vater noch lebt, sitzt er eigentlich nur vor dem Fernseher. Alleingelassen, treibt Millie ihre eigenen Studien und versucht der Vergänglichkeit zu begegnen, indem sie alles in ihr "Buch der toten Dinge" einträgt. Die kindliche Perspektive war dabei sehr gut eingefangen. Millie hat mich oft nicht nur zu Tränen gerührt, sondern ihre Studien habe mich manchmal auch zum Lachen gebracht. Da werden zum Beispiel bei einem Mitschüler, der Millie Geburten erklären soll, Plazentas mal eben zu Placebos.
Auch Agatha war mir mit wenigen Ausnahmen überraschend sympathisch. Im wahren Leben würde man wohl schnell die Straßenseite wechseln, wenn man ihr begegnet, aber Brooke Davis hat für mich Agathas Verhalten begreifbar gemacht. Außerdem hat es mich, wenn Agathas zu Beginn alles laut herausschreit, was sie gerade macht ("Ich wasche mich gerade!") und eigentlich nur aus Ausrufezeichen besteht, nicht nur gerührt, sondern bei allem Mitleid irgendwie auch zum Schmunzeln gebracht. Nur "Tasttipper" Karl ist mir nicht so nahe gekommen. Die Idee des Tasttippens hat mir auch nicht so gut gefallen und ich habe nicht verstanden, was es Karl genau bedeutet. Mehr habe ich aber wirklich nicht auszusetzen.
Agatha, Karl und Millie begeben sich auf eine verrückte Reise quer durch Australien, immer auf der Suche nach Millies Mutter, obwohl man doch weiß, dass diese von ihrer kleinen Tochter nicht gefunden werden will. Aber zum Glück gibt es noch eine Tante... Agatha und Karl kommen sich immer näher und finden langsam zurück ins Leben. Das Ganze wird in einer ganz eigenen Sprache berichtet, überwiegend im Präsens, die vielen Dialog kursiv gesetzt und ohne Anführungszeichen. Manche Sätze möchte man sich notieren, so gehen sie unter die Haut, z.B. "Das Fehlen seines Namens fühlte sich an wie ein Schwindelanfall". So beschreibt Davis das Fehlen des Namens von Agathas verstorbenen Mann auf dem Anrufbeantworter.
Sicher wird das Buch nicht jedem gefallen. Daher war ich überrascht und erfreut, dass es in Australien ein Bestseller ist. Wer oberflächliche Schönwetterliteratur mag, wird den Roman schnell aus der Hand legen. Wer Verlust kennt und selbst tief getrauert hat, wird das Buch zu schätzen wissen.