Wunderbares Buch
Wer hat sich beim Anblick uralter Bäume nicht schon gefragt, was diese wohl bezeugen könnten? Nun darf einer von ihnen sprechen, ein weiblicher Feigenbaum, der die Lesenden und die Charaktere als alternierende ...
Wer hat sich beim Anblick uralter Bäume nicht schon gefragt, was diese wohl bezeugen könnten? Nun darf einer von ihnen sprechen, ein weiblicher Feigenbaum, der die Lesenden und die Charaktere als alternierende Erzählerin durch Elif Shafaks neuesten Roman begleitet. Ihre Wurzeln gründen tief im Hof einer zyprischen Taverne, die dem Griechen Yorgos und dem Türken Yussuf gehört. Dort haben die jungen Liebenden Defne und Kostas eine Zuflucht für ihre heimlichen Treffen gefunden, denn 1974 auf Zypern sind Beziehungen zwischen den beiden verfeindeten Nationen tabu. Als der Bürgerkrieg ausbricht, wird Kostas von seiner Mutter nach England geschickt, Defne bliebt zurück. Jahrzehnte vergehen, bis sie einander wiedersehen.
Ihre 16jährige Tochter Ada, mit deren Geschichte der Roman in der Gegenwart beginnt, hat von all dem keine Ahnung. Nie wurde in ihrem Londoner Zuhause über die zyprische Herkunft und die schwierige Vergangenheit gesprochen, die wie ein dunkler Schatten auf der Familie zu lasten scheint. Auch Kontakte zu Verwandten gibt es nicht. Adas Mutter Defne ist vor einem Jahr gestorben, ihr Vater Kostas flüchtet sich zu seinen geliebten Pflanzen, insbesondere ein Feigenbaum hat es ihm angetan. Und dann geschieht es: Als in der Schule über 'Migration und Generationen' gesprochen wird und die Lehrerin Ada über Gebühr zusetzt, bricht sich all das unsichtbar Aufgestaute, das Ada nicht in Worte fassen kann, Bahn in einem schier endlosen Schrei... Ein Mitschnitt auf Youtube löst eine weltweite Sympathie-Bewegung aus, überall stellen Jugendliche das Video unter dem Hashtag "Hörtihrmichjetzt?" nach. Ada ist zutiefst verwirrt, doch dann taucht plötzlich Tante Meryam aus Zypern auf...
Das Thema von Trauma und Verlust, von Emigration und Entwurzelung, vom Schweigen, das oft erst die dritte Generation zu brechen versteht, ist in der Literatur nicht selten zu finden. Kein Wunder angesichts der Menschheitsgeschichte, die sie spiegelt. Elif Shafak hat diese komplexe Problematik so filigran zerlegt und tief ausgeleuchtet, dass wir nach dem Lesen nicht nur wissen, sondern auch verstehen. Dabei geht es ihr weniger um die Ergründung oder gar Klärung der politischen Schuldfrage, sondern um die ganz konkreten, privaten Folgen für die Betroffenen und ihre Nachkommen. Und das ist keine leichte Kost.
Ihr Schreibstil - ins Deutsche übertragen von Michaela Grabinger - bleibt dabei dennoch federnd leicht, poetisch und immer spannend; man möchte das (Hör)buch nicht aus der Hand legen. Nebenbei habe ich viel über Botanik und die Kommunikation der Bäume gelernt, bin in Aberglaube und Mystik eingetaucht und hatte großen Appetit auf Tante Meryams üppige Gerichte.
Auch die Sprecherstimmen waren klasse. Insbesondere Eva Mattes versteht es, der Feigenbäumin Geduld, Weisheit und Warmherzigkeit zu verleihen, ohne zu viel zu interpretieren, wie es Joachim Schönfeld ab und an passiert. Er hat zwar auch den schwierigeren Rollen-Part, und ich habe ihm sehr gern zugehört. Aber gerade die 16jährige Ada, deren Verhalten und Charakter im Roman sehr reif und schlüssig ausgeformt ist, klingt im Hörbuch mitunter wie eine Zwölfjährige. Nichtsdestotrotz ein Hörgenuss!
Dies war meine erste literarische Begegnung mit Elif Shafak. Zum Glück brauche ich nur ins Regal zu greifen, um mit ihr zum "Architekten des Sultans" weiter zu reisen. Doch zuvor muss ich ganz dringend mal in den Garten huschen, um nach unserem Feigenbaum zu sehen…