Ein Plädoyer für die Qualitäten und Bedürfnisse introvertierter Menschen
Wir leben in unserer westlichen Gesellschaft in einer Kultur, die das Extravertierte überbetont und mehr wertschätzt. Das zieht sich durch das ganze Leben: statt Frontalunterricht geht seit einiger Zeit ...
Wir leben in unserer westlichen Gesellschaft in einer Kultur, die das Extravertierte überbetont und mehr wertschätzt. Das zieht sich durch das ganze Leben: statt Frontalunterricht geht seit einiger Zeit der Trend zu ständiger Teamarbeit in der Schule, zu gemeinsamen Referaten und Gruppenarbeiten auf der Uni und zu Großraumbüros. Die mündliche Mitarbeit ist ein beträchtlicher Teil der Note, macht in manchen Schulen und Fächern mehr als 50 % aus. Und zurückhaltende, stillere Kinder bekommen die ganze Zeit die Botschaft, sie sollten mehr aus sich herausgehen, mehr auf andere zugehen, die ganze Zeit mit anderen spielen usw. Das ist übrigens nicht in allen Kulturen gleich, so wurden offenbar z.B. im sozialistischen Polen als auch im China der Gegenwart die Qualitäten introvertierter Menschen deutlich mehr geschätzt, erzählt die Autorin.
Zum Glück beginnt in den letzten Jahren aber eine Gegenbewegung, die auf die Bedürfnisse und Qualitäten auch introvertierter Menschen aufmerksam macht, z.B. hat Susan Cain dazu ihr monumentales Werk "Still" geschrieben, und es gibt mittlerweile auch einige Bücher zu Introversion und zu Hochsensibilität (was nicht genau das gleiche ist).
Eva Lohmann hat nun ein weiteres, sehr empfehlenswertes und persönliches, Werk zu dieser Reihe hinzugefügt. Sie war selbst ein introvertiertes Kind und ist nun eine introvertierte Erwachsene und Mutter einer extravertierten Tochter, die in dieser Hinsicht ganz nach dem Vater kommt, nach Aussagen der Autorin einer der extravertiertesten Menschen, den sie kennt (mittlerweile sind die beiden getrennt, und was anfangs faszinierend war, stellte sich offenbar spätestens in der Elternrolle als sehr herausfordernd heraus).
Das Buch ist in zwei Teile geteilt. Im ersten und längeren Teil geht es um das introvertierte Kind, der zweite Teil ist für introvertierte Eltern geschrieben. Zwar bezieht die Autorin durchaus gelegentlich auch Erkenntnisse aus Studien, aus anderen Büchern oder Blog- und Social-Media-Beiträgen mit ein, grenzt Introversion von Schüchternheit und Hochsensibilität ab, und empfiehlt auch einige Bücher, insgesamt ist es aber überwiegend ein persönlicher Erfahrungsbericht.
Im Teil über das introvertierte Kind geht es hauptsächlich um das introvertierte Kind Eva Lohmann, das die Autorin einmal war, und um die Erfahrungen, die sie gemacht und reflektiert hat. Im Teil für introvertierte Eltern geht es hauptsächlich um die introvertierte Mutter Eva Lohmann, die ein extravertiertes Kind erzieht - immer mit der Haltung, wie können introvertierte Menschen sie selbst bleiben und gleichzeitig ihre Umwelt so anpassen, dass es ihnen dabei gut geht, oder die für sich passende Umgebung finden, z.B. gibt es große Unterschiede in der Qualität von Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen und auch Arbeitsplätzen in dem, wie sehr sie den Rückzugs- und Ruhebedürfnissen introvertierter Menschen entgegen kommen.
Durchs Buch ziehen sich immer wieder auch praktische Übungen zur Selbstreflexion, z.B. dazu, sich das innere Bild des eigenen Wunschkindes bewusst zu machen und dieses zu verabschieden, denn kein reales Kind wird diesem Bild jemals entsprechen können.
Aufbauend auf ihrer eigenen Erfahrung gibt die Autorin interessante und hilfreiche Tipps, sowohl zum Umgang mit introvertierten Kindern als auch dazu, sich als introvertierter Elternteil Pausen zu verschaffen. Es ist ein leicht zu lesendes und interessantes Buch einer sehr reflektierten Autorin, das für ein wichtiges Thema sensibilisiert und aus dem ich einiges mitnehmen konnte - danke für das hilfreiche Buch zu diesem wichtigen Thema!